04.02.2023

Vom Mädchen aus denken

Das heilige Geheimnis des Individuellen.


Inhalt
Der Ozean der Sinnlosigkeiten
Reines Herz...
Das Bewusstseinsproblem
Die Simplifizierungs-Falle
Das vermiedene Ideal
Das Ideal in einer zutiefst nüchternen Zeit
Vom Wunder der Begegnung
Die Liebe als heiliges Wesen
Vom Mädchen aus denken
Das Märchen als Wirklichkeit


Der Ozean der Sinnlosigkeiten

Die gegenwärtige Welt ertrinkt in einem Ozean des Unmenschlichen. Dabei verstehe ich das Menschliche als etwas sehr Tiefes, Heiliges. Was heute in jeder Sekunde zertrümmert wird, ist die reinere, stillere Empfindungsfähigkeit der Seele. Denn die Seele lebt in einem Krieg – sie selbst völlig wehrlos. Es ist ein Angriffskrieg auf ihr Wesen. In dem es fortwährend bombardiert wird, geht es gleichsam völlig zugrunde. Es kann sich nicht ein bisschen mehr auf sein Eigenes besinnen – und es wird zugeschüttet mit dem meterhohen Staub ungeheurer Sinnlosigkeit, unfassbarer Platt- und Seichtheiten.

Man braucht nur manche Internetbrowser zu öffnen, und schon kommen Meldungen, die die Seele demütigen und degenerieren, wenn sie sie ernst nimmt. Ich nenne nur die Stichworte ,Promi-Welt’, ,Dschungel-Camp’, ,Angebote zum Abnehmen’, ,Kuriosa aus aller Welt’ und dergleichen mehr. Es ist ein Ozean von Idiotie – wie ein surrealer Wahnsinn, der die Seele in einen absoluten Materialismus und Nihilismus hineintreibt, während um sie herum die Welt untergeht ... was ja offenbar niemanden interessieren muss, denn, hey, noch ein bisschen ,browsen’, und du bist wieder erfolgreich sediert.

Nahezu niemand begreift mehr den ungeheuren Ernst, die Katastrophe – nicht nur in Bezug auf den Planeten, sondern vor allem in Bezug auf die Seele. Angesichts der Sintflut wertlosester Sinnlosigkeit nur kurz abzuwinken (,Ist halt so’), wäre, selbst wenn man sich darüber erhaben dünkt, auch schon bereits ein Zeugnis des eigenen Relativismus. Angesichts dessen möchte man mit Mignon rufen: ,Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide!’ Aber die Sehnsucht, die mit dem heiligen Geheimnis des Ideals verbunden ist, kennt heute fast niemand mehr – oder man verrät sie stündlich. Leidet ein bisschen und heult im übrigen mit den Wölfen. In der heutigen Welt ist keine Seele mehr durch und durch wahrhaftig – denn das, was fortwährende Realität ist, könnte man sonst gar nicht mehr aushalten. Es ist die Schändung des Menschentums.

Das Heilige wird verspottet durch die ungeheuerliche Trivialität, die man heute als Normalität verkauft – nur, um innerlich immer hässlicher zu werden. Jeder, der triviale Inhalte in die Welt setzt, ist ein Mittäter – mitverantwortlich für die Degeneration der Seele, die sich selbst nicht mehr kennt und immer dumpfer nach irgendeinem ,Genuss’ sucht (,Spaß’, ,Fun’, ,Unterhaltung’, ,Abwechslung’ etc. etc.). Die Seele wird leerer und leerer, weil ihr jede Fülle, alles Heilige, alles in tiefster Weise Sinnhafte, ausgetrieben wurde. Sie weiß nicht mal mehr, was das ist – und selbst, wenn sie noch eine leise Erinnerung daran hat, entfernt sie sich weiter, immer weiter. Tagtäglich.

Reines Herz...

Das Gegenteil dessen wäre ein Herz, das noch ganz rein empfindet. Das die Verschmutzung und die Degeneration des eigenen inneren Wesens nicht zulässt. Das noch sehr genau spürt, dass die Seele verschmutzen und degenerieren kann – und mit seinem ganzen Wesen Vorkehrungen dagegen trifft und das Verschmutzende und Degenerierende nicht hineinlässt. Dass sich angesichts aller Trivialitäten, die den Anspruch erheben, irgendeine Bedeutung zu haben, entsetzt ... und sich angewidert abwendet. Erschüttert davon, dass das Wahre, Gute und Schöne offenbar keinerlei Bedeutung in dieser Welt hat.

Jenes Herz aber trägt in sich noch die ganze Welt dessen – es ist gleichsam innig eins mit dem heiligen Leben dieses Wahren, Schönen und Guten ... und seine tiefste Sehnsucht ist es, dieses heilige Leben auch anderswo, ja überall sonst ebenfalls zu finden.

Aber dies geschieht nicht. Schon zu seiner Zeit war Thoreau ein Einsamer, als er 1869 schrieb: ,Nicht ohne ein leichtes Schaudern vor der Gefahr bemerke ich oft, daß ich nahe daran war, die Details irgendeiner kleinlichen Affäre in meinen Geist einzulassen – Nachrichten von der Straße; und ich bin erstaunt zu sehen, wie gerne die Menschen sich mit solchem Unrat belasten – müßige Gerüchte und Vorkommnisse der unbedeutendsten Art in ein Gebiet eindringen zu lassen, das ein Heiligtum des Gedankens sein sollte.’

Mit tiefstem Ernst warnte auch jemand wie Jacques Lusseyran vor der ,Verschmutzung des Ich’ – eines heiligen Wesens, das noch kaum geboren ist und gegen das heute von allen Seiten offen Krieg geführt werde.

Und man muss das, was Thoreau und Lusseyran vom Geist, vom Denken und vom Ich sagten, in derselben Tiefe auf die Seele und das Empfinden ausdehnen. Selbstverständlich wird ebenso gegen die Seele Krieg geführt – und hört sie überall auf, ein Heiligtum des Empfindens zu sein, viele Seelen waren dies sogar niemals...

Auch Novalis wusste noch, dass Geist und Seele ersterben und sie selbst auf diese Weise auch alles andere ersticken und profan werden lassen, in Ödnis verwandeln. Er schrieb: ,Die Welt muss romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder.’ Oder auch: ,Die Poesie ist das echt absolut Reelle. ... Je poetischer, je wahrer.’ Die moderne Seele lebt, obwohl sie dies absolut leugnet und nicht wahrhaben will, in der realen Unwahrheit – und es ist ihre Schuld. Sie hat nicht mehr die Kraft des Idealischen, kennt es nicht einmal mehr, will es auch nicht mehr. So verrät sie sich selbst. Denn erst diese Kraft würde sie in die wahre Wirklichkeit führen, die volle Wirklichkeit, das heilige Wesen der Dinge.

Das Mysterium ist die eigentliche Wirklichkeit. So wie die wahre Begegnung, da, wo sie sich wirklich ereignet. Sie ist dann Mysterium, heiliges Geschehen. Herausgehoben aus der Un-Wirklichkeit, hineingehoben in ein Reich des Heilig-Wesenhaften, man kann auch sagen: des realen Märchens.

Es ist kein Wunder, dass in den großen Bildern der Märchen immer wieder das Mädchen das Wesen mit dem reinen Herzen ist – und seine Brüder retten muss. Heute gibt es gleichsam keine Seele mehr, die nicht gerettet werden müsste.

Das Bewusstseinsproblem

Um meine Bücher und meine Aufsätze, in denen die idealische Gestalt des Mädchens eine so zentrale Rolle spielt, wirklich ,beurteilen’ zu können, müsste man eigentlich dahin kommen, nicht mehr zu urteilen – seine eigene Seele also so tief unbefangen zu machen wie ... ein Mädchen.

Um dieses Problem kommt man nicht herum. Nimmt man dies nicht unendlich ernst, wird man stets mehr oder weniger in die ,Schubladen-Falle’ tappen. Man wird dann nicht eine einzige Zeile ernst nehmen – und erst recht nicht wirklich begreifen. Weder wird man die Gestalt des Mädchens irgendwie ernst nehmen noch erst recht begreifen, wie sich andere Menschen in ein ganz bestimmtes Mädchen verlieben können – erst recht natürlich keine erwachsenen Menschen, und gänzlich erst recht natürlich kein Mann! Das berührende Wesen eines Mädchens wird als Theorie noch gelten gelassen, aber selbstverständlich ist das dann alles. Denn wie um alles in der Welt kann es sein, dass sich ein erwachsener (!) Mensch wirklich in ein Mädchen verliebt? Das ,macht man’ ja wohl nicht! Und was soll das arme Mädchen davon halten?

Aber das Mädchen wird ja gar nicht gefragt und nicht ernst genommen. Das Urteil steht ja schon vorher fest – das Mädchen braucht man dazu gar nicht mehr. Wer nämlich die ,Missbrauchsbrille’ schon aufhat – und in unserer Zeit haben das naturgemäß alle, was angesichts der Statistik auch sehr naheliegt –, der wird gar nicht anders können, als meine Bücher, meine Webseite etc. etc. so zu lesen, wie es die Brille, die Statistik etc. etc. natürlich nahelegen. Was auch sonst.

Wer so urteilt, urteilt dann natürlich auch, dass er meine Bücher – nicht eines – gar nicht erst lesen müsse, denn es stehe ja ,genügend’ auf meiner Webseite. Auch von anderen müsse man schließlich keine Bücher lesen, wenn man ihre Webseiten angesehen habe – so jemand wie Verschwörungstheoretiker, Querfrontler usw. erweisen sich sofort als das, was sie sind.

Nun haben diese aber ein ziemlich einfach gestricktes Weltbild, das sich hervorragend selbst bestätigt und selbst immunisiert – nach dem Motto: Jeder, der unsere Sicht nicht teilt, ist ganz offensichtlich Teil der Verschwörung oder aber ein noch blindes Opfer... Erstaunlicherweise zeigen nun jene, die über meine Bücher wie angedeutet urteilen, ein ganz ähnliches Muster. Auch sie immunisieren sich völlig selbstverständlich, ihr Urteil steht von vornherein fest, auch ihr Weltbild ist einfach gestrickt: Jeder Mann, der die Begegnung mit einem Mädchen sucht, ist ... (und jetzt folgen wahlweise die Urteile, von ,nicht erwachsen’ bis ,moralisch verkommen’).

Eine Schwarzweiß-Welt, die von ganz simplen Prämissen ausgeht, die man gar nicht mehr hinterfragen muss, denn wo käme man da hin? Wie die Verschwörungstheoretiker ist man sich seiner Sache völlig, wirklich völlig sicher – und blind sind immer die anderen.

Die Simplifizierungs-Falle

Der entscheidende Punkt ist, dass für die Beurteilung etwa einer ,Compact’-Webseite das ganz gewöhnliche oder aber ein wenig gehobene Standardwissen über Verschwörungstheorien, Querfront usw. ausreicht, die ganze Weltanschauung dahinter einzuordnen, zumindest vom Bauch her oder von der Schublade her, und wenn man sich erkenntnismäßig darauf besinnt – und das ist jetzt schon nicht mehr trivial, geht schon in Richtung eines innerlich ganz realen Ergreifens des Seelisch-Geistigen, auch des eigenen –, wird man sich auch sehr real bewusst werden können, welche Kräfte und Mächte in einem solchen Denken wirken, und was auch im Fühlen solcher Strömungen wirkt.

Das gewöhnliche Wissen reicht auch aus, bei einem Blick auf Bücher, die von Begegnungen ,zwischen Männern und Mädchen’ sprechen, gedanklich die Hände über dem Kopf zusammenzuschlagen, weil ja, natürlich, die Schublade bereits aufspringt, sogar ungefragt, das macht sie von selbst. Man müsste sie ja gewaltsam zuschieben, wenn sie sich wieder schließen sollen sollte. Aber warum sollte man sie wieder schließen wollen? Es ist doch sehr angenehm, wenn sie auf ist – Thema rein und fertig.

Der Punkt ist, dass das gewöhnliche Bewusstsein sich selbst überwinden müsste, wenn es Außergewöhnliches erfassen wollte – und das kann es nicht. Mehr noch: Das will es gar nicht. Deswegen kann das gewöhnliche Bewusstsein zum Beispiel auch niemals den Mystiker verstehen. Es wirft ihn in einen Topf mit den ,sonstigen Schwurblern’ und so weiter und so fort. Dieses Bewussstsein hat seine Standard-Prozederes, die werden angewendet, ganz automatisch, man kann das auch gar nicht verhindern. Ein Mystiker würde zum Beispiel mit den Zeugen Jehovas zusammengeworfen werden: ,Aha, alles klar...’

Für dieses Bewusstsein ist dann weiterhin jemand wie Novalis ein ,Träumer’, ,weltfremd bis zum geht nicht mehr’, ,der typische Romantiker’ (Subtext gleich inbegriffen) und so weiter. Der Zugang ist schlicht versperrt – aber man weiß immer schon, dass man selbst ,klar sieht’. So funktioniert das.

Manche Dinge kann man mit dem Bewusstsein, das einem zur Verfügung steht, beurteilen, andere beurteilt man so, wie dasjenige nahelegt, über das man nicht hinauskann, nicht einmal will. Jedes Urteil ist auch eine Selbstbestätigung.

So ist es dann ganz besonders, vor allem und erst recht – wie könnte es auch anders sein – mit der ,Mystik des Mädchens’. Denn, nicht wahr, warum sollte man sich so einen Unsinn auch nur antun? Macht man ja mit ,Compact’ auch nicht. Und schon liegen die Dinge auf der Hand. – Aber allein dieser Vergleich sagt alles. Andere winken ab, wenn sie das Wort ,Evangelium’ hören. Jeder hat seine ganz persönlichen Vorurteile – und seine Pauschalisierungen. Das Wahrnehmungsorgan für das völlige Gegenteil ist dann gar nicht vorhanden. Man schaltet es selbst aus. Weil man in seine eigene Brille verliebt ist.

Das vermiedene Ideal

Wenn man nicht nur an seiner eigenen Selbstbestätigung interessiert ist, könnte man, so man anders von seiner Brille nicht loskommt, meine Bücher einmal als moderne Märchen zu betrachten versuchen.

Dies setzt natürlich voraus, dass man mit Märchen etwas Positives verbindet – was in unserem pragmatischen, profanen, intellektuellen, ,coolen’ und leise geradezu oft zynischen Zeitalter, das sich mit größtem Genuss ein ,aufgeklärtes’ nennt, wahrscheinlich auch nur noch eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit hat. Doch ohne wieder zu einem Idealischen zu kommen, auch zu dem Begriff des Heiligen, zu Ur-Qualitäten wie Ehrfurcht, Demut, Mut, Unschuld ... ohne all dies wird diese Welt zugrunde gehen. Das muss man in seiner cool-intellektuellen Selbstgewissheit nicht glauben, auch für seinen Unglauben wird man einst die volle Verantwortung tragen müssen.

Nichts wird heute so sehr vermieden wie das heilige Ideal. Allgemeine Ideale trägt jeder irgendwo mit sich herum – so etwas wie ,Menschlichkeit’, ,Gerechtigkeit’ und anderes mehr. Fast immer sind es jedoch nur noch zu blassen ,Maximen’ herabgesunkene Vorstellungen. Von der heiligen Flamme der Ideale haben sie nicht mehr das Geringste. Mit blassen Maximen aber können die sich aufbauenden Katastrophen vielleicht noch etwas verzögert und ,gemanagt’ werden, aber mehr auch nicht. Und Intellekt, Anonymität, Geopolitik, Zerstörung, Ressourcenverbrauch und allgemein der Kältepol der menschlichen Seele wird immer mehr zunehmen.

Dass Ideale dagegen stets mit Hingabe zu tun haben, ist die unangenehme Wahrheit, die man lieber beiseitedrängt – richtet man seine ,Hingabe’ doch lieber auf Chatten, Shoppen, Unterhaltung, Fun, Netflix, coolen Smalltalk, Freundetreff, bisschen ,Abhängen’ etc. etc. Welche Seelenhaltung dem zugrundeliegt, ist offensichtlich. Immer mehr wird dies die absolute Grundhaltung der ,modernen’ Seele. Und Hingabe? Mit ,Hingabe’ widmet man sich dann seinen persönlichen Hobbys, vom Paragliding bis zum Kaninchenzüchterverein – während die Welt täglich weiter zugrunde geht. Realitätsfluchten jedes Einzelnen, auf höchster Ebene abgesegnet als ,Privatleben’, das meistens sehr gut mit dem Turbokapitalismus interagieren kann.

Das heilige Ideal ... das reine Leuchten des Wahren, Schönen und Guten ... in welcher Seele darf dies noch bedingungslos leben? In welcher Seele spielt es überhaupt noch eine Rolle...?

Das Ideal in einer zutiefst nüchternen Zeit

Man kann meine Bücher also einmal als moderne Märchen betrachten – in einem sehr realen Sinne.

Wer mit Märchen auch sonst nichts Reales verbindet, wird hier kaum weiterkommen. Märchen bringen die Seele wieder in Verbindung mit einer Schicht der Wirklichkeit, die gerade der modernen Seele rasend schnell entgleitet – und immer schon entglitten ist. Vermag die Seele aber nicht, einzutauchen, hat sie gar nichts. Bekanntlich passt in ein bereits volles Glas nichts weiter hinein – die nur mit sich selbst beschäftigte Seele geht also leer aus... Aber mehr als ihre eigenen Vorurteile will sie dann ja ohnehin nicht bestätigen.

Moderne Märchen. Dies beginnt schon bei der Konstellation. Mann und Mädchen könnten unterschiedlicher nicht sein, schon dies gibt der Begegnung etwas Urbildhaftes. Dass dieser Gegensatz es gerade auch ist, der allem Missbrauch, aber auch allem Scheitern, zugrunde liegt, verringert das Urbildhafte überhaupt nicht, im Gegenteil. Die Missbrauchsbrille dämonisiert diese Begegnung geradezu – und zwar pauschal. Und hebt sie geradezu dadurch erst recht ins Mythische. Denn was ist, wenn Mann und Mädchen einander nun trotzdem begegnen, in einer tief berührenden Weise, vollkommen gegen das Dogma?

Dann hat man das Märchen – eine Sphäre, die angeblich gar nicht möglich ist, und die andererseits unendlich fein durchwoben ist von etwas zutiefst Idealischem... Ein Wunder. Eine zärtliche Offenbarung... Etwas, was niemand für möglich hielt ... oder was alle vergessen und verdrängt haben, dass es möglich ist.

Mann und Mädchen begegnen einander – und was passiert jetzt? Was passiert jetzt jenseits aller Vorurteile, alles ,immer schon Gewussten’, jenseits aller Vorhersagen, aller Statistiken, jenseits allen Bauchgefühls oder aller klaren Überzeugungen? Was passiert, wenn eine solche Begegnung in das Element des Idealischen getaucht ist, überleucht von diesem ist?

Es hilft nichts, sich dies rein äußerlich vorzustellen, nach dem Motto ,gewöhnlicher Mann trifft gewöhnliches Mädchen’, und jetzt tritt irgendwie etwas ,Idealisches’ hinzu, was auch immer das sein mag. Sondern man muss es in die Figuren und die Handlung hineinversetzen, es ist von ihnen untrennbar. Es sind eben kein gewöhnlicher Mann und kein gewöhnliches Mädchen, die einander da begegnen – und auch in Märchen ist das niemals der Fall. Es sind, in welchem weiten Sinne auch immer, Schicksalsbegegnungen ... und gerade deshalb kann in ihnen dieses Tiefste und Heiligste aufleuchten: das Idealische. Das reine Element, das dem Reich der Märchen so verwandt ist.

Es kann aufleuchten, weil sie beide es in sich tragen – dieser Mann und dieses Mädchen.

Vom Wunder der Begegnung

Und es kann aufleuchten, weil auch sie beide mit dem Wunder nicht gerechnet haben. Wie auch?

Aber entscheidend ist nicht, womit man rechnen konnte, sondern was wirklich geschieht. Und was geschieht, das ist die Begegnung zweier ganz und gar nicht gewöhnlicher Menschen, ein Mann und ein Mädchen ... und das Wunder ist, dass auch diese beiden zärtlich und behutsam aufeinander zugehen können, ja vielleicht gerade sie.

Aber wenn man die geradezu existenziell-mythologische oder aber die real-idealische Ebene nicht begreifen kann, wird man an solchen Sätzen fassungslos scheitern. Man wird sich an die Pauschalisierung klammern und das Geheimnis des Menschen verraten. Denn dass der Mensch zu einer geradezu heiligen Zärtlichkeit fähig, ja regelrecht bestimmt ist, sollte sich jede Seele in ihrem innersten Heiligtum zugeben, wenn sie noch irgendeinen Zugang zu diesem Mysterium hat. Und wäre es nur als leise Ahnung, von der sie sich inmitten zahlloser Desillusionierungen eigentlich fast schon verabschiedet hat.

Könnte es sein, dass gerade der Mann und das Mädchen das Potenzial haben, das tiefste Wunder der Begegnung wahrzumachen? Das Mysterium des Zärtlichen?

Dass das Mädchen diese Fähigkeit hat, ist absolut offensichtlich. Dass der Mann sie hat, scheint absolut abwegig zu sein – solange man die ,Brille’ trägt. Aber man muss sich fragen: Was ist das Mysterium des Zärtlichen? Es ist ohne das Geheimnis des Idealischen gar nicht zu denken. Aber auch in der Seele des Mannes können diese Geheimnisse in größter Tiefe leben: Das Idealische. Das Zärtliche. Und dies ist umfassend gemeint. Es beginnt bereits mit dem Beginn der Begegnung selbst. Kann man sich eine Begegnung denken, die das Ideal der Behutsamkeit offenbart? Des Zarten an sich? Des Verletzlichen?

Kann man sich vorstellen, dass Mann und Mädchen dieses Urbild wahrmachen können? Zärtlichste, behutsamste, aufrichtigste Begegnung überhaupt? Wenn man es nicht kann, sollte man sich sehr tief nach den Gründen fragen. Denn sie können es.

Von diesem Geheimnis handeln mehrere meiner Romane. Und wenn man einmal das Wunder ernst nimmt, so mag man auch folgendes wunderbar wahre Wort von Rilke verstehen können, der schrieb: ,Und in diesem Sinne scheint der Künstler noch über dem Weisen zu stehen. Wo dieser bestrebt ist, Rätsel zu lösen, da hat der Künstler eine noch bei weitem größere Aufgabe oder, wenn man will, ein noch größeres Recht. Des Künstlers ist es, das Rätsel zu – lieben. Das ist alle Kunst: Liebe, die sich über Rätsel ergossen hat, – und das sind alle Kunstwerke: Rätsel, umgeben, geschmückt, überschüttet von Liebe.’

Die Liebe als heiliges Wesen

Was man mit der ,Brille’ niemals fassen kann, ist, dass der Mann das Mädchen lieben kann. Immer wird man mit der ,Brille’ diese Liebe in Zweifel ziehen, ihre Existenz leugnen – oder selbst dann, wenn man sie nicht leugnet, falsch finden.

Gleichwohl ist es nichts anderes als diese Liebe, die alle Machtverhältnisse völlig umkehrt. Der Mann ist hilflos. Er ist eigentlich in einer Lage absoluter Hingabe. Es ist eine innere Zärtlichkeit, die keinerlei Vergleich hat.

Und nun hängt alles eigentlich nur noch davon ab, ob das Mädchen diese Liebe, die ihr da zart, vielleicht geradezu furchtsam und scheu, entgegenströmt, ,haben’ will oder nicht. Ob sie sich damit wohlfühlt oder nicht. Was aber, wenn sie es tut? Was, wenn diese gegenseitige zärtliche Begegnung sie unendlich glücklich macht? Was, wenn beide einander sich in unendlicher Weise beschenken und beschenkt fühlen?

Kann man diese Vorstellung innerlich überhaupt zulassen? Oder ist man mit Urteilen derart imprägniert und durchsetzt, dass man sich sogar zum Richter über das Glück eines Mädchens aufschwingen zu dürfen meint? Mit welchem Recht tut man solche Dinge? Ist einem dann überhaupt noch irgendetwas heilig? Denn das Mädchen kann es ja nicht sein – dieses dient einem doch nur zur Rechtfertigung eigener Pauschalisierungen, an die man sich bedingungslos klammern muss, weil ,nicht sein kann, was nicht sein darf’.

Es gibt nur ein Wesen, das richten kann – es ist jenes Wesen, dass unzählige Menschen in Nahtoderfahrungen erlebt haben. Ein Wesen das selbst aus reiner Liebe zu bestehen scheint.

Bevor man also selbst meint, richten zu dürfen, sollte man sich in tiefster, aufrichtigster Ehrfurcht einmal fragen, wie rein man eine Begegnung in seiner Seele erleben können müsste, um würdig zu werden, wahrhaft urteilen zu können ... über die Liebe in der Begegnung zweier anderer Menschen.

Vom Mädchen aus denken

Jedes Urteil, das man hier selber fällt, ist ganz offensichtlich ein Urteil über das Mädchen hinweg. Und mehr noch: über jenes Wesen der Liebe hinweg, weil man sich selbst für berechtigt, ja für fähiger hält, hier zu urteilen.

Welch eine Schamlosigkeit, ja welch ein Missbrauch jeglicher Gewissenskräfte der Seele darin liegt, muss wohl kaum ausgeführt werden. Selbst wenn man jenes umfassende Liebe-Wesen einmal beiseite schiebt, weil man es nicht ernst nimmt, steht da immer noch das Mädchen vor einem – das Mädchen mit seinem ganzen Glück, weil es sich unendlich wohlfühlt, vielleicht zum ersten Mal überhaupt.

Denn das ist es ja, was die Heuchelei der Urteile so sehr entlarvt. Das Mädchen interessiert einen kein bisschenerst, wenn es dem Mann begegnet, interessiert es einen, und man echauffiert sich in selbsternannter Alarmstimmung, die ,Brille’ ist ja Tag und Nacht auf, und nun interessiert einen also das Mädchen plötzlich, man hat eines dieser unzähligen Opfer entdeckt und einen moralisch schwer verwahrlosten Mann. Das Pharisäertum dieser selbsternannten Aufregung ist geradezu mit Händen zu greifen – es ist unerträglich.

Das Mädchen kann bis dahin sonstwas gewesen sein – todunglücklich in der Schule, einsam bis zum geht nicht mehr, subtil unterdrückt vom eigenen zu strengen Vater oder was auch immer. Ist alles völlig egal – c’est la vie, meine Kleine –, bis ... ja bis jener Mann ins Spiel kommt, der dem Mädchen zärtlicher begegnet, als ihm jemals begegnet worden ist. Dann auf einmal ist das Drama groß, und alle Hebel werden in Bewegung gesetzt, um die innere Empörung innerhalb von Sekunden von Null auf Hundert zu fahren. Spürt man eigentlich noch, wie lieblos und selbstgerecht man ist, wie sehr man die Heuchelei geradezu zelebriert, ohne es auch nur noch zu bemerken?

Wenn es einem wirklich um das Mädchen ginge – ich sage nur: wenn –, dann sollte man bereit sein, seine eigenen Urteile an denen des Mädchens zerschellen zu lassen. Anders ist Wahrhaftigkeit nicht zu haben. Das Mädchen ist keine Sklavin für die eigene Selbstbestätigung. Es hat seine eigenen Urteile. Und diese Urteile sind wahr – denn sie sind von Liebe getragen. Und so stimmen sie mit dem Urteil jenes anderen Wesens wahrscheinlich tief, sehr tief überein...

Das Märchen als Wirklichkeit

Ein Einwand ist jederzeit noch möglich. Das Ganze seien ,haltlose Imaginationen’, die mit der Wirklichkeit nicht das Geringste zu tun hätten. Weder gebe es Mädchen, die so wären wie in meinen Romanen, noch Männer, die so wären.

Nun, wenn es so wäre, könnte man meinen Romanen ja als Märchen ihr Recht lassen – als Schöpfungen der Kunst, die ihr heilig-zartes Eigenrecht behaupten. Der Kunst, deren Recht es ohnehin ist, eine ganz eigene Wirklichkeit zu schaffen, durchzogen von der Substanz des Idealischen ... zarte Aussicht auf eine Zukunft, die vielleicht auch einmal in der Seele des Menschen wahrhaft Fuß fassen und sanft Wurzel schlagen wird.

Aber – auch wenn die Mädchen meiner Romane mit zartem Eigensinn von der Statistik der großen Zahl der real existierenden Mädchen in Bus und Bahn, auf der Straße und wo auch immer abweichen, einsam (und mutig) auch hier ... so könnten sie einem doch jederzeit begegnen, sie haben nichts Unrealistisches an sich, außer dasjenige, was heute am Aussterben scheint, was aber eben nicht an ihnen liegt, sondern an allen anderen. Und ganz genauso ist es auch mit den Männern.

Wer diese Romane mit der ,Brille’ liest (oder die Ankündigungen, weshalb er sie gerade nicht liest), der hat nicht die Fähigkeit, sich von der Substanz des Märchens, des Idealischen, berühren zu lassen – mehr als jemals zuvor, denn offenbar müssen ja sogar die steinharten Mauern dickster Dogmatik und tiefsten Vorurteils überwunden werden.

Erst dann – erst dann wird man spüren können, dass beide, Mann und Mädchen, gerade in ihrer Begegnung, etwas wahrmachen, was erst in fernerer Zukunft zu einer Fähigkeit der Menschenseele überhaupt werden will, zart darauf wartend, aufgenommen zu werden, wenn man wieder heilig-aufrichtig gelernt hat, Ideale zu haben ... und an ,Märchen’ zu glauben, weil man sich die Fähigkeit errungen hat, sie wahrzumachen.

Das Mädchen in seiner idealischen Gestalt kann einen diesen Mut zum Idealischen immer wieder neu lehren. Auch dies mit sanfter Unbeirrbarkeit...