05.05.2022

Novalis und Heute

Erkenntnis einer furchtbaren Krankheit – und ihre Heilung.


Wer in irgendeiner Weise eine innere Verbindung zu Novalis hatte – in welcher Zeit seines Lebens auch immer, ob bleibend oder nicht –, wird etwas von seinem Zauber kennen.

Novalis ist der Romantiker des ,magischen Idealismus’. Die meisten Seelen wissen heute weder mehr, was Romantik ist, noch erst recht nicht, was Idealismus ist – und mit ,Magie’ können sie erst gar nichts anfangen. Diese absolute Unkenntnis ist es, die die meisten Seelen – in einem Zeitalter der Abschaffung der Seele – dazu bringt, Novalis als einen ,naiven Träumer’ zu klassifizieren, gleich hinter Ludwig Tieck, einem anderen dieser zutiefst weltfremden Romantiker...

Aber mit Urteilen dieser Art beweist man nur seine eigene Weltfremdheit. O ja, in der Welt der Mikrochips, der Geopolitik und der Sekunden-Trader, aber auch der Computeranimation, des TikTok, Instagram, des ,mobilen Arbeitens’, der ,Sparangebote’ und tausend anderer Dinge mag man sich wunderbar auskennen – nur in der Welt des Wesentlichen, des essenziell-real Menschlichen, in der Welt der Seele und des Geistes, ist man fremder als fremd. Denn man leugnet ja gerade, dass es so etwas wie Seele, wie Geist, wie das Wesen, die Essenz – dass es all das gibt. Man kennt es nicht, kann damit nichts anfangen, ist diesen Welten fremder als fremd ... aber man will Novalis beurteilen können!?

In vollem Gegensatz dazu war Novalis auch der konkret-irdischen Welt nicht fremd. Er war ganz konkret Bergbau- und Salinenbeamter, hatte Bergbau studiert und war in keiner Weise naiv und weltfremd. Sondern was ihm fremd war, war eine nackte, skelettartige Nüchternheit, die schon damals begann, sich über alles menschliche Fühlen und Denken und Handeln zu legen. Der tiefe Einbruch dieser Entwicklung setzte sich dann das ganze übrige 19. Jahrhundert fort – und steigerte sich im 20. Jahrhundert mit seinen Katastrophen noch – und diese Eskalation der ganz realen Entseelung ist noch lange nicht zu Ende.

Im Gegensatz zu dieser Ent-Seelung war Novalis als Romantiker – im tiefsten Sinne verstanden – radikal be-seelt. Aber man hat heute nicht einmal mehr Begriffe, die abgrundtiefe Realität, die sich dahinter verbirgt, zu fassen. Und so sind all dies für die meisten Seelen nur leere, scheppernde Begriffe ohne allen Inhalt. Für die Romantiker existierten noch Welten da, wo für die heutigen Seelen, die sich als Seele selbst abgeschafft haben, nichts mehr existiert. Buchstäblich: nichts.

Was war das Geheimnis der Romantiker? Sie beseelten die Welt – genau da, wo alle anderen Seelen diese und sich selbst mehr und mehr ent-seelten. Die Frage ist nur: Wer vollzieht einen realen Vorgang?

Und die Antwort ist: beide. Sich selbst seiner eigenen Seele zu entledigen – in ihrer Substanz, indem man materieller und materieller wird, sogar ohne es zu merken –, ist ein ganz realer Vorgang. Die Substanz der Seele verschwindet, ganz real – und zurück bleiben flüchtigste Realitäten, die dann sehr gut zu einer Welt passen, in der sich das Seelische ebenfalls immer mehr verflüchtigt. Ebenso real ist aber die reale ,Operation’, mit der sich die Romantiker in einen Zustand erhöhter Seelenfülle erhoben. Und damit ist mitnichten gemeint, jede ,Mondschein-Begeisterung’ für das Nonplusultra des Menschlichen zu halten. Oder gar zu glauben, wenn man die Augen vor der Realität verschlösse, verschwände diese...

Nein, die Dinge liegen viel ernster, als es die gewöhnliche Romantik-Auffassung auch nur ahnt. Ohne zu wissen, wie schlimm und seelenlos die Zeiten noch werden würden, übten die Romantiker ganz real die Rettung der Seele. Und Novalis ging hier weiter als alle anderen. Während etwa der Roman ,Lucinde’ von Friedrich Schlegel zwar regelrechte Begeisterung auslöste weil er ein freieres Liebesideal der Geschlechter vertrat, in Wirklichkeit aber gleichzeitig durchdrungen war von einer geradezu abstoßenden Selbstverliebtheit und Willensschwäche des männlichen Progagonisten, machte Novalis vollen Ernst mit einer Idealisierung der Wirklichkeit – oder, man kann auch sagen, mit einer Verwirklichung des ganz real Idealischen.

Was bedeutet das: Es bedeutet, dass die reale ,Operation’ (Novalis) des magischen Idealismus nicht etwa in eine Illusion führt, sondern eine Wirklichkeit schafft, die nicht nur so real ist wie die gewöhnlich bekannte, sondern sogar noch realer. Warum? Weil die Seele selbst in voller Intensität anwesend ist – und so auch alles andere erst in seiner vollen Wirklichkeit erfahren, erfassen, empfinden und erkennen kann. Novalis erkannte in voller Tiefe, dass es zwischen den Extremen weltfremden Illusionismus und entseelter Leere (oder einer absolut nackten ,Realität’) noch etwas Drittes gibt: eine heilige Wirklichkeit, die von Realität geradezu überströmt, gleichzeitig aber durchdrungen ist von einem absoluten Idealismus. Dies ist sein magischer Idealismus – weil er eine Wirklichkeit in das Bewusstsein holt, die diesem Bewusstsein sonst stets entginge, weil es gar nicht anwesend wäre...

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Man könnte diese Dinge noch in immer neuen Worten versuchen, erlebbar zu machen – aber die meisten Seelen würden es auch dann nicht verstehen, weil sie gar nicht den Willen dazu haben und auch ihre eigene Ansicht bereits so verfestigt und versteinert ist, dass sie es auch mit bestem Willen gar nicht mehr verstehen könnten.

Und doch führt kein Weg an der Notwendigkeit vorbei, diese Dinge zu verstehen – denn alle anderen Wege führen in Abgründe. Dies mehr und mehr zu verstehen, ist heute tief notwendig.

Ist es nicht ein Wahnsinn, dass derzeit in Europa Krieg geführt wird – und dass man, anstatt mit unglaublicher Kraft an Friedenslösungen zu arbeiten, neue Rüstungsprogramme auflegt, die Konfrontation weiter steigert, ja geradezu sorglos die täglich wachsende Gefahr eines realen Atomkrieges in Kauf nimmt, ohne sich auch nur annähernd vorstellen zu können, was das bedeuten würde!? Die Ignoranz und Seelenlosigkeit, mit der hier fast nur noch in Kriegskategorien gedacht wird, weil man meint, es zu ,müssen’, ist geradezu erschütternd.

Aber das ist noch lange nicht alles. Wir sehen bereits jetzt, wie die Energiepreise explodieren. Die Preise für die energieintensiven Dünger der konventionellen Landwirtschaft haben sich sogar verfünffacht und mehr! Wir stehen vor sozialen Katastrophen, die jetzt noch niemand ahnt. Die Inflation hat bereits jetzt eine absolute Rekordhöhe erreicht – und niemand weiß, was es bedeutet, wenn sie die Lebensmittelpreise oder die Nebenkostenrechnung (und letztlich auch alle anderen Preise!) auf einmal verdoppeln werden, ohne dass die Löhne und Gehälter sich auch nur nennenswert erhöhen.

Und auch das ist noch nicht alles. Denn inmitten dieses Chaos machen jene Profit, die das Chaos durch Spekulation noch anheizen – um dadurch sogar noch Gewinn zu machen. Gewinn mit dem Chaos, mit der Not Anderer, Gewinn auch durch neue Aufrüstung, Rendite durch Tod und Verderben... Hier stehen wir vor den Abgründen der heutigen Entseelung, die aber längst flächendeckend ist. Nur deshalb können diese Dinge heute so absolut normal sein.

Warum sind sie es? Weil der Egoismus nach wie vor die Grundlage unseres organisierten Lebens ist – nämlich des Kapitalismus. Seine offizielle Grundlagen sind Egoismus, Konkurrenz, Verdrängung, Überleben des Stärksten. Und angeblich sei damit allen gedient, weil ja alle so in den Genuss der billigsten und besten Produkte kämen. Um welchen Preis dies geschieht, macht sich niemand klar. Hier aber liegt eine ganz wesentliche Wurzel des mörderischen Kampfes gegen die menschliche Seele. Hier wird die Ent-seelung immer wieder erneuert, regelrecht unsterblich.

Und gleichzeitig fortwährend: Schneller, höher, weiter. Gentechnik, Digitalisierung, Computerisierung, Technisierung. Alles als angeblich segenbringend und wunderbar. Und wollen wir nicht alle bessere Handys, billigeres Essen, sorgenlos älter und immer älter werden? Aber nach wie vor – um welchen Preis? Um den Preis von Kinderarbeit? Vernichtung der Regenwälder? Rohstoffkämpfe? Einem galoppierenden Egoismus, einem neuen Zeitalter der Geopolitik, der schrankenlosen Bereicherung einiger Weniger? Erkennt man den Zusammenhang noch immer nicht? Die Krebskrankheit zwischen den schönen, glatten Worten der Lobbyisten und Hochglanzprospekte – und der hässlichen Realität?

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Der Roman ,Die zarte Eros’, der soeben erschienen ist, steht ganz im Zeichen von Novalis und ist seinem 250. Geburtstag gewidmet, der vor drei Tagen war.

In diesem Roman verliebt sich ein Mann in ein zwölfjähriges Mädchen – wie es Novalis tat. Auch dieser Mann ist tief idealistisch. Auch er ist keineswegs weltfremd, wie sich darin zeigt, dass es letztlich ihm zu verdanken ist, dass der kleine Bioversand, in dem er mitarbeitet, nicht auseinanderbricht, als es wegen der Corona-Maskenpflicht zu Konflikten der einst verschworenen kleinen Gemeinschaft kommt.

Weltfremd sind eher andere, die meinen, man könnte Kinder jeden Alters mal eben ,umprogrammieren’ auf ,Home Office’ und ,Online-Unterricht’. Dieser Un-Gedanke kann wirklich nur in einem seelenlosen Zeitalter aufkommen. Und natürlich sind es gerade die seelenvollsten Kinder, die dem gnadenlos zum Opfer fallen. So auch die sehr empfindsame Laila, die ohnehin immer etwas langsamer ist als die anderen. Auch hier ist es wieder erst der männliche Protagonist, der dem Mädchen helfen kann – so tiefgehend, dass sie nicht nur wieder den Anschluss an den schulischen ,Stoff’ findet, sondern sogar eine Freude entwickelt. Eine Freude! In Bezug auf Zahlen!

Sollte es darum nicht immer gehen? Um die Freude? Aber wie fern, wie weltenfremd, wie naiv und idealistisch wirken diese Sätze in der heutigen Zeit bereits! Aber anstatt darin die ganze Krankheit der Zeit zu erkennen, macht man einfach weiter...

Laila entwickelt also eine zarte, neue Freude an dem, worin sie vorsichtig und behutsam wieder Anschluss findet. Und natürlich entwickelt sie auch eine tiefe Zuneigung zu ihrem ,Lehrer’, der sie aus einer absoluten Verlorenheit rettet. Er aber, dieser Mann, der selbst so idealistisch und empfindsam ist, wird in einem bestimmten Moment geradezu erschüttert von der Realität des Mädchens und dessen ganzer Erscheinung – und verliebt sich hoffnungslos...

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Und nun sind die Urteile in unserer Zeit natürlich bereits fertig – denn sie sind vorgeprägt, durch jahrelange Konditionierung durch ungezählte Missbrauchsfälle. Aber ist dies nicht ein weiteres Symptom einer furchtbaren Krankheit? Dass sie von einem Extrem ins andere fällt? Von einem jahrzehntelangen Wegschauen zu einem, unter anderem von schlechtem Gewissen getriebenen Verteufeln von allem, was auch nur entfernt Ähnlichkeit mit dem zu haben scheint, was man so lange nicht verhindert hatte...

Die moderne, seelenlose Seele will die Dinge einfach. Sie will keine komplexen Realitäten, sie will das Schwarz-Weiß – weil sie sonst überhaupt nicht mehr ,durchblickt’. Und in Bezug auf das Chaos des Kapitalismus hat sie den Kopf ja längst in den Sand gesteckt – es existiert keinerlei politischer Wille, die Steuerschlupflöcher zu schließen, die obszönen Einkommenskonzentrationen zu beenden und umzukehren, die Naturgrundlagen entschieden und aufrichtig zu schützen, mit aller Kraft an einer internationalen Friedensordnung zu arbeiten und anderes mehr. Aber wenn ein Mann sich in ein Mädchen verliebt – da weiß man auf einmal Bescheid! Dass das Mädchen durch das ,Corona-Raster’ gefallen ist, hat niemanden interessiert, aber jetzt, wo ihr ,rettender Engel’ sich in diesen anderen Engel verliebt – da will auf einmal die gesamte zivilisierte Welt ,Bescheid’ wissen. Welch eine Heuchelei!

Die Wahrheit ist, dass es regelrecht umgekehrt ist. Die Wahrheit ist, dass diese beiden Menschen – das unglaublich empfindsame, auch verletzliche Mädchen und dieser ebenso empfindsame und idealistische Mann – in gewisser Weise das Ideal menschlicher Begegnung überhaupt verkörpern. Die behutsame Zärtlichkeit, die sich zwischen ihnen entfaltet, ist konkurrenzlos, im doppelten Sinne: Jeder Selbstbezug fällt in dieser zarten ,Liebesbeziehung’ unendlich tief fort, und damit macht diese Begegnung etwas wahr, was in keiner anderen erreicht wird. Es ist das absolute Mysterium von Zärtlichkeit, im Sinne einer heiligsten Begegnungs-Qualität, von etwas erst ganz Zukünftigem. Etwas, was die Romantiker – und allen voran Novalis – vorausahnten: Dass es kommen müsse.

Dieser Mann und dieses Mädchen – sie machen damit einen Anfang. Und wer sich wirklich berühren lassen will, um selbst auch mehr und mehr begreifen zu können, was diese Zukunft sein würde ... der möge diesen Roman lesend mit erleben. Es ist mehr als ein Roman. Es ist ein Buch, das verwandeln kann. Es kann die Seele neu geboren werden lassen. Die Seele...!

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Und so ist es auch mit dem anderen Roman ,Der Mann und das Mädchen’, der in gewisser Weise ein romantisches Spiegelbild darstellt. Hier ist das fünfzehnjährige Mädchen keineswegs hilfebedürftig – sie selbst ist es, die den männlichen Protagonisten anspricht, der seit Jahren in demselben Haus wohnt. Auch dieser Mann ist empfindsam, spirituell entwickelt, hat eine tiefe Seele, so unscheinbar er auch erscheint. Das Mädchen hat dies irgendwie wahrgenommen – und aus einem anfänglichen Interesse entsteht schnell eine tiefe, aufrichtige, vertrauensvolle Begegnung.

In dieser übernimmt das Mädchen die Führung – und es bleibt nicht aus, dass auch dieser Mann sich hilflos in das Mädchen verliebt. Ein Mädchen, das unendlich anders ist als Laila, aber auch Mädchen im tiefsten Sinne, und diese Qualität ist es, die ich in allen Romanen immer wieder erlebbar zu machen versuche.

In gewisser Weise steht ein Mädchen im Zentrum des magischen Idealismus. Novalis konnte ihn beschreiben, ein Mädchen aber besitzt ihn schon – denn es hat gewissermaßen noch mehr Seele als der tiefste Romantiker.

Weil aber auch in diesem Roman beide Menschen, die sich hier begegnen, eine tiefe Seele haben, wird auch dieser Roman zu einer Art Urbild von Begegnung überhaupt, in all ihrer Tiefe von Zärtlichkeit, Aufrichtigkeit, Zartheit, Tiefe, Ernsthaftigkeit, Leichtigkeit und noch so vielen anderen Aspekten. Mann und Mädchen erweisen sich als zwei Pole, die einander zugleich tief beschenken können – und dies auch tun, in jedem Moment. Was eine männliche Seele an einem Mädchen wirklich anzieht, kann in diesem Roman in aller Tiefe erlebt werden – ebenso aber auch, was ein Mädchen bei einem Mann alles als tiefes Geschenk erlebt.

Und dann können wir einmal vergleichen, wie unsere gegenwärtigen menschlichen Beziehungen aussehen... Und vielleicht wird man dann endlich verstehen... Verstehen, womit Novalis Ernst gemacht hat. Und womit auch die berührenden, verletzlichen, aufrichtigen Charaktere dieser beiden Romane Ernst machen. Man lasse sich berühren und durch Berührung verwandeln. Anders wird die Welt nicht bestehen können. Dies war die unausgesprochene Überzeugung der Romantiker. Und sie ist die Wahrheit.