18.02.2023

,Close’ und die Verletzlichkeit von Mann und Mädchen

Mit dem Herzen sehen lernen.


Inhalt
Das heilig Unaussprechliche
,Seid ihr zusammen?’
Mann und Mädchen
Toxische Tendenzen
Close – das heilige Geheimnis des Zärtlichen


Das heilig Unaussprechliche

Der Film ,Close’ des jungen belgischen Regisseurs Dhont ist ein unglaubliches Kleinod. Er macht auf eine kaum für möglich zu haltende Weise erlebbar, wie zart, verletzlich und unwiederbringlich so etwas wie tiefe Innigkeit und bedingungsloses Vertrauen ist. Eine heilige Zuneigung und Liebe in absoluter Unschuld.

Dieses ganz Zarte, nicht weiter zu Beschreibende, nur als Mysterium zu Erlebende, mit Ehrfurcht im Herzen Wahrzunehmende, ist grenzenlos verletzlich. Es reicht die simple Frage: ,Seid ihr zusammen?’ Schon diese Frage schleudert die innig miteinander Verbundenen in den Blick der äußeren Welt, in das Reich der äußeren Urteile, der Neugier, der Schubläden. So harmlos die Frage auch gemeint sein mag – sie entstammt dem Reich eines bloß äußeren Blickes, eines Blickes, der feste Begriffe haben will, Kategorien, ein Koordinatensystem, doch all dies ist bereits ein vernichtender Übergriff.

Das innige Verhältnis von Léo und Rémi lebt gerade in der tiefen Unmittelbarkeit, in dem absolut Unausgesprochenen und Unaussprechlichen. Es ist gelebte Unschuld. Sie leben eine Nähe, zu der niemand sonst heute mehr diesen Mut hat. Sie wiederum wissen noch gar nicht, dass dies etwas so Besonderes sei.

Hier liegt der Punkt, wo ihre innige Nähe angreifbar und verwundbar ist – tödlich verwundbar. Es ist das Aufwachen zu der Erkenntnis, dass sie unnormal sind. Ausreißer der Statistik. Sonderlinge. Ein Wunder mitten im Alltag. Aber dieser Alltag kann das nicht anerkennen. Das Unnormale muss Argwohn erregen. Urteile hervorrufen. Sticheleien und Lästereien. Was anders ist als man selbst, muss irgendwie ,angegangen’ werden, denn man will sich selbst bestätigt sehen.

,Seid ihr zusammen?’

,Seid ihr zusammen?’ Jede andere Antwort als die Bestätigung der Schublade würde dazu führen, dass die Seele, die diese Frage gestellt hat, sich selbst eingestehen müsste, dass auch ohne eine explizite ,Liebesbeziehung’ eine unendlich viel größere Nähe möglich ist, als irgendjemand sie wahrmacht. Man muss an seiner Schublade festhalten, weil man sonst mit der Tatsache konfrontiert wäre, dass man die eigene tiefste Nähe-Fähigkeit bereits seit Urzeiten ... verraten hat.

Léo kann dies alles noch nicht durchschauen. Er begreift nur, dass äußere Normen auf ihn hereinstürzen und er von Deutungen und Urteilen in eine Ecke gedrängt wird, in der er schon deshalb nicht sein will, weil jede Beziehung nur im Mysterium der Freiheit blühen kann. Auf ein Urteil festgelegt wäre die unschuldige Unmittelbarkeit nicht mehr das, was sie sein muss, um ihr heiliges Wesen zu behalten.

Aber die Urteile schwinden ja nicht. Es sind Deutungen, die die heilige Beziehung dieser beiden Freunde zutiefst verraten, weil sie ihr in keiner Weise gerecht werden können. Aber sie schwinden nicht. Und Léo hat nur eine Wahl: Wenn er nicht mit dem Stempel leben will, muss er sich von dem Heiligsten lossagen, was er bis dahin erlebt und gelebt hat. Er muss sich von Rémi lösen, weil fortan alles in ihrer Verbindung unter dem Stempel stehen würde.

So gesehen ist es sogar ein Schutz des Heiligen selbst. Léo verrät die Beziehung, aber er schützt damit in gewisser Weise das bisher Gewesene, denn nun wird es nicht mehr beurteilt werden. Und doch dient die Abkehr von Rémi vor allem seinem eigenen Bedürfnis, von niemandem als ,schwul’, ,Schwuchtel’, ,mit einem Jungen zusammen’ oder was auch immer gesehen zu werden. Von dieser eigenen Not getrieben, begreift er gar nicht, was er Rémi damit antut. Und als er das ganze Ausmaß begreift ... ist es zu spät.

Mann und Mädchen

In tiefster Hinsicht ist es in keiner Weise verwunderlich, dass dieser Film nun berührende Bezüge zu meinen Romanen aufweist, in denen ein Mann und ein Mädchen einander begegnen und sich ebenfalls eine sehr zarte, innige Beziehung entfaltet.

Es ist offensichtlich, wie massiv hier die Urteile bereits sein werden, ohne auch nur irgendeinen Einblick in die Realität dieser Begegnung zu haben. Aber man sei einmal so aufrichtig und übertrage diesen Film ,Close’ auf Mann und Mädchen. Man stelle sich einmal eine zärtlich vertrauensvolle Bindung vor – und nun die ganzen Urteile darüber. Kann man sich vorstellen, dass allein schon diese übergriffigen Urteile eine solche, tief unschuldige Beziehung zerbrechen lassen werden?

Denn diese Urteile werden nicht einmal ansatzweise so ,harmlos’ sein wie die Frage ,Seid ihr zusammen?’. Mann und Mädchen werden von vornherein einen absolut brutalen Stempel haben. Und das Mädchen könnte innerhalb kürzester Zeit unter diesen ganzen Deutungen, Urteilen und Stempeln zusammenbrechen. Eine Beziehung mit einem Mann, so zärtlich, so vertrauensvoll, so innig, so behutsam auch immer ... ,ist schlecht’, und ,du bist ein Opfer’, und ,was findest du an dem’ und ,spürst du den Missbrauch nicht?’ Tag für Tag wird dieses Gift auf das Mädchen eindringen – bis es zusammenbricht und sich lösen muss.

So, wie Léo es nicht ertragen konnte, dass er angeblich mit Rémi ,zusammen war’, diese ganzen Urteile einfach nicht mehr aushielt ... und verraten musste, was ihm am kostbarsten war. Gezwungen von der Außenwelt und ihrer subtilen Gewalt.

Oder vielleicht auch umgekehrt. Das Mädchen hält in unbeirrbarer Treue an der Beziehung fest – wie Rémi –, aber der Mann zerbricht an den Tag für Tag in der Luft liegenden Vorwürfen und muss sich von dem Mädchen lösen, weil er die Urteile nicht mehr aushält. Urteile, die ihn als schlimmstmöglichen Verbrecher abstempeln. Liebe zu Missbrauch erklären. Zartheit und Behutsamkeit überhaupt nicht anerkennen, Innigkeit als bloße Illusion verlachen und anderes mehr. Tag für Tag, ohne Ausnahme. Wer hält dies aus? Niemand.

Toxische Tendenzen

Dhont wurde zu seinem Film inspiriert, als er der Studie der Amerikanerin Niobe Way begegnete, die vor gut einem Jahrzehnt hunderte Interviews mit Jungen geführt hatte. Mit dreizehn sprechen sie von ihrer Freundschaft noch in einer Sprache, die man nur mit ,Liebe’ und Innigkeit vergleichen kann. Und zwei, drei Jahre später hatte sich dies völlig verändert – niemand wagte es mehr, diese Worte zu benutzen, die Freundschaft noch in dieser Tiefe zu beschreiben, alle hatten sich von dieser Innigkeit distanziert.

Natürlich hängt dies zusammen mit dem Bild, dem ein Wesen männlichen Geschlechts kulturell genügen muss. Ein jugendlicher Junge darf nicht mehr Empfindungen tiefer Zärtlichkeit haben – jedenfalls nicht gegenüber einem Freund. Er darf das Erleben von Innigkeit, bedingungslosem Vertrauen, von Hingabe und ,weichen Seiten’ nicht haben, nicht kennen, nicht verwirklichen, er darf dies alles nicht sein.

Hier sehen wir unmittelbar, wie unsere Kultur die toxische Leugnung tiefster und unschuldigster Empfindungen Tag für Tag reproduziert und aufrechterhält, insbesondere für die männliche Hälfte der Welt, zunehmend aber auch für die weibliche. Zartheit, Verletzlichkeit, gesteigert zu Innigkeit und gegenseitiger Hingabe ist, ab einer bestimmten Intensität und Aufrichtigkeit, so ,seltsam’ und ,absonderlich’ wie die einzigartig tiefe Freundschaft zwischen Rémi und Léo.

Sie wird durch unzählige unausgesprochene, aber gleichwohl existente Urteile tagtäglich ganz real aus der Welt geschafft.

Wir leben in einer Welt, die vor lauter ,Lässigkeit’ und ,Coolness’ das Geheimnis von Zärtlichkeit und echter Intimität im Sinne von einer heiligen Innigkeit immer mehr verliert. Hinzu kommt das heute geradezu chronische ,Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom’, das dadurch entsteht, dass schon Jugendliche jeden zweiten Moment auf ihr Handy blicken müssen – und ein tiefes seelisches Eintauchen vielen gar nicht mehr möglich ist. Dass empfindsamere Mädchen hier vielfach eine endlose Kette von Enttäuschungen erleben oder ungeheure Einsamkeitserlebnisse durchmachen, scheint niemanden zu interessieren.

Aber wenn eines dieser Mädchen dann eine zarte Beziehung mit einem Mann anknüpft, bei dem sie plötzlich so vieles von dem erlebt, was ihr ein tiefes Bedürfnis ist – dann ist das Geschrei groß! Dann hagelt es Urteile, die sich (ebenfalls) kein bisschen für das Mädchen interessieren. Die nur den imaginären Standard-Mann und das imaginäre Standard-Mädchen vor Augen haben und den ,Missbrauch’ bereits sehen, ohne hingucken zu müssen. Genauso, wie man bei Rémi und Léo ja auch alles gesehen hat – es ist doch nun mal offensichtlich. Die eigenen Unwahrhaftigkeiten und Übergriffigkeiten will man nie wahrhaben.

Close – das heilige Geheimnis des Zärtlichen

Wer den Film ,Close’ gesehen hat und es wirklich vermocht hat, sich auf diesen Film einzulassen, der versteht bis in sehr große Tiefen, dass es grenzenlos verletzliche Realitäten gibt – die so heilig sind, dass man ihnen gar keine Worte mehr geben kann, weil jedes Wort bereits eine Abstraktion, eine Profanisierung wäre, nicht mehr das Wirkliche.

Wer sich von diesem Film erschüttern ließ, sanft und unerbittlich hineinziehen, der kann aber auch Worte nicht mehr abstrakt auffassen. So ein Wort wie ,close’ hat nach einem solchen Film plötzlich einen ganz anderen Klang – fast wie ein lebendiges Wesen, ein zarter Kosmos. Manch einer wird erst nach diesem Film begreifen, was eigentlich das heilige Mysterium von Nähe ist. Gerade in dem englischen Wort lebt der ganze Bedeutungskosmos von grenzenloser Innigkeit, tiefster Vertrautheit, heiliger Geborgenheit ... ein Wunder in gleichsam zartester Blüte. Es ist das Geheimnis des Zärtlichen an sich.

Und es ist ein ,offenbares Geheimnis’, dass dieses Wunder auch zwischen Mann und Mädchen möglich ist – und mehr noch: nicht nur auch, sondern gerade zwischen Mann und Mädchen. Das zu begreifen, bräuchte es aber selbst eine Zärtlichkeit, wie sie als innerste Essenz von so einem Film wie ,Close’ ausgehen kann. Lässt man sich von ihm berühren ... schwinden für ebenjene Momente alle Urteile und man sieht die Wahrheit.

Sieht, wie auch ein Mann so zart und behutsam, so vorsichtig, so scheu, so ehrfürchtig sein kann wie eine Blüte. So verletzlich wie ein Mädchen. So empfindsam wie Rémi. Dem Mädchen alles schenkend, was es an Nähe sich je gewünscht hat, verbunden mit wundervoller Tiefe, zarter, bedingungsloser Geborgenheit, unendlicher Freiheit... Wer kann noch bezweifeln, dass es Schicksalsbegegnungen zwischen Mann und Mädchen gibt, die so erfüllt von namenlosem Glück sind wie das Wunder zwischen Léo und Rémi, als das Mysterium noch lebte.

Close... Das Mysterium tiefer Nähe. ,Seid ihr zusammen?’ Vielleicht. Aber um diese Frage geht es überhaupt nicht. Es geht um etwas viel Zarteres. Und dies bleibt unaussprechlich. Glück hat keine Worte. Man muss es leuchten sehen. Dazu aber gehört Demut.