24.01.2023

Mädchenschmerz

Das Leid des verlassenen Mädchens.


Inhalt
Die Erzählung: Mädchenschmerz
Tiefe Erkenntnis der Gefahren
Widersprüche
Repräsentativ?
Das heilige Mysterium der Begegnung

► Das Folgende ist eine Erzählung, die ich von einem ungenannt bleiben wollendem Verfasser bekam, der bisweilen meine Webseite besucht und mit dieser Erzählung darauf reagiert hat. Er stellte es mir frei, sie zu veröffentlichen und darauf zu antworten, was ich hiermit beides zu.


Die Erzählung: Mädchenschmerz

Alles Gute zum achtzehnten Geburtstag!

Danke.

Wie geht es dir?

Geht so.

Du siehst traurig aus.

Ja, Sie können sich doch denken, warum.

Du sagtest einmal, dass du dich, indem du älter wirst, von ihm entfernen würdest.

Ja.

Und dass du damit nicht klarkommst und du daher den Drang hast, dich zu verletzen.

Ja ... nein, so ist es nicht ganz, das hatte ich ihnen doch schon gesagt. Ich hasse meinen Körper. Dass meine Brüste so ekelhaft groß geworden sind und mein Becken in die Breite gegangen ist.

Ja, das passiert eigentlich allen jungen Mädchen, wenn sie älter werden. Ich hatte dir in unserer vorigen Sitzung gesagt, dass du eine sehr starke und schöne junge Frau bist, Tamara.

Das interessiert mich nicht, das sind Oberflächlichkeiten.

Hat er dir das gesagt?

Ja ... nein, das weiß ich nicht mehr, ist ja auch egal, oder? Es kommt doch auf seelische und zärtliche Begegnungen zwischen Menschen an, oder? Nicht ob ich irgendeiner gesellschaftlichen Norm von „schön“ oder attraktiv entspreche.

Das stimmt, da liegst du ganz richtig, das sehe ich auch so wie du. – Ich sehe, dass du dich weiter in die Arme geschnitten hast. Du hattest gesagt, dass du dir auch in die Brüste schneiden würdest, machst du das noch?

Ich habe es ein, zweimal gemacht, nicht öfter. Das ist meine Sache, finde ich. Ich hasse meinen Körper.

Weil er dich und deinen Körper irgendwann nicht mehr zärtlich berührt hat? Weil er sich von dir ganz allmählich distanziert hat, als bei dir die fraulichen Formen sich entwickelt haben...? Du hattest darüber gesprochen.

Ja, ich weiß es ja selber nicht. Ich war Ende 13, als ich ihm im Park begegnete. Ich hatte es ihnen ja erzählt. Es war so wunderbar mit ihm, er hatte mich völlig verstanden und mich genau so angenommen, wie ich war.

Obwohl er damals 48 war...?

49. Na und. Es war eine wirkliche tiefe Begegnung mit einem anderen Menschen, es war nichts Sexuelles, sondern Zuneigung und seelische Berührung auf vielen Ebenen. Und sehr viele, unglaublich tiefsinnige Gespräche. Ich glaube, das kann niemand, auch Sie nicht, ansatzweise verstehen. Ich fühlte mich wirklich erkannt. Wir hatten auch ein paar mal körperliche Zärtlichkeiten, vorsichtige Berührungen, aber in einer Art Reinheit...Mir fehlen etwas die Worte.

Und du sagtest bereits, dass du dir sicher gewesen wärest, dass DU das alles wolltest.

Ja, natürlich wollte ich das, ich hätte es sonst doch nicht gemacht. Ich habe gar nicht lange überlegt, ob ich das wollte, mein Gefühl sagte: Ja.

Aber du meintest bei unserer letzten Sitzung, dass deine Gefühle in diesen Jahren eine Art Achterbahnfahrt durchgemacht haben und dein Wille und deine Entscheidungen ebenso häufig hin und her gesprungen sind ... oder?

Das sehe ich heute, dass da Unsicherheiten waren, auch in mir. Dass ich gesehen und bestätigt werden wollte. Das wusste ich, glaube ich, damals nicht. Ich war ja vor allem glücklich. Es war alles so neu und aufregend mit ihm. Aber heute weiß ich, ich war auch verwirrt. – Ich verstehe das alles nicht. Auch wie er irgendwann immer mehr unser Zusammensein in eine Art Widerstand hochstilisiert hat.

Wie meinst du das genau?

Er hat immer wieder erwähnt, dass die verklemmte Gesellschaft unsere Form von Freundschaft und Zusammensein verurteilt und ablehnt und dass das auch ein Grund ist, dass wir zusammen bleiben sollten... Ich habe es nicht genau verstanden, er hatte sich da irgendwie in etwas hineingesteigert.

Magst du noch einmal schildern, wie es zum Abschied gekommen ist?

Es fing alles ganz langsam, kaum merklich an. Es waren vielleicht wirklich meine Brüste, die bei mir in kurzer Zeit irgendwie groß wurden. Und mit 16 hatte ich mir ein Augenbrauen-Piercing machen lassen, da gab es ja schon etwas Ärger mit meinen Eltern, aber er hatte auch befremdlich geguckt. Als ob ich so nicht sein darf. Als ob ich immer „sein Mädchen“ bleiben musste.

Was du doch auch immer wolltest, oder?

Ja, natürlich, oder nein, vielleicht nicht so, ich wollte doch vor allem ich selbst sein dürfen. Mit meiner Freundin Philine auch einfach mal abquatschen die Nacht durch, shoppen gehen und Spotify hören und ablachen dürfen und so weiter. Das ist ja alles so ganz allmählich entstanden, dass ich immer mehr diese Dinge leben wollte. Aber ich war doch nicht auf einmal anders, er hat mir doch immer noch unglaublich viel bedeutet.

Dann warst du aber irgendwann nicht mehr nur „sein Mädchen“?

Ich weiß es nicht. Ich habe doch nichts Schlimmes gemacht, oder? Ich habe ihn ja wirklich geliebt und unser Zusammensein als heilige Momente erfahren dürfen, aber das andere alles war doch auch da.

Für ihn nicht?

Ich bin nicht sicher. Ich hatte irgendwann das Gefühl, ich muss immer so bleiben, wie bei unserer ersten Begegnung, den ersten darauffolgenden Wochen. Für ihn so bleiben. Mich nicht verändern dürfen. Ich war mir manchmal auch nicht ganz sicher, ob ich in seiner Gegenwart einfach mal albern sein durfte, einfach mit ihm lachen durfte. Als ob von ihm dann eine Anklage in seinen meist vorwurfsvoll-traurigen Augen liegt: Bist du jetzt auch beschmutzt, ein gewöhnlicher Teenager...

Wir haben einmal über Schneewittchen gesprochen, erinnerst du dich?

Ja

Was macht der Prinz, als er das Mädchen in ihrer Reinheit erblickt? In ihrem gläsernen Sarg? Er schenkt ihr durch seinen Kuss Lebendigkeit und befreit sie aus dem Sarg. Sie wird seine Frau, indem er sie heiratet. Damit endet das Märchen. Wir wissen nicht, wie die beiden später leben werden. Wahrscheinlich wird sie später auch wie eine Frau mit ihm ihr Leben gestalten, kann man annehmen, oder? Also als ein Gegenüber von Mann und Frau.

Er wollte, dass ich im gläsernen Sarg bleibe. Dass ich immer sein Mädchen bleibe.

Genau, er wollte verhindern, dass du dich entwickelst.

Er wollte, dass ich einem Bild entspreche, dass er sich gemacht hat, die reine, unschuldige Tamara...

Die es zweifellos gab und vielleicht auch immer noch gibt. Jetzt aber ergänzt durch zahllose Erfahrungen in der Begegnung mit der Welt. Durch deine Gedanken, die du dir machst. Wirkliche Liebe bedeutet, das Wesen des Anderen zu lieben, wie es sich zeigt in den verschiedenen Stationen des Lebens. Erst das Mädchen, dann die Frau, später kommen Flecken und Falten und ganze Welten von seelischem Durcheinander – das Mädchen ist aber in all dem späteren auch zu finden. Das Wesen des Mädchens. Es gibt Frauen, die ihre Kinder nur dann lieben können, wenn sie süße kleine Babys sind. Das spätere Kind-sein ihrer Kinder lehnen sie ab. Was meinst du, wie schwer es diese Kinder später haben.

Wie bei ihm ... so ähnlich, oder?

Ja, vielleicht sehr ähnlich. Ist es nicht interessant: Manche Frauen lieben das Baby zwei, drei Jahre, er liebt das Mädchen zwei, drei Jahre. Beide wollen nicht den ganzen Menschen. Es ist eine Art seelischer Mißbrauch. Nicht sexuell, aber es gibt viele Formen des Mißbrauches. Eher emotionaler Mißbrauch. Wie hat er sich von dir getrennt?

Ich weiß es nicht mehr, da ist so viel Traurigkeit und Schmerz.

Du hattest es schon einmal angedeutet.

Ja, ich weiß. Er war irgendwann immer zurückhaltender und hat manchmal, so scheint es mir, meine körperlichen Veränderungen etwas traurig beobachtet, oder so. Es war eine Art Schweigen zwischen uns. Dann wurden die Abstände immer länger. Es gab eine Andeutung von ihm, ein Versuch eines klärenden Gespräches, es fiel ihm aber schwer, wir haben beide geweint. Er sagte, dass er in der nächsten Zeit wieder vermehrt arbeiten müsse und dass er hoffe, dass ich das, was wir beide erlebt haben in den letzten zweieinhalb Jahren als Schatz oder Geschenk in meinem Herzen weitertragen könnte, oder so.

Wie war das für dich?

Schrecklich. Ich spürte, dass er eine Ausrede sucht, um mich irgendwie so loszuwerden, dass vor allem sein Gewissen nicht leidet. Ich weiß es einfach nicht, ich liebe ihn doch noch immer. Er ist doch kein schlechter Mensch, oder?

Nein, das ist er nicht. Magst du noch einmal erzählen, von den zwei Begegnungen, die es noch gab?

Ich weiß nicht, es tut einfach nur weh, vielleicht ist es auch würdelos. Ich bin ihm dann, etwa letztes Jahr, noch einmal begegnet im Supermarkt, bei Edeka. Ich sah ihn von weiten und habe im selben Augenblick am ganzen Körper gezittert, war total glücklich und aufgeregt und was weiß ich noch alles. Auch angespannt. Alles durcheinander. Ich bin nicht sicher, ob er mich gesehen hatte, ich glaube aber ja. Er hat sich dann schnell zur Kasse hin bewegt und sich nicht mehr umgedreht.

Und danach hast du angefangen dich zu schneiden? Und dein Essen verweigert?

Ja, das war dann ungefähr diese Zeit, nein, halt, es gab noch die zweite Begegnung.

Die im Park.

Ja. Ich sah ihn, wie er auf derselben Bank, wo er mich vor viereinhalb Jahren angesprochen hat, neben einem anderen etwa 12-, 13-jährigen Mädchen saß und mit ihr sprach. Da habe ich eine unglaubliche Ohnmacht erlebt und mich an dem Abend tief geschnitten. Ich konnte mich dadurch etwas mehr spüren, ich hatte die Kontrolle wieder.

Wie war diese Begegnung für dich?

Ganz schlimm, ich verstehe es nicht. Ich hasse mich und ich hasse ihn. Nein, ich liebe ihn eigentlich. Bin ich nicht mehr „sein Mädchen“? Weil ich etwas älter geworden bin? Was kann ich dafür? Was ist das für ein anderes Mädchen gewesen, macht er das Gleiche mit ihr... zwei, drei Jahre lang...? Sieht er nicht, wie er mich zutiefst verletzt hat? Er hatte doch soviel Zärtlichkeit und Liebe in seinem ganzen Wesen... Warum kann ich ihn nicht mehr lieben? Was ist falsch mit mir?

Mit dir ist nichts falsch, Tamara. Du hattest eine beeindruckende und dich prägende Freundschaft mit einem sehr viel älteren Mann. Ihr wart beide damit überfordert. Es ist, wie gesagt, eine Form von Missbrauch.

Es war doch aber nichts Sexuelles dabei, oder wenn nur ganz ansatzweise.

Ja, das sagtest du, das ist hier eine Art Grauzone, auch im rechtlichen Sinne, im moralisch-menschlichen sowieso.

Warum, das verstehe ich nicht.

Weil es völlig normal ist, wenn Menschen sich aus irgendeinem Grunde trennen, auch weil es körperliche Veränderungen gibt. Das wirst du bei deinen Klassenkameradinnen sicher viel erleben, oder?

Ja, das bekomme ich mit.

Es ist aber etwas anderes, wenn die eine Person eben Ende vierzig ist und auch über, wie du sagtest, eine hohe Bildung verfügt. Du sagtest einmal, er wäre philosophisch bewandert und gab dir auch einmal Novalis zu lesen.

Ja, genau.

Deswegen hat er seine Taten, seine Handlungen, seine Beziehungen mit anderen Menschen auch anders zu verantworten. Nicht so wie die Jungs in deiner Klasse. Wenn er eine intensive Beziehung zu einem Mädchen eingeht, diese dann verlässt und sie sich daraufhin, wie du, selbst verletzt, ist das auch ein wenig seine Schuld. Auch wenn ich diesen kirchlichen Begriff nicht sehr mag. Es ist seine Verantwortung.

Was würden Sie ihm denn raten?

Dass er irgendwann anfängt, das, was er in seinem tiefsten Inneren sucht, das Wesen der Reinheit, der Unschuld, der Zärtlichkeit, in sich sucht und findet. Konkret und real, in seinem gelebten Leben und Alltag. Auch in Begegnungen mit anderen Menschen, in der Natur, in der Beziehung zu seinem Körper. Dann muss er nicht mehr in einer rechtlich-moralisch-menschlichen Grauzone Kontakte zu jungen Mädchen suchen und diese, ohne dass er es will, zutiefst verletzen.

Dann würden Sie auch sagen, dass das Wesen der Reinheit und Zärtlichkeit kein romantisches und lebensfernes Ideal ist?

Natürlich nicht. Es ist das Wichtigste, was unser Leben ausmacht, es ist das, auf das viele Religionen hindeuten, auch wenn sie es manchmal anders benennen. Jeder Mensch sehnt sich danach, auch ohne es zu wissen. Man muss aber schauen, dass man sich nicht auf ein Objekt fixiert, in diesem Fall auf ein „Mädchen“ oder zahllose Mädchen, in die man diese Reinheit projiziert. Dann wird man weder dem Wesen der Reinheit noch dem konkreten Gegenüber des Mädchens, dem ich begegne, gerecht.

Danke, Sie verurteilen ihn also nicht, er ist nicht schlecht, oder?

Natürlich ist er das nicht. Er ist auch kein schlechter Mensch. Er sollte aber einfach Verantwortung für sein Tun, vor allem für seine Beziehungen eingehen. Er sollte die Verantwortung für seine Seele ergreifen. Er sollte versuchen, dem Ruf seiner Seele, dem Wunsch nach Reinheit und Unschuld zu folgen und diese Dinge endlich in sich selbst entdecken. In einfachen, kleinen Schritten. Ich wünsche ihm auch, dass er irgendwann aus seiner Einsamkeit ausbricht und vielleicht eine gleichaltrige Partnerin kennenlernt. Wenn man allzu lange alleine mit einem solchen Ideal, wie er es hat, lebt, ist immer ein wenig die Gefahr, dass auch der Aspekt der rein-körperlichen Ebene, des Sexuellen, sich allmählich verschiebt, von ihm immer mehr, zuerst in der Phantasie, etwas ausgelotet wird, ohne dass er das alles bewusst erfährt oder gar willentlich sich vornimmt. Du solltest versuchen, ob du ihn innerlich irgendwann in Ruhe und gehen lassen kannst. Du brauchst nicht mehr fürchten, nicht mehr „sein Mädchen“ zu sein. Du bist eine wunderschöne Frau, Tamara.

Vielen Dank.

Tiefe Erkenntnis der Gefahren

Diese Erzählung erfasst wunderbar tiefgehend und voller Empathie die Gefahren einer Mann-Mädchen-Beziehung. Zweifellos liegt in dem Geschehen, das hier beschrieben wird, ein erschütternder seelischer Missbrauch, eine traumatische Ent-täuschung des Mädchens vor.

All dies könnte theoretisch jederzeit passieren, wenn man von meinen Romanen Kenntnis hat, sich in die Leseproben vertieft – und sie dann ein paar Jahre weiterdenkt. Die aufrichtige Absicht des Verfassers, auf die ungeheuren Gefahren einer solchen Mann-Mädchen-Beziehung hinzuweisen, ist sehr deutlich. An dieser Stelle werde ich sagen, was ich dazu sagen kann.

Mädchen sind sehr verletzlich – schon das wird in dieser Geschichte deutlich. Gerade weil sie sich fast immer seelisch ,offener’ machen als Jungen, weil sie auch mehr auf der Seite des Fühlens stehen, auch viel stärker Beziehungswesen sind – und all dasjenige, was die Wesen männlichen Geschlechts in die Zukunft hinein erst unendlich stark (wieder) lernen müssen. Mädchen sind anders. Schon dies wird man vielleicht eines Tages nicht mehr sagen dürfen, weil das Narrativ des ,Sexismus’ sich möglicherweise sehr bald auf alles ausdehnen wird, was noch diese Verschiedenheiten behauptet. In meinen Büchern wird aber sehr deutlich, wie verletzlich und empfindsam (viele) Mädchen sind. Das ist also eine Tatsache.

Widersprüche

Nur nebenbei möchte ich dann einige Widersprüche der Erzählung erwähnen. Dass diese teilweise im Leid des Mädchens selbst liegen, sodass sie widersprüchliche Empfindungen hat, ist das eine – dies ist unmittelbar nachzuvollziehen. Sie liebt ihn noch immer, weil sie – das sind ihre eigenen Worte – sich in einer entscheidenden Zeit ihres Lebens wirklich erkannt fühlte. Aber gleichzeitig hasst sie ihn und sich selbst, weil sie als der Mensch, der sie inzwischen geworden ist, abgelehnt und verlassen wurde. Sie sehnt sich zurück nach der Harmonie, die einmal dagewesen war...

Aber diese Spaltung der Empfindungen wird dann doch etwas zu sehr übertrieben. So sagt sie, sie liebe ihn noch immer – und fragt wenige Sätze darauf, warum sie ihn nicht mehr lieben könne – obwohl sie davor beschrieben hat, dass er sie mit seinem ganzen Verhalten zutiefst verletzt hat. Sie weiß sehr genau, was er ihr angetan hat, bis hin zu der Erkenntnis, dass er sich sogar in Ausreden geflüchtet hat, um sie zu verlassen, ohne sein Gewissen belasten zu müssen. Aber natürlich kann sie noch immer tief in ihre Empfindungen verstrickt sein, was ja deutlich ist, da sie bis in ein selbstverletzendes Verhalten gerät.

Stärker noch ist der Widerspruch, dass sie einerseits bereits sehr früh zu wissen und zu empfinden schien, dass sie doch eigentlich vor allem sie selbst sein dürfen wollte – und andererseits jetzt noch immer fragt: ,Bin ich nicht mehr ,sein Mädchen’’? Aber auch hier kann sie in die totale Abhängigkeit geraten sein, einfach nicht von dem Gedanken loskommen ,sein Mädchen’ sein zu müssen und sein zu wollen, obwohl die Beziehung längst zerbrochen ist – offenbar etwa, als sie Mitte sechzehn war. Jetzt ist sie achtzehn und will noch immer ,sein Mädchen’ sein. Irgendwo stimmt dies hinten und vorne nicht. Auf der anderen Seite kann sie ganz klar erkennen, dass sie ,gesehen und bestätigt werden wollte’, hat also eine Distanz zu den Geschehnissen und kann sie bewerten – aber im nächsten Moment kann sie wieder überhaupt nichts, will immer noch ,sein Mädchen’ sein. Hier wird leider allzu deutlich, dass die Erzählung mit der Absicht ,gestrickt’ wurde, einerseits das Leid zu zeigen, andererseits auch die Mechanismen. Aber ein Mädchen kann nicht gleichzeitig die Dinge analysieren können und dennoch ganz offensichtlich weiterhin völlig darin gefangen sein.

Zu alledem kommt der letzte große Widerspruch hinzu. Im Grunde schildert die Geschichte zwei Mädchen – nicht ,zwei Seelen in einer Brust’, sondern wirklich zwei verschiedene Mädchencharaktere. Da ist zum einen eine sehr empfindsame, abhängig gewordene, außerordentlich selbstunsichere Seele, die sich noch immer nach der ,reinen Harmonie’ sehnt. Und da ist zum anderen ein Mädchen, das auch mit der Freundin ,abquatscht’, ,shoppen’ geht, Spotify hört, ablacht, sich mit sechzehn ein Augenbrauenpiercing macht. Diese Dinge passen nicht wirklich zusammen. Das heißt aber: Ein ziemlich normales Mädchen wurde mit Gewalt (des Verfassers) in einen allzu sensiblen, zu Abhängigkeit neigenden Charakter hineingedrängt und mit diesem amalgamiert.

Wäre das Mädchen Tamara wirklich so unsicher und abhängig – sie hätte jenen Mann, der ihr zweifellos viel wichtiger war als ihre Eltern, gefragt, wie er ein Piercing finden würde. Hat sie aber nicht. Das beweist ihre Stärke und Eigenständigkeit, macht aber die ganze Geschichte danach extrem unglaubwürdig.

Repräsentativ?

Nun aber möchte ich zu der Frage kommen, wie repräsentativ diese Erzählung ist. Da sie eindrückliche, zweifellos existierende Gefahren beschreibt, ist sie in der Tat eine tiefe Warnung für jeden Mann, der sich von Mädchen berührt fühlt und eine Beziehung zu einem Mädchen knüpft.

Aber – die Erzählung hat gleichzeitig letztendlich wenig mit den Männern und Beziehungen meiner Romane zu tun. Ganz offensichtlich wird dieser Mann seiner tiefen Verantwortung nicht gerecht. Ein einziges Mädchen in schwere Selbstzweifel und einen Zustand fortgesetzter Selbstverletzungen zu treiben, ist mehr, als ein wirklich moralisch empfindender Mensch ertragen können sollte.

Die Frage, ob der Mann nur einen Augenblickszustand liebt oder das ganze Wesen, wird in mehreren meiner Romane berührt und zwar auch von den Mädchen selbst. Man kann sich aber auch selbst sehr klarmachen, was geschieht, wenn ein Mann ein Mädchen wirklich lieben würde – und nicht mehr oder weniger vor allem von einem Körperschema angezogen ist. Die wirkliche Liebe kann ein Wesen, das einmal zu lieben begonnen wurde, nicht mehr verlassen – es ist ihr unmöglich.

Der Fehler des Mannes dieser Erzählung war es, dass er dem Mädchen Tamara ein Ideal übergestülpt hat. Sie sollte so bleiben, wie er es wollte. Und er hat nicht wirklich gesehen und erst recht nicht akzeptiert, wie sie (auch) war – Abquatschen, Shoppen, Spotify, Piercing etc. Und, mehr noch, er versuchte – egal, ob bewusst oder unbewusst –, sie zu manipulieren, dass sie zusammenbleiben müssten, allein schon gegen die Gesellschaft.

All diese Manipulationen sind den Protagonisten meiner Romane völlig fremd. Sie alle verlieben sich in ein Mädchen, bei dem sie etwas sehr Besonderes sehen – ein Wesen, das sie erschüttert. Sie brauchen dem Mädchen nichts überzustülpen, sie sehen etwas tief Berührendes, man kann sagen Idealisches. In diesem Mädchen ist es eine Realität. Die meisten Protagonisten werden davon selbst völlig überrascht – und keinem einzigen würde es angesichts dieser existenziellen Realitäten einfallen, nach ,zwei, drei Jahren’ Ausschau nach dem nächsten Mädchen zu halten. Das ist, was meine Romane angeht, unmittelbar völlig absurd, es würde niemals geschehen. Dafür ist die Liebe der Protagonisten viel zu aufrichtig, zu existenziell – und zu loyal.

Diese Männer werden von dem Eindruck des Mädchens so tief ergriffen, dass es ihnen nicht einmal in den Sinn kommen würde, dasselbe Mädchen, das ihnen schon durch seine bloße Existenz so viel schenkt oder geschenkt hat, wieder zu verlassen. Wer dies meinen könnte, hat keinen meiner Romane wirklich gelesen.

Selbst wenn das Körperschema für sich genommen nicht mehr berührend wäre – aber auf ausgesprochene Zärtlichkeiten war auch das Mädchen der Erzählung ja gar nicht aus –, bliebe noch immer unendlich viel gemeinsam Erlebtes, das eine tiefe Basis für eine nie endende innige Vertrautheit sein würde. Und zwar so lange, wie dem Mädchen und der werdenden jungen Frau diese Beziehung etwas bedeutet. Irgendwann wird sie es wahrscheinlich sein, die sich von dem Mann lösen wird, um selbstständig ins Leben zu treten und neue Beziehungen anzuknüpfen.

In sämtlichen meiner Romane ist es allenfalls das Mädchen, von dem die Gefahr (und das Recht) ausgeht, dass es die Beziehung beendet. Der Mann würde es nie tun. Es sei denn, er spürt, dass er das geliebte Mädchen einengt. Nie aber würde er nur von sich aus ,die Abstände länger werden’ lassen, schließlich sogar Ausreden suchen, sich ,neuen Mädchen’ zuwenden und all das, was diese Erzählung schildert.

Sie verbleibt im Narrativ – dem viele Männer entsprechen mögen, weil sie zwar von dem Allgemeinen der Mädchen angezogen werden und ihrerseits ein allgemeines Ideal mit sich herumtragen, aber nicht das Wesen der Liebe kennen, sondern nur ein erotisches Begehren, das sie als wirkliche Liebe idealisieren und rationalisieren. Das aber ist durchaus ein allgemeines Unvermögen in einer Epoche, in der die Halbwertszeit von Beziehungen tief gesunken ist.

Das heilige Mysterium der Begegnung

Würde man sich auf meine Romane wirklich einlassen, würde man jeweils sehr individuellen Schicksalsbegegnungen begegnen, in die einzutauchen einen auch selbst unendlich beschenken könnte. Aber man muss zur Begegnung dann auch wirklich fähig sein. Dazu gehört, sich einmal wirklich von allem zu befreien, was die Unbefangenheit trüben könnte, denn bevor man eine echte Begegnung hat, weiß man eigentlich gar nichts. Alles könnte sich in jede Richtung entwickeln. Wer bereits vorher urteilt oder die Skepsis schon im Rucksack hat, der ist, genau genommen, noch gar nicht begegnungsfähig.

Mit einer heiligen Vorurteilslosigkeit aber könnte man das ganze Wunder empfinden, wie verletzlich, wie behutsam Begegnung sein kann, ein Aufeinander-Zugehen und Aufeinander-Eingehen gerade zwischen Mann und Mädchen. Wer dies leugnet oder reflexartig problematisiert, leugnet etwas tief in sich selbst. Gerade eine Begegnung zwischen einem Mädchen und einem Mann kann ein Wunder sein – ein Wunder an Zartheit, an Wärme, an innerem Leuchten, an Anmut. Es ist keine Frage, dass die Essenz dessen vom Mädchen ausgeht – aber es ist der Mann, der fortwährend versucht, sich diesem Wesen würdig zu machen. Das ist sozusagen der Ausgangspunkt meiner Romane, in denen sich ein Mann in ein Mädchen verliebt. Er hat kein Schema im Kopf, er wird selbst tief ergriffen von einer Realität, die von dem Mädchen ausgeht.

Diese vorsichtige Zartheit der Begegnung ist ein absolutes Zukunftsmysterium. Wenn wir diese Qualität nicht finden und zum Aufblühen bringen können – überall, letztlich in jeder Begegnung, auch mit allen Wesen, mit der Natur, mit der ganzen Schöpfung –, wird diese Welt untergehen. Die Gegenimpulse sind überall am Wirken: Rücksichtslosigkeit, Gleichgültigkeit, Selbstbezug, wie subtil auch immer. Wer liebt heute noch wirklich? Wer kennt die Hingabe, die Ehrfurcht, die Sanftheit, das Heilige? In den Begegnungen meiner Romane leuchtet es immer wieder auf. Selbst wenn man sie aus einer allgemeinen Überzeugung heraus, an der man nicht vorbeikommt und die man auch nicht zu individualisieren vermag, ablehnen zu müssen glaubt, könnte man sie einmal allein nur unter diesem Gesichtspunkt lesen. Vielleicht würde man ja dennoch berührt werden.  

Und, zuletzt noch: Nicht wenige Romane sind nicht nur eine zarte, berührende Liebes- oder Begegnungsgeschichte inmitten der ganzen Fragen unserer Gegenwart (Corona, Kapitalismus, Klimakatastrophe etc.) – sondern auch eine ganz reale Rettung des Mädchens, zum Beispiel, weil es am Schulsystem fast zerbricht oder weil sein Wesen tatsächlich weit mehr ist als ,Spotify’, es aber von diesem viel tieferen Wesen noch wie abgeschnitten ist (siehe meinen Roman ,Bauchfrei’), weil es von einem allzu strengen Vater mehr oder weniger dominiert wird (siehe ,Nur Maja’) oder anderes. Die zart sich entfaltende Beziehung zu einem innerlich selbst tiefe Fragen bewegenden Mann kann für nicht wenige Mädchen unserer Zeit wirklich eine Rettung sein.

Nichts weiter als dieses Mysterium einer für beide Seiten wirklich beschenkenden Schicksalsbegegnung wollen meine Romane erlebbar machen. Die Gefahren für das Gros der Fälle, in denen der Mann nicht wirklich einer Verantwortung fähig ist, sind sattsam bekannt. Dass selbst Begegnungen, die nicht optimal verlaufen, im Rückblick für viele Mädchen noch immer Leuchtpunkte sein können, ist schon weniger bekannt. Und dass es auch Begegnungen geben könnte, die nicht nur für beide Seiten, Mann und Mädchen, ein tiefes Glück bringen, sondern auch etwas absolut Zukünftiges vorwegnehmen, ist – auch durch brutale Pauschalurteile – noch so gut wie unbekannt.

Diese idealische Substanz und reale Wahrheit wollen meine Romane verteidigen. Jeder einzelne erzählt eine individuelle Geschichte, deren Würde schon in ihrer bloßen Existenz liegt. Wenn man dies liebevoll begriffe, wäre man einen tief berührenden Schritt weiter.