23.01.2023

Die Zukunft des Mädchens

Ein modernes Märchen.


Das Mädchen war auf einer Wanderung. Es wusste nicht das Ziel, aber es wusste den Weg – denn sein Herz sagte ihm immer wieder, dass es auf dem richtigen Weg war.

Wo immer es konnte, mied es die großen Orte, jene, in denen Menschen lebten, deren Augen entweder leer waren oder gemein. Vor der Leere erschauderte sie wie vor etwas Unergründlichem, und das Gemeine scheute und floh sie, wo immer es ging.

Es gab dort auch andere Menschen, aber alle hatten immer wieder diese Dinger vor Augen – diese Geräte. Wie hypnotisiert waren sie – und mussten sie alle paar Minuten wieder hervorholen und sie anstarren oder etwas damit machen. Wie wenn die böse Macht sie erfunden hätte, damit die Menschen einander noch weniger in die Augen sahen – und wenn sie es taten, noch gleichgültiger.

Und dann war es dieses Laute. Dieses Laute und Hektische, das sie geradezu vertrieb. Sie konnte nicht verstehen, wie es Menschen gab, die freiwillig darin leben konnten. Sie fühlte sich immer, als sollte ihre Seele in tausend Teile zerrissen werden. Wie konnte man dies aushalten?

Stets suchte sie also Herberge in kleinen Dörfern – und stets suchte sie hier die freundlichen Augen. Die gütigen, die stillen. Und so schlief sie meist bei den ältesten Dorfbewohnern, die sie freundlich aufnahmen. Manchmal waren auch die jüngeren friedvoll, so dass sie Vertrauen fasste.

Doch das Schreckliche hatte auch hier schon begonnen. Nicht nur, dass sehr viele Jüngere wegzogen, in die Richtung des Lauten – viel schlimmer war, dass auch in einzelnen Dörfern schon einige von ihnen diese Geräte hatten. Sie erlebte die Gier... Wenn jemand so ein Ding hatte, wurde er gierig danach... Er konnte nicht mehr aufhören, es anzustarren. Und er wurde auch gierig nach anderem. Was ihn bisher zufrieden gemacht hatte, tat dies nicht mehr.

                                                                                                                                           *

Sie war mit allem zufrieden. Wenn sie an einem Abend keine Unterkunft fand, legte sie sich für die Nacht nieder, wo sie war. Sie besaß eine Decke, und wenn sie spürte, dass Regen nahte, fand sie immer einen Überhang, der sie schützend barg. Angst hatte sie keine. Vor was auch? Vor Wölfen, die es vereinzelt noch gab? Sie hatte nie erlebt, dass Wölfe Menschen angriffen. Sie vertraute der Kreatur. Wölfe waren edle Tiere – ganz anders als die Hunde in den Städten, die oft jeden ankläfften, ohne allen Grund, einfach nur aus dem Hochmut, ihrerseits einen großen Besitzer zu haben...

Ja, ihre Decke war nicht warm, wenn es Herbst wurde. Und im Winter nahm sie jede Herberge, die sie kriegen konnte. Aber sie brauchte keine Wärme. Sie hatte gelernt zu zittern. Es machte ihr nichts aus. Wenn es so war, dann war es so. Sie fühlte sich noch immer geborgen – denn jeder Morgen brachte einen neuen Sonnenaufgang. Und in der Kälte zitterten auch andere Wesen. Einmal hatte sich eine Maus unter ihre Decke geflüchtet. Einfach so... Am Morgen war sie wieder weg gewesen. Dennoch hatte sie noch den ganzen Tag voller Liebe an diese Maus gedacht.

Die Welt war so reich! Ob es die Blumen am Feldrand waren oder die tauglitzernden Netze der Spinnen am Morgen ... oder die Pfotenspuren eines Fuches auf einem sandigen Weg ... und das alles waren nur Beispiele! Die frische Luft eines neuen Tages, einfach die Luft... Einfach nur das Sein-Dürfen inmitten all dieses anderen. In der Natur war sie in jedem Moment erfüllt von Glück, denn sie fühlte sich umgeben von Schönheit und von dem Wunder.

Unter den Menschen kamen dem tatsächlich nur die Augen und die ganze Seele sehr alter, weiser Frauen nahe. Auch sie kannten das Leben. Wenn eine solche gütige, alte Frau einen mit ihrer Wärme umgab, war das ein bisschen so, wie wenn die Sonne einen umgab, wenn sie aufging, ihre Wärme entfaltete, ihr warmes Licht einen einhüllte und bis ins Innerste durchdrang, mit heiligem Leben...

Und eine gütige, alte Frau konnte zuhören... Sie konnte einen verstehen... Konnte einen verstehen, wenn man von all den Wundern sprach, vorsichtig, zuerst zögernd, dann immer vertrauensvoller. Und wie wunderbar war es, wenn einmal jemand so zuhören konnte! Und sie sich nicht so allein fühlte ... sondern glauben durfte, dass eine andere Seele, wenigstens eine, all diese Wunder auch irgendwie kannte...

Und von ihren Sorgen konnte sie dann auch erzählen – wenn sie gefragt wurde. Hier war sie auch allein. Nie jedoch in der Natur. Denn die Natur konnte auch zuhören! So, wie das große Wunder sie umgab, so nahm es auch stets ihre Sorgen auf. Nie, nie fühlte sie sich in der Natur allein – im Gegenteil, es war, wie wenn jeder Grashalm ihre Sorgen aufnahm, sie musste sie nicht einmal aussprechen, einfach nur in ihrer Seele tragen. Die Natur war ihre große Liebe und ihr großer Trost. Immer. Sie fühlte sich geborgen, verstanden, geliebt – alles gleichzeitig...

Auch bei einem Wolkenbruch, der sie bis auf die Haut durchnässte, weil sie nicht rechtzeitig völligen Schutz fand? Auch dann empfand sie sich bedingungslos als einen Teil des wunderbaren Ganzen – selbst, wenn sie zitterte, selbst wenn ihr die Tropfen vom Gesicht liefen, die Kleider ihr kalt am Leib klebten. Sie fühlte sich nicht ausgestoßen ... denn wie sollten die Wolken auf sie Rücksicht nehmen? Sie hätte selbst besser aufpassen müssen und rechtzeitig Schutz suchen. Zitternd wünschte sie sich dann manchmal, ein Vogel zu sein ... oder ein Fisch ... oder einfach nur ein Grashalm. Aber dann wiederum fand sie selbst einen solchen Wunsch vermessen. Wie undankbar, wie vermessen konnte man sein! Ein Grashalm sein zu wollen, nur weil man einmal fror!

                                                                                                                                           *

Jetzt ging sie an einem Feld entlang, dessen Rand übersät war mit Mohn und Kornblumen. Diese waren ihre Lieblingsblumen. Alles in der Natur war vollkommen. Aber sie kannte nichts inmitten dieser ganzen Schönheit zumindest der Blumen, was so vollkommen war. So wunderschön. So zart und wundervoll strahlig-fransig ... und dann so blau ... so unendlich blau! Ganz anders als die schon violette Iris im Sumpf, ganz anders als der giftige Eisenhut in den Bergen ... so blau wie der Himmel, wenn er sich dunkel in einem See spiegelt. So blau, dass man eine Sehnsucht fühlte ... nach etwas unendlich Vollkommenem. So geheimnisvoll blau wie ihr Name, mit dem eine alte Frau sie einmal genannt hatte: Zyane...

Das Geheimnis war noch so etwas. Diese ganze Welt war nicht nur voller Wunder, sie war auch voller Geheimnisse! Das eine gehörte zum anderen und war doch nicht dasselbe. Sie wusste zum Beispiel nicht, woher der Wind kam. Der Wind war ein Wunder – auch wenn sie gewusst hätte, woher er kam. Aber dieses Woher ... das war eines dieser unendlich vielen Geheimnisse... Und machten sie die Welt nicht noch viel wunderschöner...?

Sie wusste nicht, wohin die Gänse im Herbst flogen. Vermutlich gab es kluge Männer, die es wussten. Aber würde es ihnen etwas nützen? Vielleicht wussten es auch die weisen Frauen. Aber das war dann ein anderes Wissen ... es hob das Geheimnis nicht auf, sondern gliederte es sanft in das Wunder ein ... das es auch nicht aufhob. Sie war vielen klugen Männern begegnet – aber das Wunder hatte sie bei keinem von diesen gefunden. Sie hatten zwar Klugheit, aber das Wunder hatten sie verloren...

Sie erinnerte sich an das Gespräch mit einer dieser alten Frauen. Diese Geräte saugen die Dankbarkeit aus der Seele, hatte sie gesagt. Und setzen an ihre Stelle das Gegenteil. Unzufriedenheit und Begehren. Das geschehe in vielen Seelen auch so. Die Geräte aber würden es ungeheuer verstärken. Es sei wie schwarze Magie. Und alles, was die Frau gesagt hatte, hatte sie auch selbst erlebt.

Einmal war ihr ein nettes Mädchen mit diesem Gerät begegnet. Etwas älter als sie. Freundlich waren ihre Augen gewesen, liebevoll ihr Herz. Dennoch wollte sie ihr Dorf verlassen – und erzählte von der Stadt wie von einem Paradies... Sie hatte ihr hilflos zugehört. Wie eine Schlinge war es gewesen, die sich um ihren Hals legte, denn sie mochte dieses Mädchen so sehr! Aber als sie von der Natur sprach, hatte das Mädchen den Kopf geschüttelt – und sie fast mitleidig angesehen. Die Stadt... Das Mädchen wollte in die Stadt. Wie würde sie dort überleben können? Und so bleiben? Schon damals war ihr Blick doch etwas unruhig gewesen... Diese Geräte saugten so viel aus der Seele...! Und ihr Herz trauerte, als sie so an das Mädchen dachte.

Wie konnte man von der Natur so gar nichts wissen wollen? Sich in das Laute sehnen? Eine Abneigung haben gegen Arbeit und Anstrengung? Man verlor beides ... die Zufriedenheit und das Glück. Oder wurde man etwas glücklich in dem Lauten? Glücklich, indem man sich von allem trennte, von der ganzen Schönheit? Glücklich in dem Lauten? Es erschien ihr unvorstellbar...

                                                                                                                                           *

Als die Sonne langsam unterzugehen begann, fand sie eine schöne Stelle für ihr Nachtlager. Eine mächtige Kiefer breitete ihre jahrzehntealten Äste aus, die Nadeln des Vorjahres waren weich, und der Blick auf die friedvoll sinkende Sonne war so wunderschön...

In einer tiefen Dankbarkeit saß sie da, geradezu liebevoll an den Stamm jenes Baumes gelehnt, den sie unmittelbar wie einen unendlich viel älteren Bruder empfand, behütend, stark ... und aufrichtig mit allem verbunden, genau wie sie... Sie blickte zur Sonne, die allem das Leben schenkte. Und in der Ferne zogen einige Vögel am Himmel entlang. Und ein unnennbares Glücksgefühl erfüllte sie ganz. In solchen Augenblicken meinte sie immer, ihr Herz müsse zerspringen...

Auf einmal aber, ohne Vorwarnung, war die böse Macht bei ihr, schrecklich und furchtbar, alles Leben schien vor ihr zu fliehen, ja, der Licht selbst verfinsterte sich wie bei einer Sonnenfinsternis, die Vögel verstummten, der leise Wind hörte auf zu wehen...

„Was für ein Ziel hast du?“
„Ich – –“, stammelte das Mädchen, hilflos vor Angst.
„Schau dich doch an!“, donnerte der Finstere. „Du bist ein Nichts!
Und das Mädchen fiel in eine tiefe Ohnmacht...

                                                                                                                                           *

Als sie wieder erwachte, war es tiefe Nacht. Sanft breitete die Finsternis ihre bergenden Fittiche um sie – jene Finsternis, die sie nie gefürchtet hatte. Die Sterne blinkten am Himmel und leuchteten Geborgenheit. Alles war so still, so heilig... Irgendwo sang leise eine kleine Grille...

Als sie an jenes Wesen dachte, wollte sich ihr Herz von neuem in Angst zusammenziehen. Aber in ihrer Ohnmacht hatte sie etwas erlebt. Und liebevoll schalt sie ihr eigenes Herz aus ... und da weitete es sich wieder. Sie blickte noch eine Weile zu den Sternen über sich auf, sah auch die mächtigen Äste des großen Bruders ... und dann schloss sie tief dankbar ihre Augen und schlief friedlich wieder ein...

                                                                                                                                           *

Am nächsten Morgen schien dem Mädchen die Natur wie nach einem Regenschauer, so klar, so leuchtend, so jung und aufrichtig wie am ersten Tag der Schöpfung. Geradezu erquickt stand sie auf und setzte ihren Weg fort...

Ihr war es, als verstand sie mehr denn je die Stimmen der Vögel, die leisen Gesten der Blumen, ja sogar die stumme Sprache der Steine. Irgendwann hüpfte ein Eichhörnchen federleicht über den Weg, und als sie sogleich stehenblieb, um es nicht zu erschrecken, verharrte auch das Tierchen und blickte sie an, fast wie erstaunt, eine ganze Weile ... bevor es im Unterholz verschwand. Das hatte sie noch nie erlebt.

Die Welt offenbarte sich. In jedem Moment. Es war eine Überfülle von Wundern – in jedem einzelnen Augenblick. Man brauchte nur ein Herz, um es zu begreifen. Fassen konnte man es nicht – es war viel zu viel. Aber man konnte sich buchstäblich fassungslos durchströmen lassen von dem Wunder. Begnaden lassen von der strömenden, lebendigen Schönheit, beschenken lassen, denn etwas anderes konnte man nicht tun – man wurde in jedem Moment beschenkt, so sehr...

Ein kräftiger Bauer, der nie lächelte, hatte ihr einmal gesagt: Sie habe gut reden, sie tue ja nichts, gehe nur ins Nirgendwo. Sie war dann stumm weitergegangen, traurig, einsam. Sie hatte ihm nicht sagen können, dass auch sie manchmal ganze Tage für ein Nachtlager und eine Mahlzeit arbeitete – und dass all dies, selbst harte Arbeit, nichts von ihrem Erleben wegnahm. Wie es ja auch die übrigen Entbehrungen nicht taten. Aber wie hätte sie ihm dies erklären können?

Sie hatte gesehen, dass das Leben ihn hart gemacht hatte. Aber war es nicht dasselbe Leben, das in allen Wesen war? Nie war es das Leben, das verhärtete – immer war es das eigene Herz, das sich verhärtete. Und dann sah es immer weniger. Immer und immer weniger. Sie aber hatte immer mehr gesehen...

Wer sich nicht freute, wenn die Arbeit eines schweren Tages getan war ... wer aber nicht auch die schwerste Arbeit gern tat, weil sie nötig war, der verriet seine Seele ... und den großen Zusammenhang von allem gleichermaßen. Was konnte das Leben dafür, dass es brachte, was es bringen musste? Es brachte, gab und schenkte doch gleichzeitig so viel, so viel! Man musste es doch nur sehen...!

An diesem Tag hatte sie noch zwei sehr besondere Erlebnisse. Eine Ringelnatter schlängelte sich vor ihr über den Weg und blieb dann ebenfalls liegen, bis sie nahe herangekommen war. Erst als sie sich sanft niederhockte, um das Tier vorsichtig zu streicheln, schlängelte es unter ihrer Berührung leise fort... Und dann zum Abend hin, als ihr Herz sich wieder etwas zusammenziehen wollte, flog ein Rotkehlchen ganz nah an ihrem Kopf vorbei, streifte sogar fast ihre Haare... Und wieder hatte sie keine Angst mehr.

                                                                                                                                           *

In der gestrigen Nacht hatte ihr ein Mädchen beigestanden. In ihrer Ohnmacht war es ihr erschienen. In leuchtender Gestalt, umgeben von anderen Wesen, aber sie hatte nur dieses Mädchen deutlich gesehen – unendlich hoch, ein göttliches Mädchen, und zugleich so nah, so liebevoll, so sanft, so stärkend, noch viel mehr als die Kiefer...! Fast glaubte sie, dieses Mädchen sei die Seele von allem... Vielleicht war sie es. Sie wusste die ganze Zukunft...

Der Sonnenuntergang war wieder unbeschreiblich. Ihre Seele war ganz Hingabe. Und wenn sie an diesem Abend sterben müsste, sie hatte keine Angst. Sie wusste jetzt absolut sicher, dass der Tod nur ein Übergang war, nichts weiter...

„Du bist ein Nichts!“

Der Finstere erschütterte ihre ganze Seele. Einen furchtbaren Augenblick lang krümmte sie sich zusammen wie vor einem schrecklichen Erdbeben, dem man wider besseres Wissen noch zu entrinnen hoffte. Aber als das Entrinnen nicht mehr möglich war, verlor sie nicht das Bewusstsein, wie gestern, sondern blickte dem Finsteren mit allem Mut, den sie in ihrer Seele finden konnte, in dessen finstere Seele...

„Ich bin Etwas...“, wagte sie, sanft und fast lieblich zu widersprechen.
„Etwas!“, höhnte der Finstere. „Was für ein Etwas soll das sein?“
„In mir ist das Leben...“
„Soll ich es dir nehmen, du Wurm?“
„In mir ist die Liebe. Sie kannst du nicht nehmen.“
„Was nützt dir das, wenn ich dir das Leben nehme?“
„Was nützt dir deine Finsternis...?“
Die Gestalt schien gleichsam höhnisch zu lachen.
„Sie nimmt jeden Tag zu!“
„Meine Liebe auch...“
„Deine Liebe?“, höhnte jener. „Was soll das sein?“
„Was du nicht verstehst.“
„Du bist ein absolutes Nichts! Sieh dich doch um.“
„Ich sehe Schönheit.“
„Die ohne dich genau das Gleiche wäre. Du bedeutest nicht das Geringste!“
„Die Tiere vertrauen mir.“
„Die Tiere!“, spottete der Furchtbare. „Sie sterben eins nach dem anderen – und du ergötzt dich an ihrem Vertrauen!“
„Du siehst nur, was du selbst bist.“

„Du bist Nichts!“, donnerte die Gestalt. „Wohin bist du schon auf dem Weg? Nirgendwohin!“
„Doch.“
„Wohin dann?!“
„In die Zukunft...“
„In die Zukunft!“, höhnte der Finstere. „Ich meinte, in die Vergangenheit!“
„Du kennst die Zukunft nicht.“
„Es gibt nur meine Zukunft!“, donnerte jenes Wesen. „Alle sind auf dem Weg zu mir.“
„Ich nicht...“
„Deshalb bist du ein Nichts! Du wirst einsamer und einsamer werden.“
„Das ist nicht wahr. Jene, die dir folgen, werden einsamer und einsamer.“
„Sie vergnügen sich – mit allem, was ich ihnen gebe! Niemand ist einsam.“
„In deiner Nähe ist jeder einsam.“
„Du bist die Einsamste überhaupt. Schau dich doch an! Jeder meidet dich, belächelt dich, bemitleidet dich!“
„Ich brauche das Mitleid nicht.“
„Verkriech dich ruhig in deiner elenden Einsamkeit! Alle anderen brauchen dich auch nicht.“

„Ich bewahre die Zukunft in meinem Herzen.“
Die Gestalt ließ ein furchtbares Gelächter fühlen.
„Welche Zukunft? Die von dir erträumte?“
„Die Zukunft aller.“
Das Gelächter wollte nicht aufhören.
„Wer hat dir dieses Märchen erzählt?“
„Du weißt es. Es war das Mädchen. Sie weiß alles.“
„Das Mädchen! Es gibt kein Mädchen! Du träumst deine eigenen Träume!“
„Eigene Träume können einen nicht retten. Sie hat mich gerettet.“
„Schweig!“, donnerte die Gestalt.
Das Mädchen schwieg.
„Auch sie träumt nur ihre eigenen Träume! Es gibt nur eine Zukunft – meine.“
„Deine Zukunft endet, wenn die Menschen weit genug in die Irre gegangen sind.“
Furchtbares Gelächter...
„Welche Irre? Du gehst in die Irre – und redest, wie du gehst.“

„Ich gehe in die wahre Zukunft.“
Gelächter.
„Du bist ein Nichts! Du bist ein Relikt! Bald werden die Menschen dich nicht einmal mehr bemitleiden. Sie werden dich vergessen.“
„Irgendwann werden sie sich wieder an ihr eigenes Herz erinnern.“
„Welches Herz, du Träumerin? Ihr Herz hängt an allem, was ich ihnen gebe! Es weiß längst, was es will – es muss sich an nichts erinnern.“
„Jetzt träumen die Herzen das, was du ihnen gibst. Aber einst werden sie erwachen, denn du gibst Steine statt Brot...“
Furchtbares Gelächter.
„Sie werden nie erwachen. Immer mehr werden sie mir gehören. Wie der Bauer...“
„Auch er gehört dir nicht. Nicht einmal in diesem Leben. Du hast Macht über ihn – aber er gehört dir nicht...“
„Wem dann?!“, donnerte der Furchtbare.
„In ihm ist das Leben – genau wie in mir. Er kann noch heute umkehren...“
„Umkehren!“, höhnte es. „Um dir in die lächerliche Einsamkeit zu folgen?“
„Die Zukunft ist nicht lächerlich.“
„Welche Zukunft?!“, brüllte der Finstere wie ein schrecklicher Orkan.
„Es ist nicht deine. Aber du kannst auch umkehren...“

Das Gelächter riss sie fast um...
„So, wie der Bauer wird auch niemand anders je umkehren! Träum deinen süßen Traum...“
„Irgendwann werden die elenden Träume enden, und die Herzen werden wieder das Leben suchen.“
„Sie suchen das Leben, du Törin! Nichts ist so lebendig wie die Stadt!
„Nichts ist so laut – und selbst die Tiere fliehen sie.“
„Ja, weil deine armseligen Tiere schwach sind! Die Stadt ist nur etwas für Starke!“
„Sie saugt einem die Seele aus und zerstreut sie in alle Winde.“
Gelächter...
„Du bist nicht für die Zukunft geschaffen – du bist ein Nichts! Gib es auf.“
„Die Zukunft ist Liebe.“
„Liebe ist ein Märchen, du träumender Wurm! Die Zukunft ist langes Leben! Genuss! Annehmlichkeiten jeglicher Art! Das ist die Zukunft! Ein Schlaraffenland, das sie alle mir verdanken werden – alle!“
„All dies lässt die Seele immer mehr hungern.“
„Sie hungern nur, bis sie es bekommen!“
„Es sind schön bemalte Steine.“
„Es ist die Welt, du Wurm! Und du bist ein Nichts und träumst von Luft und Liebe.“
„Die Liebe ist das Leben. Jeder sehnt sich danach – aber bei dir verliert man es.“

Das Gelächter schwoll so sehr an, dass es sie zu verschlucken schien – und hob sich in die Lüfte, bis es den ganzen Kosmos zu erfüllen schien.
Sie drohte das Bewusstsein zu verlieren, aber mit einem ungeheuerlichen Mut hielt sie stand...
„Mach, was du willst, du armseliger Wurm! Ich habe versucht, dich von deinen Illusionen zu retten. Niemand wird dir auch nur eine Träne nachweinen! Geh ruhig weiter in deine lächerliche Zukunft!“

                                                                                                                                           *

Und dann war es vorbei.

Die Vögel und alle Tiere schwiegen noch immer ängstlich, wagten sich erst nach und nach wieder aus ihrer Erstarrung. Aber die Sonne ging majestätisch unter wie immer – so unendlich wunderschön...

Und das Mädchen sah diese ganze, unendliche Schönheit ... und ihre Augen verschleierten sich, füllten sich mit Tränen. Sie wusste, dass ihr Weg in die Zukunft führte. Aber sie konnte auch die Menschen nicht alleine lassen. Allein mit diesem Wesen. Waren doch sie auch alles ihre Brüder und Schwestern. Sie musste an jenes eine Mädchen denken... An jenen Bauer... Und eine unsägliche Liebe füllte ihr Herz. Und während die Tränen von ihren Wangen rannen, legte sie ihre Decke zusammen und brach noch an diesem Abend auf, um umzukehren ... neue Wege zu finden... Wege, all ihre Brüder und Schwestern mitzunehmen... Mitzunehmen in das Leben... In die Zukunft...

Tränen strömten über ihr ganzes Gesicht, und sie begann zu laufen ... immer schneller, jeder Schritt lauter Liebe...