Vor 2001
Wie kommen die drängenden Fragen in die Medien?
Den folgenden Brief schrieb ich am 15.7.1997 an den Chefredakteur der „Woche“, einen gleichen Brief auch an den Chefredakteur der „Zeit“.
Sehr geehrter Herr Bissinger,
Mit den folgenden Zeilen möchte ich auf die angesichts der drängenden Probleme unserer Zeit sich ergebende Notwendigkeit einer gesamtgesellschaftlichen Diskussion hinweisen, sowie die entscheidende Rolle und Verantwortung der Medien - hier natürlich v.a. Ihrer Zeitung - herausstellen.
Nachdem ich diesen Brief geschrieben hatte, stieß ich auf Ihren Artikel "Stimmen gegen den Stillstand". Sehr erfreut las ich, daß auch Sie schreiben: Die Republik bedarf dringend der Diskussion um ihre Zukunft. Ich möchte am Ende kurz auf den Artikel eingehen.
Einleitung
Angesichts der Tatsache, daß sich in vielen Bereichen - wie z.B. Umwelt & Entwicklung, soziale Gerechtigkeit - großteils eine Verschärfung der (schon bisher teilweise schwerwiegenden) Probleme in der Zukunft abzeichnet, scheint mir eine möglichst gesamtgesellschaftliche Diskussion dieser Probleme dringend erforderlich. Das gegenwärtig oft zu beobachtende Phänomen, daß verschiedene Bereiche argumentativ gegeneinander ausgespielt werden (Beispiel: Umweltschutz - Arbeitsplätze/Standortdebatte) ist kontraproduktiv, um nicht zu sagen scheinheilig, da doch in allen diesen Bereichen Lösungen angestrebt werden soll(t)en, und um so mehr, da sie sich gegenseitig beeinflussen und zusammenhängen, oft nur zusammen wirklich lösbar sind.
Doch vor Neuerungen mit ihren nie genau vorherzusagenden Auswirkungen versuchen verschiedene Interessengruppen stets, den Status quo aufrechtzuerhalten, weil sie offenbar das Risiko fürchten, nach einer Neuerung letztlich schlechter dazustehen - oder einfach, um notwendige, aber unbequeme bzw. mit Kosten verbundene Anpassungen möglichst lange zu vermeiden.
Gesellschaftlich gesehen ist dies unverantwortlich, wenn Änderungen unter Beachtung aller Konsequenzen der jeweils alternativen Szenarien (Veränderung vs. Status quo bzw. "Nullszenario") von der Mehrheit der informierten Fachwelt als "objektiv notwendig" beurteilt werden, die "blockierenden" Interessengruppen dagegen den politischen Einfluß haben, diese Änderungen zu verhindern.
Politik und öffentliche Meinung
Politiker orientieren sich vorwiegend an der öffentlichen Meinung, wo diese ersichtlich ist; ansonsten müssen sie sich großteils nach Forderungen von Interessengruppen (mit ihrem teilweise großen, sektoralen Fachwissen, in jedem Fall aber großen "Fachwünschen") richten, die zu ihnen Zugang haben und offiziell für jeweils größere Teile der Bevölkerung stehen bzw. sprechen.
Sobald aber das gesellschaftliche Meinungsbild bekannt zu sein scheint, ergibt sich oft das Problem, daß die Öffentlichkeit bzw. Gesellschaft "naturgemäß" mehrheitlich nur oberflächlich informiert ist oder sich sogar völlig uninformiert eine Meinung macht. So scheint z.B. die "Unvereinbarkeit" von mehr Umweltschutz und sicheren Arbeitsplätzen auch eine feste Ansicht der meisten Bürger (geworden) zu sein.
Bei dieser Problematik sind zwei Punkte zu beachten: Die Mehrheit will im o.g. Fall sicherlich beides, entscheidet sich aber - überzeugt davon, daß sich beides ausschließt - für das scheinbar Näherliegende (der "eigene" Arbeitsplatz) gegen das andere (abstrakter Umweltschutz). Beide Punkte konkurrieren jedoch gar nicht direkt miteinander, sondern sind u.a. gemeinsam bedroht von der "Globalisierung der Wirtschaft" (genauer: mindestens u.a. vom globalen Wettlauf der Rationalisierung). Dies macht es leicht, beides gegeneinander auszuspielen, indem man verschweigt, daß diese Globalisierung auch ohne mehr Umweltschutz in ihrer Eigendynamik eine weiter anhaltende drastische Freisetzung von Arbeitskräften mit sich bringt.
Die gesellschaftliche Diskussion und die Rolle der Medien
Es ist wohl die Notwendigkeit ganz deutlich geworden, die von verschiedener Seite geforderten Maßnahmen bzw. politischen Entscheidungen als Szenarien mit allen ihren Auswirkungen auf sämtliche Bereiche des menschlichen und gemeinsamen Lebens deutlich und ausführlich darzustellen.
Es muß eine gesellschaftliche Diskussion über die zur Option stehenden Gesamtszenarien geben - oder zumindest eine voll öffentlich gemachte Diskussion der beteiligten "interessierten bzw. informierten Kreise".
Beides ist nur durch Medien möglich; daher kommt diesen eine umfassende Verantwortung für unsere Zukunft zu, indem sie entscheidend dafür mitverantwortlich sind, ob und wann Änderungen bzw. Neuerungen als notwendig erkannt/beurteilt und schließlich begonnen und umgesetzt werden.
Ein Konzept und die Konsequenzen
Deswegen stelle ich Ihnen folgende Idee zur Überlegung dar, die in gemeinsamer Absprache aller Beteiligten näher zu konkretisieren wäre:
Sie führen eine regelmäßige Kolumne ein, in der Vertreter der "informierten Kreise" aus den verschiedenen Bereichen (Wirtschaft, Umwelt & Entwicklung, Forschung etc.) ihre Ansicht über notwendige Entscheidungen darlegen, sowie über positive und negative Auswirkungen der zur Diskussion stehenden Szenarien unter klarer Nennung ihrer Grundannahmen deutlich und ausführlich darstellen. In den verschiedenen Ausgaben sollen sie zu jeweils bestimmten Themen auch aufeinander eingehen und zu Einwänden Stellung nehmen. Ebenso sollen Leserbriefe veröffentlicht werden.
Ich wiederhole: Es geht ja um die zentralen Problemkomplexe (nicht nur) unserer Gesellschaft, die - richtig dargestellt - jeden interessieren, der nicht vollkommen auf das Privatleben fixiert ist. Sie werden nicht nur eine Flut von Leserbriefen, sondern auch von neuen Lesern bekommen, die diese einsetzende Diskussion verfolgen und an ihr teilnehmen wollen, sofern sie nicht nur ein kurzes Leuchtfeuer ist, sondern wirklich langfristig institutionalisiert wird und dazu dient, strittige Fragen immer wieder neu und solange aufzuwerfen, bis die verschiedenen Ansichten und ihre Grundannahmen (sowie ihre Plausibilität) kristallklar offenliegen.
Schwächen der verschiedenen Ansichten und Ausnahmen sollen aufgegriffen und diskutiert werden, so daß sich auch jeder "Normalbürger" ein begründetes Urteil bilden kann. Damit wird er erst wirklich befähigt und auch ermuntert, an der Gestaltung unserer Zukunft mitzuwirken.
Letztlich soll die Mehrheit unserer Bevölkerung nicht nur den politischen Nicht-/Entscheidungen nachträglich zustimmen, sondern sie explizit einfordern. Dann wäre es für Politiker nicht mehr notwendig (und auch nicht zulässig), sich auf verschiedene Interessengruppen hinzuorientieren, die Sachverhalte naturgemäß aus ihrer Sicht und damit einseitig darstellen und darüberhinaus nur bestimmte Teile der Gesellschaft einseitig repräsentieren.
Zur weiteren Konkretisierung des Konzepts noch folgende Worte:
Am Anfang der Kolumne steht jeweils eine ansprechende Einführung für "Neuleser", die die Notwendigkeit und (u.a. moralische) Bedeutung der Kolumne bzw. Diskussion deutlich macht.
Die Organisation und Koordinierung der einzelnen "Referenten" (Kontaktaufnahme, Vorgaben unbedingt anzusprechender Punkte etc.) wird zumindest anfangs, evtl. auch ständig, eine anspruchsvolle Herausforderung sein. Sie kann zum Beispiel von bestimmten Verbänden aus dem Bereich Umwelt & Entwicklung übernommen werden, die spezielle Koordinationsstellen schaffen sowie eine detaillierte Konzeption der Vorgehensschritte liefern müßten.
Die "Stimmen gegen den Stillstand"
In bzw. nach Ihrem Artikel kamen ja nun auch Vertreter der "informierten Kreise" zu Wort. Wie zu erwarten, gab es die unterschiedlichsten Empfehlungen. Auch hier galt oft, was Herr von Lojewski meinte: Die Antworten kennt man eigentlich schon vorher.
Anders steht es eben mit den Grundannahmen und den verschiedensten Konsequenzen der Vorschläge. Kurz: Welches gesellschaftliche Leitbild hat derjenige, der z.B. Deregulierung oder aber "mehr Staat" fordert, was für eine Gesellschaft stellt er sich insgesamt vor und was sind die vielfältigen "Nebenwirkungen" seiner Forderung?
Zum Schluß möchte ich bemerken, daß bezeichnenderweise nur Herr von Weizsäcker als einsame Stimme die Umweltprobleme erwähnte. Dabei sind doch die Grundlagen unserer Gesundheit (in vielen Teilen der Welt auch die des Überlebens) gefährdet, ebenso auch die Grundlagen unserer Kultur (wenn z.B. in Kauf genommen wird, sich irgendwann völlig gegen Umweltflüchtlinge abzuschotten).
Die Probleme müssen, ganz richtig, "beim Namen genannt" werden, ihre relative Bedeutung muß klargestellt bzw. diskutiert werden.
Wie die Rede des Bundeskanzlers allein, werden auch 22 "Stimmen gegen den Stillstand" zu wenig in Gang setzen. Eine gesellschaftliche Diskussion kann nicht bedeuten, daß jeder versucht, die seiner Meinung nach dringlichsten Punkte möglichst überzeugend auszudrücken. Man muß aufeinander eingehen und es braucht Zeit, herauszufinden, wie die alternativen Szenarien insgesamt aussehen. Eine solche Diskussion muß in ihrer Notwendigkeit erkannt, wirklich gewollt, intensiv geplant und, sobald sie begonnen hat, intensiv gepflegt und betreut werden.
Sehr geehrter Herr Bissinger, ich würde gerne noch einiges mehr schreiben, insbesondere ein weiteres, leidenschaftliches Plädoyer anschließen. Im Vertrauen darauf, daß Sie sich auch aus den bisherigen Zeilen ein umfassendes Bild machen, beende ich jedoch diesen Brief mit der Hoffnung auf eine ausführliche Antwort.
Im August bekam ich dann ein Schreiben eines Vertreters der Zeitung, in der dieser auf Verständnis hoffte, dass mein Schreiben nicht als Leserbrief veröffentlicht wurde! Ich schrieb Herrn Bissinger am 31.8. nochmals:
Sehr geehrter Herr Bissinger,
In meinem Brief vom 15.7. an Sie hatte ich in Form eines Vorschlags skizziert, wie Ihre Zeitung eine wirkliche gesellschaftliche Diskussion der drängendsten Probleme unserer Zeit anstoßen und unterstützen kann. Ich hatte erwartet, daß Sie mir in einer Antwort schreiben, wie Sie meinen Vorschlag bewerten und die in ihm liegende Möglichkeit einschätzen.
Stattdessen bekam ich einen Brief von Herrn Nitschmann, in dem er auf Verständnis hoffte, daß mein Schreiben nicht als Leserbrief veröffentlicht wurde - dies hatte ich aber nie angestrebt. Mein Brief diente nicht dazu, eine Meinung loszuwerden, sondern ich macht in ihm einen wirklichen Vorschlag, der unserer Gesellschaft dienen soll.
Daher hoffe ich sehr, daß Sie ihn nachträglich als solchen verstehen wollen und bitte Sie herzlich, mir zu antworten.
Eine solche Antwort kam dann aber nicht mehr...