18.06.2022

Der Gender-Hexenkessel

Gedanken zur Lage der Welt.


Inhalt
Was ist passiert?
Wo der Springer-Chef Recht hat...
Wie viele Geschlechter gibt es?
Genitalverstümmelung als eigene Kultur?
Poschardts Selbstherrlichkeiten
Härte 2.0
Einschwören auf die ewige Logik
Das Mädchen


Was ist passiert?

Kaum habe ich gestern meinen langen Aufsatz zur documenta veröffentlicht, in dem ich auch den strammen Neoliberalen Poschardt zitierte, stoße ich heute auf die Diskussion, die in der ,WELT’ entfacht worden ist und hohe Wellen geschlagen hat.

In einem Gastbeitrag von fünf Wissenschaftlern wurden die Öffentlich-Rechtlichen Medien kritisiert: ,Wie ARD und ZDF unsere Kinder indoktrinieren’. Im Untertitel hieß es [o]:

Transgender-Ideologie in der „Sendung mit der Maus“, Videos zu Penisentfernung oder Drogen-Sex: Fünf Gastautoren, Biologen und Mediziner, haben Beiträge des öffentlich-rechtlichen Rundfunks analysiert. Ihr Vorwurf: ARD, ZDF und Co. verfolgten eine bedrohliche Agenda.

Als dieser Beitrag in der LGBTIAQ*-Community größte Empörung auslöste, stellte sich Springer-Chef Mathias Döpfner selbst hinter deren Kritik. Daraufhin kündigte die Publizistin Judith Sevinç Basad als Kolumnistin bei der ,BILD’ mit einem offenen Brief an Döpfner [o]:

Der Grund für meine Kündigung ist am Ende der Umgang von Axel Springer, also auch Ihr Umgang, mit der woken Bewegung. Ich habe das Gefühl, dass ich nicht mehr über die Gefahren berichten kann, die von dieser gesellschaftlichen Bewegung ausgehen. [...] Keine Thematik hat mich als Journalistin so sehr um den Verstand gebracht wie der Aktivismus einer kleinen Minderheit, die offiziell behauptet, für Diversität zu stehen, aber eine im Kern radikale Ideologie verfolgt.“

Wo der Springer-Chef Recht hat...

Döpfner schrieb in seiner offenen Stellungnahme, dass allein schon in der Sache der Gastbeitrag ,unterirdisch’ gewesen sei. Pauschal seien ,die’ Öffentlich-Rechtlichen für ihre Berichterstattung kritisiert worden und würde impliziert, dass es nur zwei Geschlechtsidentitäten gebe [o]:

Der ganze Ton ist oberflächlich, herablassend und ressentimentgeladen. Nicht weit entfernt von der reaktionären Haltung: Homosexualität ist eine Krankheit. Transsexualität ist Einbildung. Statt des freiheitlichen Geistes des „jeder soll nach seiner Façon selig werden“, raunt es hier vom Schutz der „sittlichen Überzeugungen der Bevölkerung“. Der Text hat einen Sound, der für jeden freien toleranten Geist unangenehm ist.

Etwas ganz anderes sei es, dass die Frage, wie und wann man Kindern bestimmte Diskussionen und Entscheidungen zumutet, selbstverständlich eine sehr heikle ist – und dass Kinderpsychologen hier große Gefahren in beide Richtungen sehen. Wird ein Thema verdrängt? Oder wird es zu früh aufgedrängt? Letztlich kann hier im Grunde immer nur der Einzelfall entscheiden.

,Wenn man aber pauschal negiert, dass Geschlechtsidentität überhaupt ein Dilemma sein kann – nach dem Motto: Mann oder Frau, alles andere ist Firlefanz – tut man der Diskussion keinen Gefallen.’ Und jedem, der mit dem Thema fremdele, empfiehlt Döpfner den Film ,The Danish Girl’ [o], in dem ein Mann immer mehr seine weibliche Seite entdeckt und sich schließlich einer Geschlechtsoperation unterzieht. Vorbild ist der reale Fall von Lili Elbe aus den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts.

Wie viele Geschlechter gibt es?

Die Kritiker haben jedoch auch teilweise Recht. Nicht da, wo sie alles, was nicht der binären Eindeutigkeit entspricht, geradezu als krankhaft darstellen wollen. Aber etwa da, wo sie darauf verweisen, dass die Natur zunächst einmal nur zwei biologische Geschlechter kennt. Dass es etwa durch Spezialfälle wie einem zusätzlichen Chromosom, einem Enzymmangel,  einem fehlenden Rezeptor etc. auch einmal zu einem ,Dazwischen’ kommen kann, bestätigt die Dualität eher, als dass es der Beweis für ,mehr als zwei Geschlechter’ wäre.

Die Natur sieht zwei Geschlechter vor, und alles andere macht reproduktionsbiologisch auch gar keinen Sinn. Schwerwiegende Störungen haben eine Häufigkeit von nur 1:4500. Diese Häufigkeit steigt auf bis zu 1,7 %, wenn man anatomische Variationen – etwa die Hypospadie, wo die Harnröhre an der Unterseite des Penis mündet –, geringe Spermienproduktion, Irregularitäten der Eierstöcke und ähnliches einbezieht. Die Prozesse der Geschlechterdifferenzierung sind so komplex, dass an unzähligen Stellen Störungen und Brüche auftreten können, wodurch sich ein ganzes Feld des ,Dazwischen’ offenbart.

Man kann dies dann als ,Zwitter’ oder ,Weder noch’ oder auch anders bezeichnen, es ist aber kein weiteres Geschlecht, sondern eine Folge dessen, dass es eben gerade zwei biologische Geschlechter gibt, in die sich der bisexuell potente Embryo differenzieren kann, wobei diese Differenzierung aber an unzähligen Punkten in seltenen Fällen gestört sein kann.

Der Geschlechtsidentität (gender), also der Empfindung eines Individuums, sind dagegen keine Grenzen gesetzt. Es kann sich männlich oder weiblich oder dazwischen oder wechselnd (gender-fluid) empfinden, es kann sich asexuell, homo- oder heterosexuell, bisexuell und wiederum alles dazwischen empfinden und dann auch so definieren. Die Seele eines Menschen ist vom Körper und von der Anatomie nur bedingt abhängig.

Das bedeutet aber nicht, dass man nur zuhören müsste, was ein Individuum gerade gerne wäre. Ja, es gibt Kinder, die von Anfang an dasjenige Geschlecht empfinden, das ihrem biologischen entgegengesetzt ist. Aber es gibt genügend Fälle, in denen es um sexuelle und andere Traumen geht, oder aber um eine aufkeimende Homosexualität. Die meisten Jungen und Mädchen söhnen sich mit ihrem Geschlecht später aus – und es gibt zahlreiche Fälle, in denen Menschen nach einer Geschlechtsumwandlung tief unglücklich wurden und psychiatrische Behandlung brauchten. Auf all dies macht der Jugendpsychiater Alexander Korte aufmerksam – der kürzlich auch der ,taz’ ein ausführliches Interview gab [o].

Genitalverstümmelung als eigene Kultur?

Die Frage ist, wie sehr die ,Trans’-Bewegung auch bereit ist, sich selbst zu reflektieren und auch all jene Umstände ernst zu nehmen, auf die Korte aufmerksam macht.

Das Gleiche gilt für die Bewegung der ,politisch Korrekten’ überhaupt – die sogenannten ,Woke’ Bewegung (von woke = wach), die jede Ungerechtigkeit und Diskriminierung aufdecken will. Die Gefahr ist eben immer, dass der Kampf um Wahrheit und Gerechtigkeit umschlägt in Selbstgerechtigkeit und Fanatismus. Dies geschah im Prinzip schon da, wo nach obigem Gastbeitrag in der ,WELT’ das komplette Unternehmen mit all seinen Mitarbeitern (einschließlich solchen der LGBTIAQ*-Community) von einer entsprechenden Job-Messe ,ausgeladen’ wurde. Cancel-Kultur einer ,Social Justice’-Bewegung, die selbst zutiefst ungerecht wird...

Nur eines von vielen weiteren Beispielen, aber ein noch extremeres, ist es (die oben genannte Judith Basad weist darauf hin), wenn einzelne Vertreter der Gender und Postcolonial Studies die Genitalverstümmelung von Mädchen etwa in afrikanischen Ländern verharmlosen oder gar entschuldigen und stattdessen behaupten, es sei noch immer der kolonialistische Blick, wenn man meinen würde, afrikanische Frauen hätten sich nach europäischem Muster zu emanzipieren. Noch immer würde man also nicht akzeptieren, dass andere Kulturen anders seien. Noch immer würde man im Sinne eines ,Othering’ dieses Andere abwerten oder moralisch beurteilen.

Diese schockierende Blindheit gegenüber dem Schicksal von Millionen Mädchen und der Traumatisierung jedes einzelnen Mädchens findet man in einer Publikation der Soziologin Anna-Katharina Meßmer [o].

Eine geradezu hilflose Paradoxie kommt auch in einem Artikel von Fana Asefaw und Daniela Hrzán zum Ausdruck [o], die statt des international gebräuchlichen Begriffes ,Genitalverstümmelung’ (mutilation) den neutraleren Ausdruck ,Cutting’ verwenden – aus Respekt vor betroffenen Frauen, die die Bezeichnung ,Verstümmelung’ als persönliche Abwertung und Stigmatisierung empfinden. Das andere Extrem sind Frauen, die sich nach einem sexuellen Übergriff, als ,Survivors’ definieren – oder auch als solche instrumentalisiert werden. Jede Frau hat das Recht, sich nicht als Opfer betrachten zu müssen oder betrachtet zu werden. Dies gebietet die menschliche Würde.

Dennoch geht es bei der Benennung des Vorganges um Wahrhaftigkeit. Es ist ein brutaler, vollkommen am Willen des Mädchens vorbei durchgeführter, traumatisierender, mehr oder weniger verstümmelnder Eingriff – und wie die spätere Frau das dann akzeptiert, ist eine völlig andere Frage. Auch der Begriff ,Vergewaltigung’ wird ja nicht etwa aus Respekt versachlicht, bloß weil sich manche Frauen nicht vergewaltigt empfinden oder nicht darauf reduziert werden wollen. Darum geht es gar nicht. Es geht um den Akt der Vergewaltigung.

Poschardts Selbstherrlichkeiten

Aber jetzt kommen wir zurück zu Ulf Poschardt. Er nun schreibt nach den Protesten vieler Menschen auf den genannten Gastbeitrag in einem Artikel ,Vom Schmerz der Modernisierung’:[o]

Gesellschaften verändern sich immer. Es gibt keinen Stillstand. [...] Modernisierung kennt Gewinner und Verlierer. Gesellschaftliche Veränderungen sind schmerzhafte Prozesse. [...]
Das Klima der Diskussionen hat sich verändert. Es ist rauer und schärfer geworden. Das kann man beklagen – oder aber als Kollateralschaden einer Ernsthaftigkeit im Ringen um den künftigen Weg der Gesellschaft verstehen. Wobei es nie einen Weg gibt, sondern eher Korridore, über deren Breite verhandelt wird. [...]

Im weiteren schreibt er, Journalisten müssten präzise und kritisch sein. Das schreibt er als Vertreter der Springer-Presse, zu der auch BILD gehört! Und als einer, der selbst immer wieder massiv überspitzt und geradezu entstellend schreibt, wie ich gezeigt hatte.

Dann fährt er fort, es sei ein Unterschied, ob man über Regierungsmitglieder schreibe oder über Gruppen, ,die nicht selbst die Macht haben, die nicht bestimmen, sondern über die im Gegenteil bestimmt wurde, über lange Zeit, zum Teil bis heute.’ Auch hier kann man sich fragen, wo die Machtlosigkeit einer Community ist, die inzwischen mit Drohungen, Einschüchterungen etc. bereits die Entlassung oder Kündigung von UniversitätsprofessorInnen erreichen kann, wenn diese auch nur behaupten, es gebe nur zwei Geschlechter. Und so viel Macht, dass sich selbst die höchste Spitze des Springer-Konzerns äußert, nachdem ein einziger Gastartikel erschienen war!

Oder man denke an die zahllosen Morddrohungen (!), die ,Harry Potter’-Autorin Rowlings erhielt, als sie darauf hinwies, dass trotz Trans-Menschen das biologische Geschlecht etwas Reales ist und Frauen mehr sind als ,menstruierende Menschen’. Wenn das biologische Geschlecht relativiert wird, wird das Frau-Sein selbst relativiert. Man kann das Schicksal und die Existenz von Frauen, die dies von Geburt an sind, nicht dadurch nivellieren, dass man Trans-Frauen völlig identisch damit setzt. Und sogar Sprach- und Denkverbote erteilt, weil es angeblich identisch wäre. Was sie schreibt, ist tief bedenkenswert [o].

Sogar Alice Schwarzers ,EMMA’ kritisierte einen ,Geschlechtswechsel via Sprechakt’ [o]. Genau dies will die Ampelkoalition nun aber per Gesetz ab vierzehn Jahren möglich machen – und zu befürchten ist, dass nun zum Beispiel unzählige Mädchen sich zu Jungen erklären lassen und dass der ,Trans-Hype’ bisherige Probleme wie Ritzen, Magersucht und anderes noch ergänzt, während die wirklichen Ursachen dieser Probleme vor sich hinschwelen und noch unsichtbarer werden als bisher schon.

Dann schreibt Poschardt, ,Sexualisierung’ von Kindern sei Missbrauch – aber ,Trans*, schwul, bi oder lesbisch zu sein, ist keine Gefahr für Minderjährige’. Damit rast er zielsicher völlig am Ziel vorbei. Denn der gewichtige Vorwurf, den selbst Springer-Chef Döpfner zugestanden hatte, war ja gerade, dass man Kinder viel zu früh mit diesen ganzen Themen in Berührung bringt, sie ihnen teilweise geradezu aufdrängt. Eben schon in der ,Sendung mit der Maus’, also im Vorschulalter! Dass man dies begründet auch problematisieren kann, steht doch wohl außer Frage. Poschardt ist also absolut nicht präzise, sondern weicht aus.

Poschardt endet:

Wir Liberale glauben an nichts so sehr wie die Freiheit des Einzelnen, dies impliziert logischerweise und ganz selbstverständlich auch die persönliche Wahl, wen oder was man liebt. Und es impliziert auch die Frage nach dem Selbstverständnis, welche sexuelle Identität man leben will. Jeder Emanzipationsprozess, welcher Minderheit auch immer, bedeutet eine ungeheure und wertvolle Chance auf Fortschritt. Diese Prozesse wollen wir begleiten. Aber diese Prozesse können nur gelingen, wenn alle Teile der Gesellschaft gehört, gesehen und verstanden werden. Das ist unser Anspruch.

Jetzt wird es spannend. Was wäre, wenn ein Mann ein dreizehnjähriges Mädchen lieben würde – und umgekehrt? Darf ein Mädchen schon im Grundschulalter seiner sexuellen Identität ganz sicher sein (etwa: es möchte lieber ein Junge sein), aber selbst mit dreizehn noch nicht seiner Liebesgefühle? Die Debatte, die die Rechte des Individuums zu schützen versucht, krankt auch heute noch an schmerzlichen Einseitigkeiten und Inkonsistenzen.

Härte 2.0

Und auf der anderen Seite: Das Gerede von der ,Freiheit des Einzelnen’ dient bei den sogenannten ,Liberalen’ oft auch nur der Verlagerung der Verantwortung auf den Einzelnen – ganz im Sinne der neoliberalen Ideologie: Jeder ist seines Glückes Schmied – und wer durchs Raster fällt, ist per Definition selbst schuld.

Die Liberalen sind mit dem Turbokapitalismus voll auf einer Linie – denn ihre ,Freiheit dem Tüchtigen’ ist die Grundideologie des Kapitalismus. Gerade viele ,Liberale’ dieser Fasson sind insgeheim noch immer verkappte maskuline Männer, Macher-Typen. Es ist kein Zufall, dass ein Julian Reichelt an der Spitze der ,BILD’ stand – und bis zuletzt gut Freund eines Poschardt oder Döpfner war.

Und um die ,Trans’-Community ging es auch einem Poschardt nicht, als er am Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine schrieb [o]: ,Die Freiheit wird nicht am Tampon-Behälter in der Männertoilette verteidigt.’ Interessanterweise schrieb dann auch Poschardts entlassener (Ex?-)Freund Reichelt im selben Monat auf Twitter [o]: ,Die Zwangsmaus und die Öffentlich-Rechtlichen wollen, dass wir uns nicht mehr trauen, Dinge zu sagen, von denen wir wissen, dass sie wahr sind. Sie wollen uns einschüchtern und erziehen, bis wir aus Furcht Fakten verleugnen: Jungs sind Jungs, Mädchen sind Mädchen.’

Poschardts Herabwürdigung der queren Bewegung entsprach ganz Putins homophober Ideologie vom ,dekadenten Westen’, und so erwiderte ihm ,WELT’-Journalist Deniz Yücel mit vollem Recht [o]:

Falsch ist es hingegen, als Reaktion auf den russischen Überfall auf die Ukraine das Lied von einer ‚Verweichlichung‘ und ‚Verweiblichung‘ der westlichen Welt anzustimmen. Denn das ist kein Freiheitslied, das ist die Marschmusik der Putins dieser Erde.

Noch 2014 zur Annexion der Krim hatte Poschardt selbst vor einer eskalierenden Konfrontationslogik gewarnt [o]: ,Die gesamte Persona des russischen Präsidenten strebt nach Stärke, Kraft und Härte. [...] Wer Putin mit Konfrontation und Härte kommt, wird scheitern. Das ist sein Spiel, seine Logik, es sind seine Spielregeln. Wer jetzt auf einen Kalten Krieg dringt und die Rückkehr von dessen Konfrontationslogik fordert, findet in Putin seinen Meister.’

Ende Februar aber schreibt er [o]:

Wladimir Putin kann nur tun, was er will, weil er den Westen in seiner Schwäche durchschaut hat: Vor allem Europa und die Deutschen sind dekadent geworden, sie gängeln ihre Leistungsträger und unterwerfen sich einem naiv-entrückten Zeitgeist. Wir müssen wieder wehrhaft werden.

Hier haben wir den unmittelbaren Zusammenhang! ,Gängeln der Leistungsträger’ – das ist das ultraorthodoxe Credo aller Neoliberalen. Das Pendant ist dann das Lied vom ,Sozialschmarotzer’ – also all derer, die sich im Turbokapitalismus plötzlich ohne Job wiederfinden und dem Staat und den Leistungsträgern ,auf der Tasche liegen’. Leistungsträger – das sind die Poschardts, die Döpfners, die Merze dieser Erde, das sind Amazon, Apple und Blackrock.

Und der ,ganze Mann’ Poschardt erkennt, dass man einem Putin nur begegnen kann, wenn man die ganze Dekadenz des Westens ausmerzt und wieder ,wehrhaft’ wird. Damit übernimmt er die Logik eines Putin im Grunde eins zu eins. Und zwar willig. Denn um das Anti-Emanzipative einer ,Logik des Stärkeren’ ging es den Neoliberalen ja seit jeher.

Einschwören auf die ewige Logik

Erinnern wir uns noch einmal an die Worte nach dem Gastbeitrag:

Gesellschaften verändern sich immer. Es gibt keinen Stillstand. [...] Modernisierung kennt Gewinner und Verlierer. Gesellschaftliche Veränderungen sind schmerzhafte Prozesse. [...]

Das ist ein Einschwören auf den unaufhörlichen ,Fortschritt’. Geradezu idealisiert wird hier die Anonymität dieses Prozesses – hinter dem sich die Neoliberalen umso besser verstecken können. Es geht nicht um Transgender, das tut es nur diesmal. In Wirklichkeit aber geht es Poschardt um die ungezügelte Logik des neoliberalen Fortschritts. Vor allem für die ,Leistungsträger’ darf es keinen Stillstand, keine Beschränkungen, keine überflüssigen Steuern, keine Kontrollen etc. geben – denn all das wäre nicht mehr ,liberal’...

Modernisierung ist schmerzhaft, ja – aber doch nur für die, die es eben nicht ,geschafft’ haben. Die keine Yacht, keine Villa, kein Vermögen in der Hinterhand haben. Wie könnte Modernisierung für einen Millionär je schmerzhaft sein? Das ist doch lachhaft. Allenfalls deshalb schmerzhaft, weil er nicht mehr unkontrolliert ,Bunnys’ in seinen Loft holen kann, wie es noch Hugh Hefner konnte.

Poschardt geriert sich hier als Prediger, der den Ewig-Gestrigen, die noch an patriarchalen Rollenbildern klammern, ins Stammbuch schreibt, dass die Zeit schmerzhafter Modernisierungsprozesse auch an ihnen nicht vorübergehe. In Wirklichkeit aber will er mit solchen Zeilen die Nation fortwährend darauf einstimmen, dass der sozialdarwinistische ,liberale’ Turbokapitalismus unaufhaltsam sei.

Denn dass der Fortschritt eines Tages darin bestehen könnte, dass es überhaupt keine Gewinner und Verlierer mehr gibt, weil Ausbeutung, Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit irgendwann auf allen Ebenen geächtet sein könnten – daran denkt er kein einziges Mal, und das will er gerade verhindern. Poschardt will eine solche Welt ohne Verlierer gar nicht – denn er würde sich in ihr gerade als ein solcher betrachten. Ist er doch ein ,Leistungsträger’! Und wo käme man hin, wenn solche dann nicht auch an der Spitze stünden? Demgegenüber ist doch eine Welt voller Leid und Ungerechtigkeit nur ein Kollateralschaden. Man muss ihn eben in Kauf nehmen.

Das Mädchen

Demgegenüber vertritt das Mädchen eine völlig andere Logik. Es sucht nicht die Konfrontation. Es will nicht ,gewinnen’. Es versteht sich nicht als ,Leistungsträger’ – auch nicht als ,Leistungsträgerin’. Das Mädchen sucht den Frieden, bemüht sich um Verständigung – und tut dies ohne jeden Anspruch auf Macht oder Einfluss.

Das Mädchen beutet auch selbst niemanden aus. Es redet nicht von ,Leistungsgesellschaft’, nicht von fortwährender ,Selbstoptimierung’ – weder offen noch in irgendeinem Subtext. Es redet nicht von ,ewigem Fortschritt’ und ,schmerzlichen Anpassungsprozessen’, nicht von ,Gewinnern und Verlierern’. Es weiß, dass der einzige Fortschritt nur darin bestehen kann, dass es dies irgendwann nicht mehr gibt: Verlierer. Und dass jede Logik, die anonym von ,ewigem Wandel’ und ,schmerzhaften Prozessen’ spricht, gerade das Falsche vertritt. Den Egoismus. Die Empathielosigkeit. Die eigenen Machtimpulse und Selbstherrlichkeiten.

Fortschritt – in dieser abstrakten Verherrlichung – ist allein schon ein zutiefst maskulines Konzept. Wer ihn so abstrakt benennt und beschwört wie Poschardt, der meint immer auch den gegenwärtigen Sozialdarwinismus (Überleben des Stärksten), der im Zweifelsfall noch gar nicht darwinistisch genug ist – weil ja die ,Leistungsträger’ ständig gegängelt und diskriminiert werden.

Der wirkliche Darwin hatte aber nicht vom Überleben des Stärksten gesprochen, sondern von der Anpassung. Nicht aber Anpassung an die jeweils brutalste Logik, sondern Anpassung an das Ganze, an die Weisheit des Ökosystems insgesamt. Wäre nicht das die wirkliche Wahrheit, so wären Schmetterlinge, Blumen, Schildkröten und Häschen längst ausgestorben. Sie sind es aber nicht. Denn es kommt nicht darauf ein, sich gegenseitig zu vernichten, sondern in Frieden miteinander zu leben. Manche haben das bis heute nicht begriffen – darunter sehr, sehr viele sogenannte ,Leistungsträger’.

Das Mädchen ist die Zukunft. Putin steht für das Alte. Aber auch ein Poschardt steht für das Alte, das längst Überlebte. Vielleicht wird er das eines Tages – schmerzhaft oder auch erlösend – begreifen. Oder er wird es nie begreifen. Aufzwingen wird diese Wahrheit auch ihm das Mädchen nie. Der wirkliche Fortschritt kommt nicht wie der unaufhaltsame Schnellzug, den der Neoliberalismus heute als einzige Variante von ,Fortschritt’ preist und verherrlicht. Der wirkliche Fortschritt kommt sanft. Aber ebenso unaufhaltsam.