07.07.1996

Wo bleibt die gemeinsame Vision?

Diesen Brief schrieb ich 1996 an verschiedene Umweltverbände, da die einzelnen Organisationen alle für spezifische Ziele eintreten, aber das große Ganze, für das doch implizit alle eintreten, damit nicht erreicht werden kann. / Siehe auch meine Briefe nach entsprechenden Rückmeldungen an den BBU und Greenpeace.


Liebe Leute! 

Ich bin mit dem Zustand unserer Welt sehr unzufrieden und unglücklich, verfolge schon lange Politik, Umwelt- u.a. Bewegungen und möchte ebenso lange schon selber aktiv werden. Nun tue ich den ersten Schritt, indem ich Euch schreibe, Fragen stelle und meine Ideen darstelle.
Welche Ziele habt Ihr auf gesamtgesellschaftlicher Ebene und wie wollt Ihr sie erreichen? Habt Ihr konkrete Leitbilder oder Bausteine, wie unsere Welt im Idealfall aussehen sollte?

Inzwischen ist oft von "Global denken, lokal handeln" die Rede. Doch meiner Meinung nach sind viele gesamtgesellschaftliche Weichenstellungen (Gesetze etc.) nötig, um ein gesamtgesellschaftliches Umdenken erst zu ermöglichen und in die Wege zu leiten.

Damit die Menschen, die sich eine bessere Welt vorstellen, überhaupt eine Chance haben, müssen sie Ihre Energie bündeln. Deswegen frage ich mich, warum nicht alle Umwelt-, Entwicklungs- u.a. Organisationen eine Art "ständige Ver­sammlung" einrichten, einen gesellschaftlichen Diskurs einleiten (zumindest unter den jetzt bereits Interessierten), schließlich einen Konsens über die wesentlichen Elemente einer erstrebenswerten gesellschaftlichen Vision erzielen und die Umse­tzung dann mit einer Stimme von den Politikern fordern.

Natürlich hat dies nur Aussichten, wenn ein großer Teil von uns - der Bevölke­rung - aktiv hinter und in dieser Bewegung steht. Deswegen müßte diese Diskus­sion und dieser Konsens in die Bevölkerung getragen werden, was einen drasti­schen Effekt hätte. Ich glaube nämlich, daß die in den verschiedenen Organisa­ti­o­nen als Mitglieder vertretenen Menschen nur die Spitze eines ziemlich großen Berges von wirklich interessierten und auch berührten Menschen sind, daß aber die meisten z.B. der Umweltbewegung fernbleiben, weil sie denken oder sehen, daß nichts Entscheidendes verändert werden kann. Der nega­tive Trend kann höchstens abgebremst werden, doch wozu dann noch die wenige freie Zeit mit der Familie opfern... Ein Signal, daß wirklich die Möglichkeit entscheidender Veränderungen, einer "besseren" Welt versprechen könnte, wäre erst die Tatsache, daß sich alle Men­schen, denen etwas daran liegt, zusammentun, um gemeinsam Ihr Ziel zu vertreten.

Lokale Aktionen und Forderungen mögen auf Ihre Art sehr sinnvoll sein. Aber es ist auch eine Tatsache, daß sogenannter Umweltschutz, sogenannte Entwicklungs­hilfe hierzulande hervorragend institutionalisiert und in alle Entscheidungen eingebunden ist (wenn auch trotzdem noch zu wenig!?) und gerade dadurch keine wirkliche Gefährdung des herrschenden Systems von Kapitalismus, Auto-Gesell­schaft, ungerechtem Welthandel etc. mehr darstellt.

Man glaubt, im Kleinen Erfolge zu erzielen, aber der große Umschwung (den man sowieso nicht mehr für möglich hält) wird gerade dadurch erst verhindert, daß man dem System soweit entgegenkommt; daß man es auf institutionalisierten Bahnen kritisieren darf, aber seine eigentlichen Forderungen und Träume gar nicht mehr ernsthaft, konsequent und ununterbrochen artikuliert.

Welches Leitbild steht denn hinter unseren ganzen Stellungnahmen zu Eingriffen, hinter konkreten Protestaktionen gegen eine neue Autobahn, hinter Protesten gegen neue Asylgesetze oder das Vorgehen von Shell in Nigeria etc.? Wieso können wir nicht unsere ganze Kraft darauf konzentrieren, dieses Leitbild einzufordern und unsere Mitmenschen wachzurütteln aktiv zu machen und zu gewin­nen - dies alles entschlossen, lautstark und vereint?
 

Antwort vom 24.7.1996 an BBU (Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz):


Liebe Frau Reetz,

Ich danke Ihnen für Ihre schnelle Antwort auf meinen Brief vom 7. Juli. Nun hoffe ich, daß Sie sich noch die Zeit nehmen, meine Antwort zu lesen.

Sie schrieben, UmweltschützerInnen sind aktiv, weil sie sich dadurch selbst verwirklichen - nicht, weil sie mit einem Wachrütteln der Mitmenschen und einem großen Umschwung rechnen. Wenn das tatsächlich der Fall wäre, habe ich sämtliche "neue" soziale (einschließlich der Umwelt-)Bewegungen völlig mißverstanden und würde mich enttäuscht abwenden.

Daß wir uns durch unser Aktivsein selbst ver­wirk­li­chen, ist doch selbstverständlich, aber es entspringt doch dem Wunsch nach einer besseren Welt, oder? Natürlich wären viele von uns auch dann noch aktiv, wenn sie genau wüßten, daß sie nichts ausrichten könnten, aber wir hoffen doch darauf, möglichst viele unserer Ideale eines Tages verwirklichen zu können!? Und wollen wir nicht unsere Mitmenschen wachrütteln, da man doch nur gemeinsam leben kann? Und sie davon überzeugen, daß es viel erfüllender ist, wenn man fried­licher mit-einander und seinen Mitgeschöpfen lebt, materiellen Wohlstand nicht zur höchsten Norm macht, usw.?

Was ich in meinem Brief sagen wollte, ist folgendes:

Alle Umwelt-, Entwicklungs-, sozialen u.a. Verbände haben doch ähnliche Vorstellungen von einer menschlichen Welt, für die sie sich einsetzen. Ich meine Grundsatzfragen in solchen Bereichen wie Energie, Verkehr, soziales Netz, Naturschutz oder menschliches Miteinander.

Um auf der Ebene der bundespolitischen Entscheidungsträger hier entsprechende Grundsatzentscheidungen zu erreichen, ist es m.E. absolut notwendig, genau diese absolut basalen Weichenstellungen ständig zu fordern und dabei mit einer Stimme zu sprechen. Sonst sieht es u.a. nach außen hin so aus, als habe jeder Verband sein eigenes, jeweils etwas anderes Konzept - daher braucht und kann man sich danach ja nicht richten. In dem Zusammenhang müßten also nicht nur die Umweltverbände Grundforderungen gemeinsam vorbringen, sondern sich auch diejenigen der sozialen Verbände zueigen machen und umgekehrt - am besten in Form eines Dachverbands ("für eine lebens­werte Welt" oder wie auch immer).

Abschließend kann ich nur wiederholen, daß das isolierte Vorgehen der einzelnen Verbände (mit einigen gemeinsamen Aktionen) wahrscheinlich immer nur dieselben kleinen Erfolge wie bisher bewirken wird, während die normale Entwicklung stetig und viel zu schnell die falsche Richtung nimmt und dem größten Teil der Umwelt, wie auch der sozialen Sicherung, den armen Ländern der Dritten Welt usw., keine Chance läßt!
 

Antwort vom 25.7.1996 an Greenpeace:


Lieber Matthias Gronemeyer,

Vielen Dank für die schnelle Antwort auf meinen Brief vom 7.7.; ich hoffe, Du nimmst Dir noch die Zeit, diesen Brief zu lesen, da ich es wichtig finde, Dir noch einmal zu erwidern.

Es ist klar, daß Ihr mit aktionsorientierter Umweltschutzarbeit, speziell bei Eurer Betonung einzelner Schwerpunktthemen kaum einmal gemeinsam mit anderen Verbänden vorgehen könnt. Was ich aber mit meinem Brief meinte, ist folgendes:

Neben den ganzen Aktionen, Protesten etc. gegen konkrete Mißstände geht es doch vor allem darum, ständig außerdem die Leitbilder darzustellen und ihre Verwirk­lichung einzufordern. Und wie konkrete Aktionen oft nur allein unternommen ef­fek­tiv sind, ist dieses Beharren auf "großen bzw. groben Idealen" nur gemein­sam und geschlossen aussichtsreich.

Zwar ist es im Grunde klar, wenn Greenpeace z.B. Szenarien künftiger Energienut­zung erstellt, welche Leitbilder und Utopien dahinterstehen, doch glaube ich, daß es essentiell ist, auch diese immer wieder auch direkt darzustellen, "mit Leben zu füllen" und die konkreten Forderungen noch deutlicher als Schritte dort­hin darzustellen.

Von allen Verbänden gemeinsam getragene Leitbilder und Forderungen, die einem Grundkonsens von einer menschlicheren (Mit-)Welt entspringen, sind letztlich auch ein entscheidendes Signal für jeden einzelnen. Dies berührt eine grundsätzliche Frage, nämlich ob die zunehmend konstruktiv-kooperative Haltung der Umweltverbände über eine Politik der kleinen Schritte letztlich bzw. auch schnell genug in die richtige Richtung führt; oder ob der Umweltschutz nur in das gegenwärtige System nach dessen Regeln und Verständnis integriert wird und entscheidende Durchbrüche nie erreicht werden, bzw. erst dann, wenn sie durch negative Trends immer längst konterkariert wurden.

Ich denke auch, daß nur konstruktive Opposition überhaupt zum Ziel führen kann. Aber ich bin der Auffassung, daß wir als engagierte Umweltschützer größtenteils ein grundsätzlich anderes Ideal des Zusammenlebens und der Lebensweise haben, als es zur Zeit einfach existiert und reproduziert wird. Es ist einfach wichtig, diese Tatsache nicht nur nie aus den Augen zu verlieren, sondern sie allen Dis­kus­sions- u.a. "Gegenübern" stets deutlich vor Augen zu halten.

Wenn es nicht nur um eine nachhaltige Entwicklung als Lebensgrundlage des Men­schen geht, sondern auch um das Wie dieses Lebens und unsere Einstellung zur Umwelt, können wir jetzige Gegner und Indifferente bzw. "Unwissende" nur über­zeu­gen und gewinnen, indem wir unsere Vorstellungen von diesem "Wie" deutlich und genauso darstellen, wie wir sie sehen: attraktiv, erstrebenswert und lebens­wert. Wenn alle Umweltverbände einen Teil ihrer Kräfte dafür aufwenden, auf diesem Feld wie selbstverständlich gemeinsam zu agieren (und so, wie ich im ersten Brief andeutete, einen zumindest "quasi-"gesellschaftlichen Diskurs ein­zu­leiten), könnte vielleicht endlich ein wirklicher, massiver Bewußtseinswandel in unserer Gesellschaft einsetzen. Im Moment scheint mir hingegen oft der Alltag von Politik einerseits und Aktion der Umweltverbände andererseits auf die Allge­meinheit wie ein in sich stimmiges System zu wirken, in dem die Verbände einfach die Aufgabe haben, ständig ein wenig zu kritisieren und zu verbessern, aber nie der Gedanke aufzukommen, daß fundamental etwas nicht in Ordnung ist.

Es gäbe noch viel Ergänzendes zu sagen, aber ich lasse es einmal hierbei und hoffe noch einmal auf Deine Antwort.