17.02.2023

Mitten ins Herz

Filmbesprechung: Close. Lukas Dhont (Regie), BEL 2023, 109 min. | Trailer.


Es gibt Filme, die sind auf sanfteste Weise schonungslos ehrlich. Einer dieser Ausnahmefilme ist ,Close’.

Er handelt von der innigen Freundschaft zweier Jungen, die daran zerbricht, dass man beginnt, sie zu befragen und zu bewerten...

Léo und Rémi wachsen in Belgien auf dem Land auf. Unbeschwerte Kindheit. Räuber und Gendarm, reine Phantasie, ausgelassene Freude, stille Momente. Übernachten bei dem anderen. Argloses Schlafen im selben Bett. Innigkeit tiefer seelischer und körperlicher Nähe. Reines Glück der Freundschaft.

Dreizehn Jahre sind die beiden alt. Ein Alter, in dem andere Jungen das innerlich tief Harmonische schon längst seit ein, zwei Jahren endgültig hinter sich gelassen haben. Diese beiden haben es noch.

Und dann kommt der Wechsel auf die weiterführende Schule. Eine große Zahl unbekannter Jugendlicher. Die beiden schwimmen so mit, noch wie in einer eigenen Welt, unzertrennlich. Aber man spürt sofort, dass dies nicht lange gutgehen kann. Zu rauh ist diese Welt schon unter den Gleichaltrigen. Aber dabei ist es ein geradezu harmloses Mädchen, das zum ersten Mal die verhängnisvolle Frage stellt: ,Seid ihr zusammen?’

Nie haben die beiden für ihre tiefe Freundschaft ein Etikett gebraucht. Rémi scheint die Frage völlig sinnlos zu finden, vielleicht irritierend, aber ganz an der Realität vorbei, nicht einmal zu beantworten. Léo jedoch fühlt sich gedrängt zu verneinen. Er schafft es sogar noch, zu konkretisieren, dass sie ,wie Brüder’ seien. Aber gegen die Behauptung des Mädchens, man sehe doch, dass da ,mehr’ sei, kann er sich nicht wehren. Von nun an beginnt es, in ihm zu arbeiten.

Quälend und hilflos muss man mitverfolgen, wie sich das Gift allmählich ausbreitet – und sich die Konsequenzen zu zeigen beginnen. Léo beginnt, sich von Rémi zurückzuziehen. Unter Vorwänden. Er traut sich auch nicht, ihm zu sagen, warum – und durchschaut es selbst kaum. Aber er lässt Rémi nicht mehr den Kopf auf seinen Bauch legen. Er legt sich nicht mehr in dasselbe Bett. Selbst als Rémi, der innerlich tief bestürzt ist, ihn fragt, weicht Léo aus. Die Kommunikation versagt – und versiegt. Seelischer Horror, dem man als Zeuge mit ausgesetzt ist.

Léo schließt sich vermehrt anderen an, beginnt, einem anderen Jungen zu folgen, mit Eishockey. Der Heimweg auf dem Rad ist für Rémi und Léo noch gleich, aber eines Morgens wartet Léo nicht mehr für den Weg zur Schule. Als Rémi ihn auf dem Pausenhof erschüttert zur Rede stellt, weicht dieser erneut aus. Rémi begreift mehr mit dem Gefühl die Tiefe des Verrats und greift Léo in hilfloser Verzweiflung an, weint. Schnell werden die beiden getrennt, auch Léo ist hilflos, ebenfalls unmittelbar mit seinem Verrat konfrontiert, aber er vermag den eingeschlagenen Weg nicht zu verlassen.

Dann fährt die Klasse auf einen Ausflug ans Meer. Rémi ist an diesem Tag nicht dabei. Bei der Rückkehr erfahren die Lehrer und die ganze Klasse, dass Rémi sich das Leben genommen hat...

Diese Wende der Ereignisse geht über Léos innere Kräfte. Er kann es kaum an sich heranlassen. Von nun an trägt er die Schuld mit sich herum, vor allem aber das tiefe Loch, das Rémi in seiner Seele zurücklässt. Denn nun erst – nun erst spürt er, wieviel Rémi ihm bedeutet hat. Bleibend. Er hat seinen allerbesten, wahren, einzigartigen, niemals ersetzbaren Freund verloren. Er läuft davor weg, versucht, zu funktionieren, macht weiter mit dem Eishockey. Doch er ist zu empfindsam. Nach und nach, schrittweise, mit einer sanften Unerbittlichkeit, holt ihn die Trauer immer mehr ein – und die volle Erkenntnis. Und dann ist da auch noch die Schuld gegenüber Rémis Eltern, insbesondere seiner Mutter, die auch für ihn fast wie eine zweite Mutter war...

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Selten hat ein Film Freundschaft so innig gezeigt, so schlicht und ergreifend. ,Close’ ist ein ausgesprochen ruhiger Film, der keinerlei Effekte braucht. Umso tiefer zieht er die Seele in das Geschehen hinein. Selten hat ein Film einen in so zart-intensiver Weise betroffen gemacht, einen nicht losgelassen, diese Betroffenheit bis zum Ende immer weiter vertieft. Dieser Film hat gar keinen dramatischen Höhepunkt. Die dramatische Wende in der Mitte des Films ist nur der Beginn einer quälenden Auseinandersetzung, die dem zurückbleibenden Léo wie auch den ihn begleitenden Zeugen des Filmes nichts schenkt und erspart.

Am Ende lebt man in einem Meer von Empfindungen, die sich angesammelt haben – und die in ihrer Fülle eine tiefe Wahrheit in sich bergen: die unermessliche Kostbarkeit dessen, was man in seinem Wert erst erkennt, wenn man es verloren hat.

Dieser Film macht ernst mit dem Grenzenlosen. Der Schritt Rémis aus dem Leben heraus lässt nur erahnen, wie grenzenlos viel ihm dasjenige bedeutet hatte, was Léo dann gedrängt durch seine Umwelt gekappt hatte. Und dieses Unfassbare wiederum, die Verzweiflungstat Rémis, macht in Verbindung mit Léos Leid von diesem Punkt an erlebbar, wie grenzenlos verletzlich die tiefe Zuneigung zweier Menschen sein kann – ein unendlich heiliges Band ... das doch so schutzlos, so wehrlos ist. In seinem hilflosen Untergang spürt man erst, wie sehr das bis dahin Gewesene ein unendliches Heiligtum gewesen war.

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Dieser Film lässt einen mit tiefsten Empfindungen zurück. Eingetaucht in die Wahrheit der Empfindungen hat man ja auch die ganzen Fluchten miterlebt. Nicht nur Léos – sondern auch die der Eltern, die gleicherweise versucht haben, weiter zu funktionieren.

Und die Frage taucht unmittelbar auf: Wieso laufen wir fortwährend vor unseren aufrichtigsten Empfindungen weg? Woher kommt dieser Zwang, dieser Glaube, funktionieren zu müssen, so zu tun, als würde man selbst das Allerschlimmste noch ,gut bewältigen’?

Und die zweite, damit zusammenhängende Frage steht nicht weniger quälend vor der Seele: Wie – wie hätte eine Welt aussehen müssen, in der dies nicht hätte zu geschehen brauchen? In der Léo nicht gezwungen gewesen wäre, das auch ihm Kostbarste zu verleugnen ... weil es hätte da sein dürfen, einfach nur da sein, nicht befragt, nicht bewertet, nicht in die eine oder andere Schublade gesteckt? Ist dies überhaupt nur denkbar? Aber es ist alles denkbar – die Frage ist nur, wie aufrichtig man hier sein kann. Wie müsste eine Welt aussehen, in der Léo und Rémi eine Chance gehabt hätten? Ja, in der ihre unschuldig-selbstverständliche Innigkeit das eigentlich Normale gewesen wäre?

Und wenn die Seele mit Hilfe ihrer Empfindungen bis zu diesen quälenden Fragen gekommen ist, steht sie vor der ungefilterten Erkenntnis, wie brutal unsere Welt wirklich ist. Denn die wirkliche Unschuld wird durch jeglichen Mangel an Zartgefühl unweigerlich vergewaltigt. Dies ist die volle Wahrheit. Wir können nicht nicht handeln. Mit jedem Mangel an Zartgefühl sind auch wir selbst es, die die Unschuld vergewaltigen.

Und bedenken wir: Es war die fast ganz unschuldige Frage eines Mädchens – ,seid ihr zusammen?’ Sie hat nicht einmal gespottet. Es war einfach nur ihr Eindruck, auf dem sie beharrte. Sie meinte, es zu sehen, dass diese beiden Jungen ,zusammen’ seien, ein Liebespaar...

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Es ist diese einzigartige Leistung, die der Film vollbringt. Dass er bis in die letzte Konsequenz diese zarten Fragen aufwirft – wenn der Zuschauer es wirklich auch ernst meint. Wenn zumindest er nicht wegläuft, sondern wirklich begreift ... dass dieser Frage schlicht nicht ausgewichen werden kann.

Wie müsste eine Welt aussehen? Es ist die erschütternde Erkenntnis, dass, um ein Heiligtum zu bewahren, man dieses Heiligtum überhaupt erst einmal empfinden müsste. Man müsste Empfindungen der Ehrfurcht kennen – denn nichts anderes ist Zartgefühl in seiner Wahrheit. Und ... diese heilige Ehrfurcht müsste dann alles Urteilen, alle Deutungen so sehr schweigen lassen, dass man es wirklich aufrichtig empfinden könnte, dass das Wahrgenommene jenseits aller Deutungen liegt ... ein heiliges Eigenrecht darauf hat, nicht gedeutet zu werden... Und hier beginnt das Heilige eigentlich. Es wird begriffen als etwas, das man nicht deuten darf, weil man ihm sonst sein tiefstes Wesen nimmt – als etwas, das sich ganz allein selbst definiert, ohne von außen definiert werden zu dürfen...

Aber wie müsste eine Welt aussehen ... in der die Seelen wieder diese heilige Fähigkeit haben werden?

Denn man begreift ... dass heute alles darauf gerichtet ist, zu urteilen. Wer urteilt, erweist sich als selbstbewusst. Jedes Urteil stärkt das eigene Selbstgefühl. Und ist nicht dies heute das Nonplusultra? Überall schweben Urteile in der Luft. Wer urteilt, ,weiß’ scheinbar etwas – und kommt heute nicht alles auf das ,Wissen’ an? Wohin käme man, wenn man alles in der Schwebe ließe ... und selbst auch niemals wüsste, ,woran man ist’? Aber das ,Wissen’ ist totes Wissen – und kann an völlige Unwahrheit grenzen. Und das ,Deuten’ und ,Einsortieren’ tötet gerade das Leben, das viel tiefer, viel unschuldiger und viel wunder-voller sein kann, als alles, was man ,wissend’ erfassen zu können glaubt. Das Tiefste entzieht sich gerade ... und würde sich erst der Ehrfurcht zeigen können als das, was es ist – nämlich tatsächlich ein Wunder, verletzlich bis ins Unendliche...

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Und dann steht man vor der Realität – und sieht etwa diesen Schulhof mit den Massen von Jugendlichen, die sogenannten ,Peergroups’, die Unterhaltungen, den Streit, wer besser ist, Ronaldinho oder Mbappé, man hört die Dialoge, die unmittelbar eine Seelenarmut offenbaren, die gedankenlos hingeworfenen Bemerkungen, Sticheleien bis hin zum Mobbing – und man begreift: in einem solchen Umfeld hätten Rémi und Léo nicht den Hauch einer Chance gehabt. In keinem Moment.

Und etwa später? Ist die immer nach Coolness schielende ,Kultur’ der Jugendlichen nicht ein völliges Abbild der Erwachsenenwelt. Ist der ganz normale ,Wahn-sinn’ des Kapitalismus denn etwas anderes? Als die völlige Missachtung alles Zarten, Verletzlichen, Stillen, Langsamen...?

Rémi und Léo verkörpern eine radikal post-kapitalistische Welt, in der es auf diametral andere Werte ankommt: Phantasie, Zeit, Stille, Freude, Unbeschwert- und Unbefangenheit, Vertrauen, Innigkeit, bedingungslose Liebe.

Man würde sich grenzenlos selbst belügen, würde man glauben, es müssten einfach nur die ,Kinder’ lernen, jeden sein zu lassen, wie er ist. Der abstrakte Toleranzgedanke wäre so verstanden nur ein gigantisches Feigenblatt, mit dessen Hilfe man glauben würde, das täglich grenzenlos Mörderische des Kapitalismus, des Egoismus der Postmoderne generell, nicht sehen zu müssen.

Der Film ,Close’ ist in voller Konsequenz eine radikale Absage an den Kapitalismus überhaupt – denn das Zarte, das Verletzliche, kann nicht in einem System überleben, das ständig Leistung fordert, den Stärkeren belohnt, den Egoismus anstachelt und die Menschlichkeit ausrottet, überall.

Es geht nicht nur darum, dass die unschuldige Innigkeit dieser beiden Freunde bereits an der ,harmlosen’ Frage eines Mädchens zerbrechen musste – es geht darum, dass in der Seele gerade dieser beiden Jungen Qualitäten leben, die vom Kapitalismus nicht einen Tag lang zugelassen würden. Sie führen das Menschliche in unglaubliche Tiefen – aber sie sind nicht kapitalisierbar, und darum müssen Rémi und Léo scheitern. Schon in der Schule. Es ist so vorgesehen. Alles treibt darauf zu. Sie haben sich anzupassen – und was nicht passt, wird passend gemacht. Wer es nicht schafft, war eben nicht lebensfähig. So einfach ist das am Ende. Man muss der Realität ins Auge sehen.

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Sämtliche humanen Werte sind letztlich scheinheilig, wenn man den Kapitalismus nicht hinterfragt – denn dieser verrät sie tagtäglich vollkommen offen, und man muss nur hinsehen.

Das wahrhaft Menschliche leben Rémi und Léo – bevor sie scheitern. Mit derselben stillen Innigkeit könnte eine Krankenschwester am Bett eines kranken Menschen sitzen ... aber das ist nicht vorgesehen. Sie wird ja schließlich nicht ,fürs Rumsitzen bezahlt’. Auch der knallharte Krankenhausbetrieb muss sich auszahlen – irgendjemand will auch hier Profit machen. Stille, Innigkeit, Liebe ... sie haben ausgedient. Sofort würde auch hier die Frage auftauchen: Ist die Krankenschwester mit dem Kranken ,zusammen’? Will sie ,anbändeln’? Wir können das wahrhaft Menschliche gar nicht mehr denken, geschweige denn zulassen. Die vom Kapitalismus dominierte Welt ist von Grund auf korrumpiert, bis in tiefste Seelengründe hinein.

Denn wir wissen, was das wahrhaft Menschliche wäre – und verraten es täglich. Eingespannt in die Maschinerie, die wir selbst für alternativlos halten. Während ein Film wie ,Close’ uns vor Augen stellt, dass die Alternative unser wahres Wesen wäre.

Wir möchten Léo raten, doch ein bisschen mehr zu seinen wahren Gefühlen zu stehen, den Mut zu haben, sich zu seiner innigen Verbindung mit Rémi zu bekennen. Aber wer von allen Zuschauern erkennt dann noch das Letzte ... nämlich dass wir alle selbst Léo sind. Dass wir alle selbst Rémi verraten – das wahrhaft Menschliche, unser eigenes Wesen. Wann hat dieses sich das Leben genommen, wie lange ist es schon her...?

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Und es ist erschütternd, dann Filmrezensionen zu finden, deren Schreiber offenbar unfähig sind, sich auf den Film wirklich einzulassen. Eine Kritikerin etwa schreibt:[o]

Einige werden ihn vermutlich als etwas manipulativ empfinden. Und haben dabei nicht ganz unrecht, denn auf vollkommenste Idylle folgt zwangsläufig die schlimmste Tragik, das lehrt einem das Kino. Close ist dabei keine Ausnahme und setzt die dafür bekannten Stilmittel effizient ein.

Sie begreift nicht, dass die ganz reale Wirklichkeit ausreicht, um diese Tragödie zu schaffen, ja dass sie unausweichlich ist – und die einzige Alternative darin bestanden hätte, dass sich die tiefe Innigkeit auch auf Seiten von Rémi einfach ,auswächst’. Aber dafür ist dieser Junge zu empfindsam. Dieselbe Kritikerin schreibt:

Gerade die blühenden Blumenfelder bilden immer wieder eine außergewöhnliche, manchmal fast schon kitschige, Kulisse. Sie sind wiederum ein starkes Symbol für den Menschen und das Kind, das man hegen und pflegen muss, damit es erblüht, aber das auch irgendwann aus den Händen gerät, das man nicht mehr beschützen kann und das sich auf die eigene Reise in die Welt begibt.

Wiederum offenbart das Urteil ,kitschig’ nur die Grenze, bis zu der die eigene Empfindung reicht – denn nur die größere Wahrhaftigkeit käme über jene Grenze hinaus. Zudem sieht sie hier ,die Welt’ als etwas alternativlos Objektives, als sei die von Dhont dargestellte Wirklichkeit nicht gerade das Problem. Und als sei es nicht schon das Problem, dass sich Léo schlicht niemandem anvertrauen kann – nicht einmal sich selber... Die von ,Kitsch’ sprechende Rezensentin erkennt überhaupt nicht, dass sie nicht bereit ist, die Dinge bis zu Ende zu denken, um an der Grenze der Machtlosigkeit zu erkennen, dass das Problem riesig ist ... aber dass jedes Problem auch eine Lösung hätte...

In einer Kritik des evangelischen Filmdienstes (!) heißt es, dass die Freundschaft der beiden Jungen ,unter dem Druck pubertären Gruppenzwangs zerbricht’ [o]. Dies ist höchst einseitig formuliert. Denn wie wir sahen, ist die Wahrheit noch viel subtiler. Die Einzelnen müssen nicht einmal wollen, dass man sich so oder so verhält (als Junge zum Beispiel nicht zärtlich) – es reicht bereits, dass das, was wahrgenommen wird, gedeutet wird. Nicht um ,pubertären Gruppenzwang’ geht es, sondern um den Deutungszwang, der unserer gesamten Kultur eigen ist. Daran zerbricht die Freundschaft – an nichts anderem.

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Besonders betroffen macht eine Rezension auf ,Filmstarts.de’. Sie findet die ,von den Normen der heterosexuell geprägten Gesellschaft mit Argusaugen’ betrachtete innige Freundschaft ,sehr genau und subtil beobachtet’, nur um dann eine ,ebenso radikale wie problematische Drehbuchwendung’ sehen zu meinen, die ,den Film in eine völlig andere Bahn lenkt’. Die tiefe Konsequenz dieser Entwicklung scheint dem Rezensenten völlig zu entgehen! (Man hätte von der Rezension der ,New York Times’ lernen können, die von der Tragödie schreibt: ,something a viewer might have dreaded and hoped was not coming’).

Mit derselben Unempfindsamkeit blickt der Rezensent dann auf den Kontrast zwischen dem Oboe-Spiel von Rémi (das er mit Klarinette verwechselt) und dem Eishockey – für ihn deute dies nur an, ,wie schematisch Dhont seine Geschichte bisweilen aufbaut, wie sehr er seine Dramaturgie einer gewollten Intention unterwirft’. Auch hier wird die tiefe innere Wahrheit und Konsequenz nicht ansatzweise empfunden. Nichts liegt näher, als dass der empfindsame Rémi ein solches Musikinstrument spielt – und dass Léo dem Schulkameraden zu einem solchen Sport folgt, wo er ,jungenhaft’ genug sein kann...

Der Rezensent weiter: ,So brillant es Lukas Dhont in den ersten 45 Minuten gelingt, den langsamen Prozess der Entfremdung zu schildern, so einfach macht er es sich in der zweiten Hälfte. [...] fühlt sich zugleich aber auch viel gewollter an.’

Die Krankheit der Umwelt lebt auch voll und ganz in dem Rezensenten – auch er muss fortwährend deuten. Hier deutet er ,Intention’ und ,Gewolltheit’ in einen Film, der sich so ,ungewollt’ offenbart wie selten ein Film. Dhont macht sich und dem Zuschauer nichts einfach – im Gegenteil. Die zweite Hälfte ist so quälend und eindringlich wie kaum ein anderer Film. Aber der Kritiker und Deuter lässt es an sich abtropfen! ,Ein guter Film’ bleibe ,Close’ zwar bis zum Ende, ,aber es hätte auch ein großartiger werden können’. Dass er keiner Tragik ausweicht, ist gerade das großartige!

Was wäre gewonnen, die bloße Entfremdung weiter zu verfolgen, vielleicht noch irgendein mühsames Wieder-Zusammenfinden, das doch niemals mehr die einstige Tiefe hätte haben können? Solch einen Film hätte jeder drehen können. Dhont aber wollte die ganze Tiefe dieser innigen Bindung zeigen – und das war nur möglich, indem sie ganz zerbrach, weil Rémi ihren schleichenden Tod ganz und gar nicht aushielt. Diese innere Logik und Konsequenz zu begreifen, braucht man bereits jenes Zartgefühl, dass einem Regisseur folgen kann, ohne auch ihm bereits hundert Dinge zu unterstellen.

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Noch extremer dann eine andere Besprechung von ,Film-Rezensionen.de’. Sie spricht zunächst ganz richtig von den Erwartungsmustern an die ,soziale Rolle Mann’ und Fragen von Romantik, Freundschaft und Intimität – nur um dann fortzufahren:

All diese angesprochenen Themen haben dabei aber ein Problem. Sie werden nicht zu Ende erzählt. Der Film hat in der Mitte einen sehr starken Bruch und verändert sich radikal. [...] Es wirkt ein wenig so, als sei der Bruch zum Zwecke des Bruchs drin und nicht, weil das Angefangene narrativ davon profitieren würde.

Und als wenn das nicht genug wäre, steigert sich die Kritik nochmals:

Der Film ist mit dieser wahnsinnigen Überinszenierung zwar sehr immersiv, strapaziert die Suspension of Disbelief aber gewaltig. Sobald man aus dieser rausfällt, und bei seiner langsamen Erzählweise kann das durchaus passieren, kann der Film in seiner Melodramatik wahnsinnig nervtötend und prätentiös wirken. Auch kann das Verständnis für das Handeln der Figuren schnell aufhören. Denn die Unfähigkeit, ihre Gefühle für einander auszudrücken, ist zwar mit einer großen Tragik versetzt, bleibt aber immer auch stark konstruiert.

Es ist bezeichnend, dass all diese ,Besprechungen’ von Männern geschrieben wurden. Die Schizophrenie gerade dieser Rezension besteht darin, dass sie es für ,stark konstruiert’ hält, dass Léo und Rémi auf einmal in einer Art Sprachlosigkeit versinken – während gerade der Rezensent selbst nicht einmal genügend Gefühle hat, den Protagonisten innerlich auch nur zu folgen! Sprach eine frühere Kritik von ,Kitsch’, so spricht er von ,Melodramatik’ und ,wahnsinnig nervtötend’ und ,prätentiös’ (gewollt) – beweist damit aber nur die eigene Empfindungsarmut und mangelnde Bereitschaft zu echter Hingabe.

Die Sprachlosigkeit von Léo und Rémi liegt dagegen gerade in ihrer tiefen Empfindsamkeit. Dass Rémi sprachlos ist, wird jeder unmittelbar verstehen, der selbst die Empfindsamkeit kennt. Der Begriff ,sprachlos’ hat einen tiefen Sinn – und wenn jemand sprachlos sein muss, dann Rémi, er ist bis ins Innerste erschüttert ... und er sagt genug, vielfach, auch er geht bis an seine Grenzen. Mehr ist ihm nicht möglich, dafür ist der Schmerz zu groß.

Und Léo? Seine tiefe Empfindsamkeit besteht auch darin, dass er von den Normen, die ihm schon in der ,harmlosen’ Frage des Mädchens entgegenschlagen, überwältigt wird. Er empfindet die darin liegenden Deutungen und Urteile viel zu intensiv, um sich gegen sie wehren zu können. Auch das ist tiefe Empfindsamkeit. Ihn bringen sie völlig aus dem Gleichgewicht. Er kann dieses Urteil nicht ertragen. Er empfindet es als so schwerwiegend, dass er willentlich-unwillentlich sogar das Kostbarste verraten muss, was er hat. Der Keil zwischen die beiden Jungen wird gerade möglich, weil auch Léo tief empfindsam ist.

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Es ist dann eine Frau, Yasemin Ergin, die schreiben kann [o]: ,In berückend schönen Bildern’ erzähle der Film ,von dem besonderen Band zwischen den beiden Freunden. Einen so zärtlichen, so liebevollen Umgang zwischen zwei befreundeten Jungen hat man im Kino bislang nur selten gesehen.’ Und "Close" sei ,ein großartiges, aufwühlendes Drama, das mitten ins Herz trifft - wunderschön und tieftraurig’.

Eine andere Rezensentin schreibt: ,Ein vielsagender Blick, ein paar blöde Bemerkungen – anders zu sein, braucht Mut. Léo hat ihn nicht.’ Das macht die Sache viel zu einfach! Es schüttet die Tatsache zu, dass Léo diesen Mut gar nicht haben kann – dass die Urteile und Deutungen jeden Jungen überwältigen müssen. Am Ende heißt es dann, ,Close’ sei ,ein tieftrauriger Film über die Macht des Anpassungsdrucks in einer Gesellschaft mit normierten Geschlechterbildern. Und ein Plädoyer dafür, Freundschaft als eines der wertvollsten Geschenke im Leben zu betrachten.’

Das ist immerhin irgendwo wahr, aber reduziert die Essenz wiederum auf eine ,Take-home-Message’. Es geht nicht um den Anpassungsdruck ,normierter Geschlechterbilder’. Man hätte die beiden Jungen als zärtliches Liebespaar ja mehr oder weniger akzeptiert! Das Problem liegt viel tiefer. Jenseits aller normierter Geschlechterbilder liegt es im Urteilen an sich. Auch Jungen dürften zärtlich sein. Aber bedeutet Zärtlichkeit ,Zusammensein’? Oder kann man es einfach völlig offenlassen, was es ist und nicht ist? Das ist das Problem – nichts anderes.

Und ,Freundschaft als eines der wertvollsten Geschenke’ zu betrachten, ist eine billige Binsenweisheit. Es ging um diese Freundschaft – die alles in den Schatten stellt, was sonst unter ,Freundschaft’ läuft. Es geht um die Frage, wie tief arglos-unbefangene Innigkeit reichen darf, bevor sie Blicke, Deutungen und Fragen auf sich zieht. ,Close’ ist kein Film über Freundschaft. Es ist ein Film über die Grenzen, die wir diesem Begriff ziehen, weil wir nicht mehr aufrichtig genug sind. Alle nicht. Überall nicht. Es geht dem Film eigentlich um ,die letzten Fragen’. Wie ernst nehmen wir Zuneigung und Liebe, radikal? Wo sind unsere Grenzen – und warum?