09.06.2022

Die Botschaft der Unschuld

Filmbesprechung: Belle. Mamoru Hosoda (Regie), J 2021, 124 min. | Trailer.


Inhalt
Völlige Neuadaption eines ewigen Mythos
Der Cyberspace und das Mädchen
Die Schönheit der ,Schönen’
Das heilende Wunder der Unschuld


Völlige Neuadaption eines ewigen Mythos

Der japanische Regisseur Mamoru Hosoda hat ein Anime-Meisterwerk geschaffen, das heute in die deutschen Kinos kam – wie fast immer bei diesem noch immer absolut unterschätzten Genre nur für wenige Tage.

Es ist eine Adaption des Märchens, ja man kann fast sagen, des Mythos ,Die Schöne und das Biest’. Aber was für eine! Man spürt es wirklich, dass Hosoda diesen Film schon immer machen wollte – seit dreißig Jahren.

Er selbst sagt in einem Interview:[1]

1991 habe ich mein Studium beendet und habe danach begonnen, bei Toei Animation zu arbeiten. Es ist zwar allseits bekannt, dass die Anime-Branche ziemlich hart ist, aber ich hatte es mir nicht so schlimm vorgestellt. Doch tatsächlich war es damals sogar so hart, dass ich mit dem Gedanken gespielt habe, mir einen anderen Job zu suchen. Zu dieser Zeit wurde aber gerade von Disney der Streifen “Die Schöne und das Biest” veröffentlicht. Dass man mit einem Animationsfilm so ein wunderbares Werk schaffen kann, hat mich dann dazu bewogen, in der Anime-Branche zu bleiben und schon damals habe ich den Entschluss gefasst, meine eigene Interpretation der Geschichte zu realisieren, was mir nun – 30 Jahre später – in Form von “BELLE” gelungen ist.

Hosoda verlegt den Film zur Hälfte in die virtuelle Welt eines künftigen Internets, in das man als sein eigener Avatar eintauchen kann. Dennoch hat der Film nichts von üblichen Science-Fiction-Produktionen dieser Art – er ist völlig anders.

Die Story kurz zusammengefasst können wir folgende Filmseite zitieren:[2]

Die 17-jährige Suzu lebt mit ihrem Vater in einem abgeschiedenen Dorf auf dem Lande. Seit dem tragischen Tod der Mutter ist das einst fröhliche Mädchen in sich gekehrt und spricht nur noch das Nötigste. Ihrem besorgten Vater geht sie beständig aus dem Weg und das Singen, das ihr einst so viel Freude bereitete, hat sie komplett aufgegeben. Die technikaffine Hiro ist in der Schule ihre einzige Bezugsperson. Als diese sie in die virtuelle Welt von „U“ einlädt, legt Suzu zunächst noch mit gemischten Gefühlen einen Account für das fünf Milliarden Online-Mitglieder zählende Netzwerk an. In der Anonymität des Programms traut sich das traumatisierte Mädchen wieder zu singen und schon bald steigt sie mit ihren selbstgeschriebenen Songs zum gefeierten Avatar-Star Belle auf. Die User beginnen damit zu spekulieren, wer sich hinter der anmutigen Sängerin mit den Sommersprossen verbergen könnte und wollen ihre wahre Identität erfahren. Zudem fühlt sich Belle magisch zu einem bedrohlich aussehenden Avatar hingezogen, der eines ihrer Konzerte stört. Fasziniert von dem sich nicht um die Regeln der Cyberwelt scherenden „Biest“, macht sich Belle daran, mehr über diese geheimnisvolle Gestalt in Erfahrung zu bringen…

An dieser holzschnittartigen Zusammenfassung hat man natürlich noch keinerlei wirklichen Eindruck.

Der Cyberspace und das Mädchen

Eindrücklich dargestellt ist durchaus auch die Verführung des Cyberspace. Die Welt von ,U’ verspricht jedem User ein völlig neues Leben. Was im wirklichen Leben nicht zu gehen scheint – in ,U’ ist es möglich: noch einmal völlig neu anzufangen.

Natürlich verstecken sich die Milliarden User hinter ihren Avataren – und in vielerlei Hinsicht ist die Cyberwelt überhaupt keine andere als die physische: Die meisten Charaktere sind so gewöhnlich wie sonst auch, mit allen menschlichen Schwächen, die im Cyberspace sogar noch leichter hervorkommen: Schnellste Urteile, die dann als ,Schwarmintelligenz’ zum Kollektivurteil werden, zum Mobbing. Neid, Geltungssucht – der Cyberspace gibt all dem einen überreichen Nährboden.

Aber dann ist da auch die andere Seite: Etwas wahrhaft Eigenes berührt und wird wahrgenommen – es sticht heraus unter der Masse des Gewöhnlichen.

Suzu hat dieses Eigene. Mehr noch: Ihr eigener Schmerz hat sich, ihr selbst völlig unsichtbar, in eine schöne Seele verwandelt. Dies ist ein weiteres Geheimnis, das der Film eindrücklich offenbart: Nicht nur, dass Schönheit von innen kommt – sondern auch, woher sie wirklich kommt. Seelisches Leid, wahrhaft durchlebt, lässt in der Seele keinen Raum übrig für niedere Regungen. Das ist der Grund, warum sich Suzu in der virtuellen Welt von ,U’ in einen berührend wunderschönen Avatar verwandelt – der im Grunde ihre ganze Innenwelt offenbart. Sie selbst nennt sich ,Bell’ (Glocke ist die Übersetzung ihres Namens), wird aber mit Recht sehr bald ,Belle’ genannt.

Es ist kein Zufall, dass sie durch ihr Wesen und ihre Stimme, die sie in dieser neuen Welt wiederzufinden wagt, die Herzen von Unzähligen gewinnt und bald mehr Follower hat als irgendjemand.

Dann aber wird ihr Konzert von einer anderen Kreatur gestört, die hereinbricht – verfolgt von der selbsternannten ,Polizei’ des Cyberspace. Suzu hat weniger Angst, als dass sie mit ihrem reinen Herzen unmittelbar bemerkt, dass hier etwas nicht stimmt. Sie ist sofort leise auf der Seite des Verfolgten... Und sehr schnell möchte sie herausfinden, was es mit dem ,Biest’ auf sich hat...

Die ,Polizei’ ist selbsternannt, weil die fünf weisen Schöpfer des Cyberspace eine solche Kontrolle nicht für nötig hielten – auch dies eine tiefe Anspielung auf die realen harten Debatten um die Frage einer Kontrolle und Zensur im Internet. Hosoda sieht sehr wohl, dass das Internet gute und schlechte Seiten hat – aber in seinem Film schlägt sein Herz sehr deutlich für die Freiheit. Die selbsternannten Hüter sind in ihrer eigenen Machtherrlichkeit eindeutig gezeichnet. Und indem sie zugleich ein wenig an den Typus der Marvel-Superhelden erinnern, entlarvt Hosoda im Grunde auch dieses Action-Gehabe in seiner Lächerlichkeit.

Die Schönheit der ,Schönen’

Seine eigene Geschichte und der Mythos von ,Die Schöne und das Biest’ lebt von völlig anderen Tiefen: von innerem Schmerz und tiefer Unschuld.

Belle gelingt es tatsächlich, das sich in seinen Schmerz verschließende und sie immer wieder heftig abweisende ,Biest’ nach und nach zu erreichen. Allerdings wird diese fast schon erreichte Heilung von den bereits erwähnten ,Cyber-Hütern’ durchbrochen, die dem ,Biest’ auf den Fersen sind, um es endlich in seiner wahren Identität zu enttarnen, wozu sie die Macht haben.

Auch Belle versucht verzweifelt, die wahre Identität des ,Biests’ noch vorher herauszufinden. Durch einen schicksalshaften Zufall stößt sie auf ein kleines Live-Video zweier Brüder, die einen Vater haben, der sie ganz offensichtlich psychisch und vielleicht noch ganz anders misshandelt. Sie ist sich sicher, dass der ältere Bruder, der den jüngeren so gut wie möglich beschützt und alles auf sich nimmt, das ,Biest’ ist – und nimmt telefonisch Kontakt zu ihm auf. Er aber glaubt ihr nicht, dass sie Belle ist, und bricht die Verbindung ab.

Belle hat nur noch eine Chance: Sie muss sich im Cyberspace selbst in ihrer wirklichen Gestalt offenbaren. Niemand in ,U’ hätte diesen Mut – erst recht nicht, wenn er so unzählig viele Follower hat und sein Ziel im Grunde erreicht. Doch für Belle zählt nur noch eines: Sie will dem Einen helfen, der sie so berührt hat. Sie verzichtet damit auf alles andere. Letztlich opfert sie alles.

Und dann geschieht ein wirkliches Wunder: Die Welt der anderen Identitäten ist geradezu entsetzt, dass jemand es wagt, sein wahres Selbst zu enthüllen – ein ganz gewöhnliches Mädchen! Aber nun singt Suzu – sie hat auch in ihrer wirklichen Identität ihre Stimme wieder. Und sie singt so berührend, ihre ganzen Empfindungen, dass sie die Herzen der anderen, die sie schon bisher geliebt hatten, und auch die, die es nicht getan hatten, so sehr erreicht, dass in diesem Moment auch in ihnen nur noch das Herz lebt, das tiefste, wahrste Selbst – im Grunde erlöst Suzu in diesem Moment jeden Einzelnen. Es spielt keine Rolle, für wie lange. Es ist nur wichtig, dass sie es tatsächlich tut.

Nun kommt der Kontakt zu den Brüdern noch einmal zustande, wird aber von dem Vater erneut abgebrochen. Suzu hat aber inzwischen Hilfe von einigen Schulkameraden und auch Erwachsenen gefunden, und gemeinsam können sie aus einigen Hinweisen den Ort identifizieren – und Suzu macht sich unmittelbar auf den Weg.

Das heilende Wunder der Unschuld

Sie findet die beiden Brüder tatsächlich, mitten im Regen, selbst völlig durchnässt. Der Vater will sie brutal wieder ins Haus holen, aber sie beschützt sie, der Vater verwundet sie durch seinen Griff sogar im Gesicht – doch sie stellt sich nun zwischen ihn und die beiden, völlig wehrlos, während aus der Risswunde an ihrer Wange Blut rinnt... Es ist eine Urszene: Die absolute Unschuld... In einer ergreifenden Entfaltung dieser Szene bricht die Macht des Vaters, konfrontiert mit der Unschuld des wehrlosen Mädchens, völlig in sich zusammen. Er vermag nichts mehr zu tun...

Es wäre noch vieles zu sagen. So etwa, dass Suzu im realen Leben eigentlich heimlich auch einen anderen Jungen liebt, der sich seit dem Tod ihrer Mutter für sie verantwortlich gefühlt hat, dem sie diese Liebe aber nie zu gestehen wagte. Dass sich Hosoda für eine andere Liebesszene zwischen einem schüchternen Mädchen und einem coolen Schwarm, der sich am Ende als noch viel schüchterner erweist, minutenlang Zeit und völlige Ruhe nimmt. Dass in einigen Szenen auch Wale vorkommen – die stets eine ungeheure soziale Intelligenz symbolisieren.

Hosoda war von der tiefen Gegensätzlichkeit zwischen Innerem und Äußerem des ,Biests’ in der Disney-Version fasziniert – und er schuf mit Suzu auch für die ,Schöne’ einen tiefen Charakter, der nicht nur das ,Biest’ zu erlösen vermag, sondern dadurch auch sich selbst... Am Ende findet Suzu auch im realen Leben tief zu sich selbst – kann nun auch ihre Mutter verstehen, das Trauma überwinden und neue Wege gehen.

Die tiefste Botschaft aber ist und bleibt Suzus und Belles Unschuld – das Mysterium der reinen Seele. Das Mysterium, dass im Grunde die ganze Welt eine Sehnsucht danach hat. Sogar im Cyberspace. Die Menschen sehnen sich nach einer wahren ,Belle’, nach tiefer Seelenschönheit und nach einer unschuldigen Glocke, die auch ihre eigenen Herzen wieder erklingen lässt, in ihrem schönsten Ton...

Ein absolut grandioser Film – der nach der Premiere in Cannes im Juli 2021 fast eine volle Viertelstunde Standing Ovations erhielt, so viel wie nur sehr, sehr wenig andere Filme jemals bekamen.[3]

Quellen

[1] Interview mit Mamoru Hosoda – Regisseur des Films “BELLE”. www.animenachrichten.de, 30.5.2022.
[2] Ulf Lepelmeier: "Die Schöne und das Biest" im Cyberspace. www.filmstarts.de.
[3] Wikipedia: Belle (2021 film).