20.06.2022

Verdummung und Vernebelung – und der Kapitalismus marschiert

Zu einer nur scheinbar belanglosen Reportage über einen östlichen Randbezirk Berlins.


Inhalt
Wie man die Illusion der Alternativlosigkeit schafft
Wer wählt (nicht) die LINKE?
Von Hartz IV bis ,Frieren gegen Putin’
Falsche Diskurse – an der Wirklichkeit vorbei
Der mangelnde Mut, die Wahrheit auszusprechen
Das eigentliche Ideal des Menschlichen
Die Wirklichkeit
Das weinende Mädchen
,Saublöd ist...’
,...mit der Nummer 960’
,Schluchzend am Boden...’
,Durch tränenverhangene Wimpern...’
,Sie funkeln in der Sonne...’


Wie man die Illusion der Alternativlosigkeit schafft

Heute las ich einen Artikel der Frankfurter Sonntagszeitung, hinter einer Bezahlschranke, aber das ist ein Thema für sich. Der Titel war: ,Dit is schade’. Und im Untertitel hieß es: ,Es ist nicht mehr viel übrig von der Linken. So wie überhaupt nicht mehr viel übrig ist von früher.’

Es ist ein Ausflug der Journalistin Livia Gerster nach Hohenschönhausen, genauer gesagt in eine Kleingartensiedlung ganz im östlichen Außenrand Berlins. Seit ewigen Zeiten gewinnt hier die LINKE-Politikerin Gesine Lötzsch die Direktmandate – und ist auch immer wieder vor Ort, so wie an diesem Tag, wo sie bei dem sehr gut besuchten Gartenlauf des Kleingartenvereins ,Falkenhöhe Nord’ die Preise verteilt.

Gerster beschreibt impressionistische Details, lauter diffuse Punkte. Und das Bild, das sich zusammensetzt, ist ,ein letztes Stück aufgeräumte Welt’ – wo sich Ansaathinweise für Petersilie ebenso finden wie die noch immer herzliche Geselligkeit jener Menschen, die ,den Osten’ noch kannten, ja dort aufgewachsen sind. Aber Nichts ist wie früher – und längst rangiert die Linkspartei bei den letzten Landtagswahlen ,irgendwo im Bereich der Tierschutzpartei’, während eine Vorsitzende abhanden kam und die verbliebene ,sich mit Sexismus-Vorwürfen gegen linke Männer herum’-schlägt.

Einem Läufer macht das Notizbuch von Gerster Hoffnung: ,Kein Smartphone, das gefällt mir.’

Er läuft schon sein Leben lang. Meilenlauf hieß das in der DDR. Früher war der Mann schneller. Heute ist er „Ü 65“. Der DJ hinter ihm auch. Er spielt: „Wir sind jung, verrückt und frei, Wolke sieben ist noch frei.“

Und so geht es weiter. Das Frühere ist vergangen. Zurück bleibt Nostalgie. Irgendwo ein bisschen auch bei der Journalistin. Aber das ist auch alles. Das impressionistische Bild bleibt so nebelhaft, das nicht einmal klar wird, was eigentlich die Aussage sein soll. Aber wahrscheinlich ist genau das die Aussage. Niemand weiß, wo es hingeht. Klar ist nur: Zurück in die Vergangenheit geht gar nichts. Und die bisherigen Tendenzen werden sich fortsetzen: ,Doch das Chaos der Hauptstadt rückt näher.’ Wenn Gerster dann schildert, dass sich Leute die Protokolle der Kleingartenversammlungen mit ihren einstimmigen Beschlüssen hinter Glas hängen, bleibt der Eindruck zurück, hier sei alles absolut ewig-gestrig.

Wer wählt (nicht) die LINKE?

Dass diese ,zurückgebliebene’ Welt irgendwann vom Kapitalismus überrollt werden wird, hoffnungslos, total, ist absolut sicher. Eine Alternative gibt es ja nicht. Und genau das ist auch der Subtext von Gerster. Sie ist damit auf ihre Art das völlige Pendant zu dem in meinen beiden letzten Aufsätzen näher beschriebenen Ulf Poschardt von der Springer-Presse. Was Poschardt aggressiv vorantreibt – den Neoliberalismus in seiner sozialdarwinistischen Hässlichkeit –, das stützt und unterstützt Livia Gerster wissentlich oder unwissentlich mit ihrem fast empathischen Blick auf die Kleingartenkolonie und ihre Menschen tief im Osten Berlins.

Es ist im Grunde eine aggressive Ent-Politisierung. Denn nirgendwo wird deutlich, wofür die LINKE eigentlich steht. Es ist im Grunde absolut beliebig, was man wählt. Die Wahl, die höchste Verantwortung jedes Menschen, der sich als Bürger versteht, die sich als Bürgerin versteht, wird fast zu einem bloßen Würfelvergnügen:

Die Alten wählten die Linke aus Verbundenheit, erklärt er. Die Jungen: unsichere Kantonisten. „Meine Tochter ist eher CDU“, sagt er und deutet auf eine junge Frau mit Tattoos an den Armen. Sein Blick zärtlich und betrübt zugleich.

An solchen Sätzen ist alles falsch – weil die Realität selbst falsch wird. Denn das Falsche ist die Blindheit, die Verdummung. Was macht eine junge Frau mit Tattoos bei der CDU? Weiß sie nicht, was sie wählt!? Offenbar. Und die Alten? LINKE-Wähler nur ,aus Verbundenheit’? Was soll das denn heißen? Offenbar, dass es um Inhalte überhaupt nicht geht. Und genau das ist die Botschaft, die Gerster verbreitet. Und nebenbei auch noch, dass CDU offenbar für das Junge steht, den Fortschritt, den Aufbruch. Welche wahnwitzigen Aussagen sind das denn? Aber sie stehen nur im Subtext – bei den meisten Lesern kommen sie nur unbewusst an. Und die wenigsten werden begreifen, wie aggressiv hier den Köpfen das politische Denken ausgetrieben wird.

Warum also, kann man fragen, hat die LINKE so wenig Wähler? Weil der Kapitalismus mit seiner Einlullungs-Methode brutale Siege erringt. Weil die Leute überhaupt nicht mehr begreifen, in wessen Pfanne sie brutzeln und wer die Katastrophen verursacht. Einige ahnen es zumindest noch, ziehen daraus aber die falschen Folgerungen:

Nicht alle hier wählen die Linke. Einer gibt zu Protokoll, dass er mit der auf keinen Fall in Verbindung gebracht werden wolle. Er wählt CDU. Die Linken sind für ihn Verbrecher, SED-Leute. „Wollen die Partei der Armen sein, aber kassieren zehntausend Euro im Bundestag.“ Andere wählen AfD, zum Beispiel das Paar in der Wurstschlange. Von den Grünen fühlen sie sich behandelt wie Kinder. „Die wollen, dass wir frieren.“

Von Hartz IV bis ,Frieren gegen Putin’

Die LINKE will nicht nur die Partei der Armen sein, sondern überhaupt die Partei sozialer Gerechtigkeit und einer sozialen, menschlichen Gesellschaft. Aber das, dieser Wahnsinn: Ein Mann verweist darauf, dass auch linke Abgeordnete die Bundestagsgehälter empfangen, die es nun einmal gibt – und dann wählt er CDU! Ein größerer innerer Widerspruch ist kaum denkbar. Die Seele wird völlig zersetzt und man gibt sich einer irrationalen A-politik hin, da ist nur noch Willkür, Sinnlosigkeit, ein Nicht-Denken, ein Nicht-Fühlen, ein Nicht-Wollen, ein Vakuum. Und schleichend schlicht und einfach nur noch eines: ebenfalls ein kapitalistisches Bewusstsein. Der eigene Selbstbezug. Das eigene Hemd ist einem eben auch selbst näher als das Wohl des Nachbarn.

Und auf der anderen Seite erkennen viele zumindest noch manche Wahnsinnigkeiten. Zum Beispiel ,Frieren gegen Putin’. Dass dieses Wort ursprünglich von Joachim Gauck stammt, fällt gar nicht auf. Die Grünen wollen nicht, dass ,wir frieren’. Habeck besorgt sich fossile Energie von autokratischen Scheichs, die Kriege führen mögen, die nicht so nah ,bei uns’ sind. Oder das Öl kommt ohne Label aus Indien – das gerade enorme Mengen zu billigen Preisen von Russland gekauft hat. Die Sinnlosigkeit kennt keine Grenzen. Statt direkt erhalten wir russisches Öl nun also indirekt und extrem viel teurer. Frieren werden sehr bald also sehr wohl viele, sehr viele. Habeck hat damit seine Selbstgerechtigkeit – und gewonnen ist nichts, überhaupt nichts. Nur die Rüstungsindustrie erhält Milliarden.

Nebenbei streift Gerster große Wahrheiten – etwa dass ,Arbeitgeber’ und ,Arbeitnehmer’ BRD-Wörter seien, wie ein Mann betont. In Wirklichkeit sei es umgekehrt: Die Menschen geben ihre Arbeit – und andere nehmen sie. Konsequenzen zieht Gerster daraus nicht. Auch dies wird nur wie eine sympathisch-verschrobene Ansicht kolportiert.

Ein Kinderarzt berichtet, siebzig Prozent der Neugeborenen seien inzwischen ,ndH’ – nichtdeutscher Herkunft. Auch dies wird dann wieder den LINKEN vorgeworfen: Die Partei kümmere sich um Flüchtlinge im Mittelmeer und vergesse ,den Hartz-IV-Empfänger in Hohenschönhausen’. Dass aber die LINKE Hartz IV niemals eingeführt hätte – und gegen dieses und andere brutale Instrumente des Kapitalismus wenig tun kann, solange sie nicht gewählt wird, verschwindet bereits aus dem Blick. Hartz IV war von vornherein ein Frontalangriff auf jene Menschen, die ohnehin schon ganz unten stehen – den Job aus welchen Gründen auch immer verloren oder nie einen gefunden. Der Kapitalismus fordert, dass man sich anbietet bis zur Selbstaufgabe.

Gerster könnte dies alles wissen. Ihr Namensvetter Florian Gerster war 2002 bis 2004 Vorsitzender der ,Bundesagentur für Arbeit’. Wenn man dann ein wenig recherchiert, wird es noch viel schlimmer. Die beiden sind sogar verwandt. Livia Gerster ist die Tochter von Florian Gersters Schwester Petra [o]. Es liegt der Familie gleichsam im Blut, dass der Kapitalismus alternativlos ist – und dass es mit der Gängelung, Demütigung und Zurichtung der jeweils ,Arbeitslosen’ seine Richtigkeit habe. Die völlige Entpolitisierung und das geradezu im Nebel sich Verflüchtigende irgendwelcher konkreter, realer Gedanken ist möglicherweise regelrecht gewollt. Es gibt auf der einen Seite echtes, hellwaches politisches Bewusstsein – und das Andere ist dann der Kleingartenartikel einer Livia Gerster.

Falsche Diskurse – an der Wirklichkeit vorbei

Diese Menschen, die aus dem Osten kommen, sind nicht etwa fremdenfeindlich. Als unter den Siegern diesmal auch ein Mann namens Mustapha El Ouartassy gehört, sagt der Mann, der die Sieger am Mikrofon zu verkünden hat: ,Das sind vielleicht Namen … da braucht man ja Volkshochschule’. Das ist das Gegenteil von Fremdenfeindlichkeit. Es ist die volle Akzeptanz der Realität – und noch dazu eine feine Selbstironie. Die Herzlichkeit dieser einfachen Menschen macht auch vor diesen fremden, neuen Mitbürgern nicht Halt. Die AfD mit ihren Antipathien und ihrer Aufhetzerei hätte es hier schwer.

Dass Bruchteile in der LINKEN vielleicht auch noch eine Stasi-Vergangenheit haben (könnten), das kann nur ein heuchlerisches Bewusstsein zum Totschlagelement hochstilisieren, welches völlig verdrängt, dass nach 1945 ein Großteil der CDU fast nahtlos aus der Nazi-Vergangenheit hervorging. Und mehr noch, Gerster zitiert, was die Hohenschönhauser denken: ,Heute spioniert schließlich jeder jeden aus, freiwillig, in den sozialen Netzwerken.’ Mehr noch, man muss es weiter konkretisieren: Google, WhatsApp, Facebook wissen eh alles – und was sie nicht wissen, weiß der amerikanische Geheimdienst, möglicherweise sogar der deutsche, mit immer neuen ,Lauschangriffen’. Und nicht zu vergessen: Nach 1945 hat die Adenauer-CDU lange Jahre die SPD ausspioniert.

Der Artikel erwähnt weiter, dass immer mehr Menschen aus der Innenstadt vertrieben werden – ,rausgentrifiziert’, sogar aus Neukölln und Kreuzberg. Die würden ihr Wahlverhalten natürlich mitbringen, soll wohl heißen ,grün’ statt ,links’. Und wieder herrscht auf allen Seiten Blindheit. Allein schon die Sprache verblödet das Bewusstsein. Die Worte mögen noch so ,hip’ sein – sie werden sinnlos, wenn niemand mehr weiß, was sie bedeuten. Es geht nicht darum, dass sich Neureiche den immer teureren Wohnraum unter den Nagel reißen. Es geht um die Verteuerung selbst. Die Mieten steigen fortwährend, und niemand hält sie auf. Das ist das Problem. Und es ist ein Problem des Kapitalismus. Der Kapitalismus – das ist das Problem, das eigentliche, das wahre.

Ein weiser Häuptling hätte sagen können: Erst wenn der letzte normale Mensch aus den einst normalen Wohnräumen herausgentrifiziert worden ist, werdet ihr merken, dass man den Kapitalismus hätte bekämpfen und ablehnen müssen. Aber zu dieser Deutlichkeit kommt Gerster an keinem Punkt – vielmehr vernebelt sie ihn bis zur Unkenntlichkeit und bläst in das Horn derer, die alle, die den Kapitalismus kritisieren, so hinstellen, als könnten sie nur aus zurückgebliebenen Zusammenhängen kommen. Ewig-Gestrige und geistig Minderbemittelte.

Viele Diskussionen gehen tatsächlich an der Wirklichkeit vorbei. ,Die Sexismus-Fälle in der Linken beschäftigen die Frauen dagegen weniger. Erstens gebe es das überall und zweitens nirgends. „Wenn ich jetzt meinen Arbeitskollegen umarme, ist das Sexismus?“, fragt Birgit.’ Diese kleine Szene zeigt, dass viele ganz normale Menschen nicht einmal wissen, worum es eigentlich geht. Das bedeutet: Die Diskurse der gehobenen, intellektuellen Mittelschicht sind Spezialdiskurse. Auch wichtig, sehr wichtig sogar, aber was für Millionen Menschen viel wichtiger ist, sind Wohnraum, Inflation, Verdrängung. Der Kapitalismus überrollt die Menschen, flächendeckend – und Sexismus ist nur etwas, was stellenweise als eines von vielen Problemen noch obendrauf kommt. Übrigens: Im Sozialismus war die Frau von Anfang an viel gleichberechtigter.

Der Kapitalismus ist so gesehen ein fortwährender ,Sexismus’ auf radikalstem Niveau. Er ist die sozialdarwinistische Diskriminierung, Deklassierung, Demütigung und Unterwerfung derer, die es ,nicht schaffen’ – das ewige Mithalten, die ewige Selbstoptimierung, den ewigen Kampf, die ewige Konkurrenz, das ewige Sich-Durchsetzen.

Die Grünen wollen eine Welt nachhaltiger Energiegewinnung – Sonne, Luft, Wasser. Das ist auch die einzige Zukunftsoption. Aber das, was hier ,Nachhaltigkeit’ bedeutet, das gilt auch für alles andere. In Wirklichkeit dürfte niemals jemand Profit mit der Bedürftigkeit und Verletzlichkeit anderer Menschen machen. Also auch nicht mit Energie, mit Wohnraum, mit Bildung, mit Versorgung und Pflege. Nachhaltigkeit bedeutet, mit all diesen krassen Fehlentwicklungen des Kapitalismus grundlegend zu brechen. Nachhaltigkeit bedeutet, das Soziale und Menschliche wieder ganz nach oben zu stellen – und danach lange Zeit erst einmal nichts.

Solange man dies nicht klar formuliert, können, geschützt und gestützt von absolut nebelhaften Artikeln, die Dinge immer weiterlaufen, immer katastrophaler – und die sozialdarwinistischen Spitzenreiter werden stets wissen, wie sie ,ihre Schäfchen ins Trockene bringen’. Das Chaos ausbaden müssen stets andere – all jene, die bis zum Schluss belogen und betrogen worden sind.

Der mangelnde Mut, die Wahrheit auszusprechen

Dass selbst die linke Spitzenpolitikerin Gesine Lötzsch nicht deutlich wird, ist ein Armutszeugnis. In dem Artikel heißt es dazu: ,Denn eigentlich könnten die hohen Preise die Leute ja in Scharen zu den Linken treiben. Es kommt aber keiner. Warum, kann Lötzsch nicht so genau erklären. Natürlich sei Streit nicht gut. „Aber manche können halt auch einfach schlecht gucken.“ Schlecht gucken? Na ja, sagt Lötzsch, in Berlin habe es im Herbst so viele Wahlen auf einmal gegeben, eine solche Informationsflut, da hätten manche nicht mehr durchgeblickt. Die säßen dann mit sechs Wahlzetteln in der Kabine. Womöglich kurzsichtig.’

Auch hier wird um das Problem drumherum geredet. Denn es ist wahr. Würden die Menschen begreifen, würden sie in Scharen die LINKE wählen (müssen). Sie tun es nur dann nicht, wenn sie die Hoffnung bereits verloren haben. Dann bleibt nur, mit den Wölfen zu heulen und immer wieder neu auf den Grundmythos des Neoliberalismus hereinzufallen: Was den ,Leistungsträgern’ (Poschardt!) hilft, hilft irgendwann auch uns allen... Das war schon immer die Lüge der Reichen und Mächtigen, schon im antiken Altertum: Brot und Spiele. Man gebe noch dem deklassierten Plattenbaubewohner sein Handy – und schon kann er nichts mehr sagen, denn geht es ihm nicht gut?!

Wenn selbst die LINKE es nicht mehr wagt, die gewaltigen Widersprüche ganz klar zu artikulieren, die der Kapitalismus tagtäglich produziert und tagtäglich anwachsen lässt, dann hätte sie es selbst verschuldet, nur noch in dem Maße gewählt zu werden wie die Tierschutzpartei, obwohl in Wirklichkeit selbst diese wichtiger wäre als die CDU. Aber die Menschen kaufen lieber die Billigwurst tief gequälter Tiere, anstatt zu begreifen, dass sie mit immer geringeren Renten, mit schlecht bezahlten PflegerInnen und Abfertigung am Fließband, wenn man selbst einmal ins Krankenhaus oder Altenheim muss – und mit noch unzähligem anderem längst selbst Teil einer ,menschlichen Massentierhaltung’ geworden ist, von der nur jene profitieren, die im Kapitalismus die Sieger sind. Entweder gigantische Gewinne machen – oder aber jedenfalls Gewinne, während alles andere immer weiter zusammengepresst wird.

Der Kapitalismus wird so lange siegen und so lange Leid und Verderben für Milliarden Menschen weltweit bringen, bis Menschen auftreten werden, die alles beim Namen nennen werden. Die Steueroasen. Die obszönen Gewinne, Vermögen und Einkommen. Die wahnwitzigen ,Steuererleichterungen’ (!) für Menschen und Konzerne, die ohnehin schon im Geld schwimmen. Und unzählige andere Dinge, die eine außerirdische Intelligenz überhaupt nicht fassen könnte. Nicht die Menschen der Kleingartensiedlung ,Falkenhöhe Nord’ sind etwas einfach gestrickt, sondern der Kapitalismus selbst besitzt eine unmenschliche, eine regelrecht perverse Logik. Er würde in jedem außerirdischen oder überhaupt moralischen Intelligenztest grandios versagen. ,Thema verfehlt’. Vollkommen.

Das eigentliche Ideal des Menschlichen

Die Realität des Menschlichen, nicht nur als Erfahrung, sondern als Vision, kommt an folgender Stelle zum Ausdruck:

Früher, da habe man den Nachbarn geholfen, den Schlüssel stecken lassen, im Gemeinschaftskeller gefeiert. „Kennen Sie das? Partys im Gemeinschaftskeller?“, fragt Birgit herausfordernd. Ich verneine, sie nickt. Auch deshalb wählen sie die Linke.

Natürlich war die Gemeinschaft in der DDR schon deshalb stärker, weil man sich helfen musste – in einer fortwährenden Mangelwirtschaft. Aber auch weil man sich gemeinsam in einer Geistesdiktatur wusste. Doch das ist nicht die ganze Wahrheit. Der Sozialismus förderte auch als Ideal den Zusammenhalt, die Idee des Sozialismus bestand aus diesem Ideal. Was der Parteiapparat dann daraus machte und wie sehr er dies missbrauchte und selbst ganz andere Dinge vorantrieb, nämlich Herrschaft und Einheitsmeinung, ist etwas ganz Anderes. Das Ideal des Sozialismus war und ist Geschwisterlichkeit – Gleichheit aller Menschen, jedem nach seinem Bedürfnis, jeder nach seinen Fähigkeiten. Es ist ein großartiges Ideal.

Was hat der Kapitalismus dagegen für Grundsätze? Richtig. Egoismus. Maximale Entfesselung aller Produktionskräfte durch Egoismus. Welch eine Bankrotterklärung!

Und dann kommen Journalistinnen und schreiben verschlafen-gartenzwergige Artikel, die an dem Bild mitstricken, der Kapitalismus sei nun einmal alternativlos. Ebenso wie die Gentrifizierung, die Inflation, die Deklassierung derer, die plötzlich ,Hartz-IV-Empfänger’ heißen, die ,Profitisierung’ der Krankenhäuser, der ,Altenheime’, von Grund und Boden, von Wasser, von immer mehr allem, immer radikaler auch, immer galoppierender. In die Köpfe gehämmert werden muss die Überzeugung, dies alles sei alternativlos, es geschehe einfach. Wie dumm muss man sein, um diese Botschaft zu glauben?

Menschlich wäre nicht nur etwas völlig Anderes, menschlich wäre das genaue Gegenteil. Ein Beenden dieses wahnwitzigen Kampfes, in dem notwendigerweise einige Wenige profitieren, weil sie die größte Macht erringen, die hässlichsten Methoden anwenden, die gerissensten Steuertricks und Steueroasen kennen, schlicht und einfach: das maximieren, was der Kapitalismus belohnt. Den Egoismus. Dies zu beenden. Überall jene Strukturen zu schaffen, die dies bis ins Strukturelle hinein unmöglich machen. Und stattdessen Menschlichkeit fördern und belohnen. Das, was ohnehin eigentlich im Menschen lebt...

Die Wirklichkeit

Da, wo Menschen beginnen, den Schlüssel nicht mehr stecken lassen. Wo die einen sich auf einmal teurere Autos kaufen. Wo man sich gegenseitig verschweigt, was man verdient und nicht verdient. Wo die Feiern im Gemeinschaftskeller oder Gemeinschaftshof aufhören, weil auch die Gemeinschaftskeller und -Höfe gar nicht mehr existieren, da wächst und gedeiht nur eines: Der Selbstbezug, die Vereinzelung, die Isolierung, die Anonymität.

Ja, natürlich kann man sich noch auf einen Plausch treffen, wenn man die Hunde ausführt und sich begegnet. Aber der Kapitalismus hat dann längst gesiegt. Und mit ihm das Hässliche. Das Nicht-Menschliche. Die Isolierung, um die es dem Kapitalismus gerade geht. Wirf jeden auf sich selbst zurück. Teile und herrsche. Du hast gewonnen, sobald jeder nur noch an sein eigenes Wohl denkt – und sei es, weil er um das tägliche Überleben kämpfen muss und gar keine Kraft mehr hat, an den Anderen zu denken, von netten Feigenblättern einmal abgesehen.

Der Kapitalismus ist keine Gesellschaftsform. Er ist ein Horror. Ein Horror, der Gesellschaft gerade zerstört. Wo es noch Rudimente von Gesellschaft gibt, da gibt es sie trotz der ewigen, täglichen Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus. Gegen diesen. Weil sich zum Beispiel PflegerInnen trotz schlechter Bezahlung und immer unmenschlicherer Arbeitsbedingungen für Menschen einsetzen, so gut sie es können. Weil ZugfahrerInnen und SchaffnerInnen trotz Einsparungen, Streckenstilllegungen und immer dünnerer ,Personaldecke’ ihre Menschlichkeit, ihren Humor und ihre Herzlichkeit nicht verlieren. Und weil PostbotInnen trotz immer aufreibenderer Anforderungen noch immer freundlich sein können – obwohl kaum jemand sich dafür interessiert, wie es ihnen geht.

Wenn man sieht, was wirklich geschieht, zerreißt es einem das Herz. Tausende von Menschen halten ihre Menschlichkeit aufrecht, obwohl sie immer weiter gedemütigt, an den Rand gedrängt, in falsche Strukturen gezwungen werden und die Gesellschaft immer weiter zerfällt. Und dann gibt es Menschen, die stellen dies als Naturgesetz, als alternativlos, als Sachzwang hin und spinnen an dem Mythos, dass es uns allen doch gut gehe und das auch so bleibe. Welch ein Hohn! Welch eine Lüge! Wie lange will man die Wahrheit noch verschleiern und die bereits seit Jahren sich entwickelnde Katastrophe decken und wegreden?

Das weinende Mädchen

Gerster hätte den Schlüssel in der Hand gehabt, einen völlig anderen Artikel zu schreiben. Denn im Grunde begann ihr Artikel schon mit einem Paukenschlag – aber auch dieser ist wahrscheinlich sowohl ihr als auch den meisten Lesern völlig entgangen. Der Text aber begann mit folgenden Worten:

Manche gelangen schnell ans Ziel, andere verlieren den Anschluss. Saublöd ist, wenn man nicht mal richtig starten kann. „Rennt euch nicht über den Haufen!“, ruft der Mann mit der Startklappe noch. Auf die Plätze, fertig, und los läuft der Pulk. Geschubse, Gedränge, wirbelnder Sand. Zurück bleibt das Mädchen mit der Nummer 960. Schluchzend am Boden mit blutigem Knie. „Immer diese Großen!“, schimpft die Mutter. Durch tränenverhangene Wimpern lugt das Mädchen zu den Pokalen. Sie funkeln in der Sonne, als sei nichts geschehen.

Im Grunde ist dies ein grandioses Gleichnis auf den Kapitalismus. Zehn einfache, schlichte Sätze – und doch entlarven sie diesen bis auf den Grund. Man kann sie nicht analysieren – wenn sie nicht bis in alle Tiefen zum Herzen sprechen, bleibt ihre Botschaft einfach verborgen.

Und doch muss man versuchen, das Erleben wieder hervorzurufen. Jenes Erleben, das so unendlich gelitten hat, verschwunden ist in einer Zeit des Kapitalismus und Materialismus. Wo es nicht mehr um das Menschliche geht, nicht mehr um die Seele, nicht mehr um die Realität des Einzelnen. Wo Menschen Lebensjahre damit verbringen, sich über Internet-Inhalte zu unterhalten, aber nicht eine Sekunde lang die Empfindung der Andacht kennen. Einer tiefen Ergriffenheit. Eines reinen Gefühls, das nicht sofort wieder abflaut, weil die Seele ja geradezu abhängig von wechselnden Eindrücken geworden ist, drogensüchtig und haltlos, bei keinem einzigen Empfinden verweilen könnend.

Vorwärts! ruft der Kapitalismus. Vorwärts! ruft auch der Materialismus. Und die moderne Seele hat dies bis zum Erbrechen gelernt. Sie ist Sklave ihrer eigenen falschen Gewohnheiten geworden. Sie kann gar nicht mehr innehalten – und selbst wenn sie es tut, verschwinden die Gefühle innerhalb von Sekunden, auch diese kann sie überhaupt nicht mehr festhalten, gar nicht wirklich haben. Sie ist buchstäblich gefühl-los geworden, darauf angewiesen, dass sie ständig neuen ,Input’ bekommt, damit auch Gefühle da sind, jeweils für kurze Zeit.

Das Mädchen aber ist gestürzt. Irgendjemand hat sie wahrscheinlich umgerannt – und niemand achtet auf sie, denn alle wollten ja vorwärts... Welche Seele aber ist in der Lage, bei dieser Szene, bei diesem Mädchen zu verweilen? Welche Seele kann das begonnene Rennen radikal loslassen, auch den ganzen Artikel (der ja auch weitergelesen werden will) – und bei diesem Mädchen zu verweilen?

Es ist ja kein Zufall, dass es ein Mädchen war. Warum wurde gerade ein Mädchen umgerannt? Das könnte sich die Seele auch einmal tief, tief fragen...

,Saublöd ist...’

,Manche gelangen schnell ans Ziel, andere verlieren den Anschluss. Saublöd ist, wenn man nicht mal richtig starten kann.’ Schon der erste Satz ein komplettes Gleichnis des Kapitalismus. Der zweite Satz offenbart jedoch schon, dass Livia Gerster es keinesfalls ernst meinen kann. ,Saublöd ist...’ Mit dieser trivialisierenden Floskel der modernen, coolen Umgangssprache ist bereits das Niveau gesetzt. Ernsthaftigkeit und Tiefe ist von diesem Artikel nicht zu erwarten. Er wird die Tiefe gerade verschleiern, den Seelen das Erleben austreiben – das wird er tun.

Er wird damit auch das Mädchen zu einem armen, kleinen, aber trivialen Unglückswurm degradieren. Ganz ähnlich, wie auch der Kapitalismus alles degradiert, nur anders. Der Kapitalismus tut es brutal, der Artikel tut es geradezu unbewusst – weil die postmoderne Seele gelernt hat, alles von sich fernzuhalten und mit dieser coolen Trivialität zu verharmlosen. Sie ist darauf regelrecht konditioniert worden. Und nun kann sie nicht mehr anders. Und die lockere ,Coolness’ wiederum harmoniert perfekt mit dem Kapitalismus, weil diesem überhaupt alles hilft, was mit einer Verflachung des Gefühls zu tun hat.

Die Mutter hat in diesem Moment für einen Augenblick tiefere Empfindungen: ,Immer diese Großen!’ Aber was hilft es – wenn diese Blindheit für den Anderen flächendeckend ist? Sich täglich wiederholt, unzählige Male? Weil es belohnt wird.

Und das Schimpfen der Mutter ist als Empfindung noch immer nicht tief genug. Bleiben wir einmal bei dem Mädchen! ,Zurück bleibt das Mädchen mit der Nummer 960’. Schon dieser Satz ist tief berührend. Dieses Mädchen hat es ,nicht geschafft’. Alle anderen sind erfolgreich gestartet – diesem Mädchen ist selbst das nicht gelungen. ,Shit happens’, würde das sedierte, betäubte, korrumpierte postmoderne Bewusstsein jetzt wieder sagen, das immer mehr jede Seele verliert. Welch eine Brutalität, welche Ignoranz, welche erschütternde Seelen-Leere!

Nicht einen Moment lang wird hier empfunden, was das Mädchen empfinden mag. Vielleicht hat es sich schon tagelang auf diesen Lauf gefreut. Vielleicht hat es sogar ein bisschen dafür geübt – oder sogar richtig dafür geübt. Dass all dies nicht einmal in den Blick kommt, zeigt bereits, wie sehr wir gelernt haben, auf den anderen gar nicht mehr zu achten, nur noch auf uns selbst. Mit den Standardargumenten, die der Kapitalismus dann bereithält: ,Mir hilft ja auch keiner.’ Teile und herrsche. Dazu gehört die Förderung der Anonymität, die blind für die Ursachen macht. Selbst warum das Mädchen gestürzt ist, sucht man in dem Artikel – bis auf den indirekten Hinweis der empörten Mutter – vergeblich. Das Offenbarwerden des Egoismus muss um jeden Preis verhindert werden...

,...mit der Nummer 960’

Dieser Aufsatz ist so gesehen auch ein Tribut an das ungenannte Mädchen – denn es ist in Wirklichkeit das zentrale Wesen dieses ganzen längeren Textes, so sehr Gerster die Szene nur als trivialen Einstieg benutzt. An diesem einen, kleinen Mädchen wird die ganze Hässlichkeit des Kapitalismus offenbar, bis ins Letzte.

,Zurück bleibt das Mädchen mit der Nummer 960.’ Alle anderen haben zumindest den Start geschafft. Dieses Mädchen nicht einmal das. Der Kapitalismus privatisiert das Leid. Wer es nicht schafft, ist im Zweifelsfall selbst schuld. So ist das nun mal. Keine Rede davon, dass das Mädchen umgestoßen wurde. Es geht nicht um die wahrscheinliche Unabsichtlichkeit, es geht um die Rücksichtslosigkeit. Des Vorwärtskommenwollens. Des nur noch auf sich achten Könnens. Kommt einem das bekannt vor? Es ist der Kapitalismus. Es ist das, was er täglich reproduziert, täglich verwirklicht und täglich anerzieht und einkonditioniert.

,Zurück bleibt das Mädchen...’. Aus Sicht des Kapitalismus ist es einfach ein Fehlschlag. Fast eine Fehlgeburt. ,Netter Versuch’, würde das seelenlose Bewusstsein sagen. ,Leider nicht erfolgreich gewesen.’ Im Kapitalismus wird dies täglich Tausenden ins Gesicht gesagt – von einer seelenlosen Wirklichkeit. Und auch das Mädchen lebt in einer vollen Wirklichkeit. Es ist umgestoßen worden. Und es hätte sowieso nur einen der hinteren Plätze belegt. Schon die Startnummer 960 spricht Bände. Aber muss man es deshalb auch noch umstoßen? Aber so ist es nunmal. ,Gewöhn dich dran, das passiert dir noch viele Male’, würde das seelenlose Bewusstsein sagen.

Das Mädchen mit der Nummer 960. Für die meisten Menschen ist es schlicht nicht vorgesehen, dass sie im Kapitalismus zu den Gewinnern gehören. Und warum nicht? Sie sind nicht egoistisch genug. Schon die Nummer zeigt ganz klar, in welche Kategorie das Mädchen gehört: ,Unter ferner liefen...’ Es kann froh sein, überhaupt teilnehmen zu dürfen. Und wer nicht mal richtig starten kann, hat es beim nächsten Mal eigentlich auch gar nicht mehr verdient, überhaupt eine Nummer zu bekommen. Das Pech und der Makel des Mädchens war es, nicht egoistisch genug gewesen zu sein. Selbst wenn es gewollt hätte – es hatte einfach nicht so viel Ellenbogen wie die anderen... Und es hatte auch nur die Nummer 960... Aber warum läuft man überhaupt mit, wenn man keine Ellenbogen hat?

,Schluchzend am Boden...’

Und nur, wenn wir bei dem Mädchen verweilen, verharren, nicht mitlaufen wie die anderen, sondern zurückbleiben, bei dem Mädchen, begreifen wir wirklich, was geschieht und geschehen ist. Wird dies mehr als eine intellektuelle Leseübung, als ein Rastern und Durchgehen von Information, das die ersten Sätze sofort als belanglos, als bloß netten Einstieg abtut.

Die ersten Sätze bilden eine Schlüsselszene – und wer weiterläuft, gerät nur in einen grandiosen Abstieg ins Bedeutungslose, in eine Trivialität, in Nebel und Verschleierung. Das Verdienst von Gerster aber ist es, zumindest diese Szene festgehalten zu haben, aus welchen belanglosen Motiven auch immer. Vielleicht hat sie unterbewusst doch etwas davon gespürt, wie wesentlich dieser eine, kleine Moment war. Als Realbild für etwas, was sie dann doch nicht müde wird zu verschleiern – vor sich selbst und vor den Lesern. Aber immerhin hat sie den Moment bewahrt, in dem das Mädchen stürzte... Umgestoßen von anderen, die keine Zeit hatten, auf so ein Mädchen zu achten...

,Zurück bleibt das Mädchen mit der Nummer 960. Schluchzend am Boden mit blutigem Knie.’ Hier ist die Wirklichkeit! Während die anderen weiterhasten, Blick auf den Vordermann, um nicht selbst zu stolpern, keuchenden Atem vor, neben und hinter sich, wurde es für ein Mädchen verhindert, dass es mitlaufen kann, überhaupt nur das. Es wurde umgestoßen. Und das ist die Wirklichkeit. Schluchzend am Boden... Das Knie blutig... Allein schon deshalb schluchzend, vor Schmerz... Aber auch, weil der Schock tief sitzt. Die Rücksichtslosigkeit. Eine Welt von ,Großen’, von denen ein Einziger reicht, um einen umzustoßen – aber alle Anderen sind auch weitergelaufen. Und das Mädchen hatte sich so auf diesen Tag gefreut, darauf hingefiebert... Schluchzend am Boden...

Wer hier keine Empfindungen haben kann, der hat seine Seele restlos verkauft – ob er es weiß oder nicht. Wer aber noch solche haben kann, wahrhaft haben, der sollte auch den Mut haben, zu erkennen, wie ungeheuerlich diese Szene zugleich ein Wahrbild des Kapitalismus ist. Und wie gerade dies, nämlich die tägliche Realität des Kapitalismus, verhindert, dass man noch Gefühle haben kann. Denn passiert uns nicht in diesem Kapitalismus oft viel Heftigeres als diesem albernen Mädchen? Teile und herrsche...

Der Kapitalismus wird überall da – aber auch nur da – herausgefordert, wo die Menschen das Verbindende wiederfinden. Wo sie sich wieder selbst organisieren – gegen die Logik des Kapitalismus und gegen seine Strukturen. Das schluchzende Mädchen aber kann einen dafür aufwachen lassen, wie sehr der Kapitalismus ein absoluter Irrtum war – von Anfang an.

,Durch tränenverhangene Wimpern...’

Und nur wenn man bei dem Mädchen verweilt, begreift man die ganze, unendliche Schönheit einer Mädchenseele... Die Journalistin kann die Szene nur festhalten. Begreifen tut sie selbst sicherlich nahezu nichts. Aber sie hat es festgehalten, und das ist berührend genug.

Umgestoßen. Schon so lange auf diesen Tag gefreut. Jetzt umgestoßen. Innerhalb von Sekundenbruchteilen das Knie blutig. Schmerzen. Schluchzend... Die anderen laufen einfach weiter – auch der, der einen umgestoßen hat. Die Mutter schimpft auf die Großen. Das Knie tut so weh... Aber das Schlimmste ist nicht das. Das Schlimmste ist alles zusammen. Das traumatisierende Erlebnis des Umgestoßenwerdens, der Rücksichtslosigkeit. Das ist es, was die Tränen hervortreibt, das Schluchzen...

Und dann wird der erste Schock irgendwie verarbeitet, wird auch das brennende Knie irgendwie akzeptiert. Und dann kommen diese Worte: ,Durch tränenverhangene Wimpern lugt das Mädchen zu den Pokalen. Sie funkeln in der Sonne, als sei nichts geschehen.’

Ich frage mich, wie viele Menschen diese Sätze wirklich begreifen. Das Mädchen hätte diese Pokale sowieso nicht erhalten. Es kann allenfalls von ihnen träumen. Die Seele eines Mädchens ist sowieso noch sehr träumend-idealisierend. Es geht gar nicht um die Pokale. Es geht um ihr Funkeln, um die Schönheit dieser Pokale. Und darum, wie schön, wie unendlich schön es gewesen wäre, wenn man hätte mitlaufen dürfen...

Für ein Mädchen geht es um das große Ganze. Um die Harmonie dessen. Die Pokale funkeln in der Sonne, als sei nichts geschehen. Das tut die Sonne selbst auch – sie scheint weiter, als sei nichts geschehen. Aber darum geht es nicht. Das ist für das Mädchen völlig in Ordnung. Die wunderschönen Pokale sind für das Mädchen in diesem Moment gleichzeitig ein Trost. Sie hätte sie nie bekommen. Aber noch jetzt am Boden bewundert sie sie, ihre Schönheit. Lebt in ihrer Seele die Sehnsucht, auch einmal etwas so Schönes zu bekommen... Einen Preis... Weil man irgendwo einmal die Beste war. Nicht weil man das sein will – aber weil die (herrschende) Logik so funktioniert. Nur, weil die Pokale so schön sind...

,Sie funkeln in der Sonne...’

Die Pokale, die in diesem Moment in der Sonne funkeln, als sei nichts geschehen, sind der Trost des Mädchens. Sie geben der ganzen Szene einen tiefen Frieden, die sie in sonst keiner Weise hat. Nur die Pokale und das Mädchen... Denn das Mädchen funkelt genauso. Nur sieht es niemand. Wie es durch tränenverhangene Wimpern zu den Pokalen lugt – nicht aus Ehrgeiz, sondern aus träumender Sehnsucht –, das hat eine Schönheit, eine Unschuld, die in keiner anderen Seele mehr zu finden ist. Das Mädchen braucht überhaupt keinen Pokal. Es ist wie der schönste Pokal – genau wie jenes Mädchen aus dem Märchen ,Die Sterntaler’.

Und würde es den anderen Menschenseelen so gehen wie diesem Mädchen – dass sie selbst so überhaupt keine Ellbogen besitzen... Dass sie umstürzen, umgestürzt werden, aber selbst dann niemandem böse sein können... Dass man schluchzen kann, ohne zu verhärten... Dass man selbst nach dieser tiefsten Demütigung und Nicht-Beachtung schluchzend am Boden knien kann, mit aufgeschürften Knien ... und dann doch mit einem reinen Herzen nach den Pokalen sehen kann, einfach nur, weil sie so schön sind... Würden das auch die anderen Seelen können, nicht allein dieses eine einzige Mädchen ... der Kapitalismus wäre überwunden. Es würde etwas völlig Anderes an seine Stelle treten...

Diese winzige Szene offenbart eine ganze Welt. Man kann sich einmal daran erinnern, dass Mädchen ohnehin auch das lieben, was man ,Glitzer’ nennt. Allzu schnell wird dies abgetan – aber man begreift es ja im Grunde überhaupt nicht. Oder zieht sogar völlig falsche Schlüsse. Lieben nicht sogar Elstern das Glitzernde? Und ist es nicht der Inbegriff des Illusionären? Aber das ist nicht der Kern der Sache. In Wirklichkeit ist alles Glitzernde das ewige Versprechen, dass eines Tages das Licht das Wichtigere sein wird. Im Moment ist es nur Verheißung – so wie die Pokale, die so unendlich schön in der Sonne funkeln... Eines Tages aber wird es Realität sein.

Und das ist nicht der naive Traum an die Verwandlung in eine Märchenprinzessin – es ist das geheime Wesen der menschlichen Seele überhaupt. Die Seele könnte diese sichere Ahnung überhaupt nicht haben, wenn sie ihr nicht eingeschrieben wäre. Und wenn nicht etwas in ihr so schön wäre wie die in der Sonne funkelnden Pokale, ja wie die Sonne selbst, die die Pokale und anderes überhaupt erst funkeln lässt. In der Seele eines Mädchens aber ist fast alles so schön...

Und das – das ist der Beweis, dass der Kapitalismus nicht alternativlos ist. Wenn es eines Beweises je bedurft hätte. Denn jeder weiß im Innersten, dass das Mädchen die Wahrheit ist, der Kapitalismus aber eine Lüge.