15.07.1997

Wie kommen die drängenden Fragen in die Medien?

Den folgenden Brief schrieb ich am 15.7.1997 an den Chefredakteur der „Woche“, einen gleichen Brief auch an den Chefredakteur der „Zeit“.


Sehr geehrter Herr Bissinger,

Mit den folgenden Zeilen möchte ich auf die angesichts der drän­gen­den Probleme unserer Zeit sich ergebende Notwendigkeit einer ge­samt­gesellschaftlichen Diskussion hinweisen, sowie die ent­schei­den­de Rolle und Verantwortung der Medien - hier natürlich v.a. Ihrer Zeitung - herausstellen.

Nachdem ich diesen Brief geschrieben hatte, stieß ich auf Ihren Artikel "Stimmen gegen den Stillstand". Sehr erfreut las ich, daß auch Sie schreiben: Die Republik bedarf dringend der Diskussion um ihre Zukunft. Ich möchte am Ende kurz auf den Artikel eingehen.

Einleitung

Angesichts der Tatsache, daß sich in vielen Bereichen - wie z.B. Umwelt & Entwicklung, soziale Gerechtigkeit - großteils eine Ver­schärfung der (schon bisher teilweise schwerwiegenden) Probleme in der Zukunft abzeichnet, scheint mir eine möglichst gesamtgesell­schaft­liche Diskussion dieser Probleme dringend erforderlich. Das gegenwärtig oft zu beobachtende Phänomen, daß verschiedene Be­reiche argumentativ gegeneinander ausgespielt werden (Beispiel: Um­weltschutz - Arbeitsplätze/Standortdebatte) ist kontraproduktiv, um nicht zu sagen scheinheilig, da doch in allen diesen Bereichen Lösungen angestrebt werden soll(t)en, und um so mehr, da sie sich gegenseitig beeinflussen und zusammenhängen, oft nur zusammen wirk­lich lösbar sind.

Doch vor Neuerungen mit ihren nie genau vorherzusagenden Auswir­kun­gen versuchen verschiedene Interessengruppen stets, den Status quo aufrechtzuerhalten, weil sie offenbar das Risiko fürchten, nach einer Neuerung letztlich schlechter dazustehen - oder ein­fach, um notwendige, aber unbequeme bzw. mit Kosten verbundene An­passungen möglichst lange zu vermeiden.

Gesellschaftlich gesehen ist dies unverantwortlich, wenn Änderungen unter Beachtung aller Konsequenzen der jeweils alternativen Szena­ri­en (Veränderung vs. Status quo bzw. "Nullszenario") von der Mehr­heit der informierten Fachwelt als "objektiv notwendig" beurteilt werden, die "blockierenden" Interessengruppen dagegen den politi­schen Einfluß haben, diese Änderungen zu verhindern.

Politik und öffentliche Meinung

Politiker orientieren sich vorwiegend an der öffentlichen Meinung, wo diese ersichtlich ist; ansonsten müssen sie sich großteils nach Forderungen von Interessengruppen (mit ihrem teilweise großen, sek­toralen Fachwissen, in jedem Fall aber großen "Fachwünschen") rich­ten, die zu ihnen Zugang ha­ben und offiziell für jeweils größere Teile der Bevölkerung stehen bzw. sprechen.

Sobald aber das gesellschaftliche Meinungsbild bekannt zu sein scheint, ergibt sich oft das Problem, daß die Öffentlichkeit bzw. Gesellschaft "naturgemäß" mehrheitlich nur oberflächlich informiert ist oder sich sogar völlig uninformiert eine Meinung macht. So scheint z.B. die "Unvereinbarkeit" von mehr Umweltschutz und siche­ren Arbeitsplätzen auch eine feste Ansicht der meisten Bürger (geworden) zu sein.

Bei dieser Problematik sind zwei Punkte zu beachten: Die Mehrheit will im o.g. Fall sicherlich beides, entscheidet sich aber - überzeugt davon, daß sich beides ausschließt - für das scheinbar Näherliegende (der "eigene" Arbeitsplatz) gegen das andere (ab­strakter Umweltschutz). Beide Punkte konkurrieren jedoch gar nicht direkt miteinander, son­dern sind u.a. gemeinsam bedroht von der "Globalisierung der Wirt­schaft" (genauer: mindestens u.a. vom glo­balen Wettlauf der Rationalisierung). Dies macht es leicht, beides ge­gen­einander auszuspie­len, indem man verschweigt, daß diese Globa­li­sierung auch ohne mehr Um­welt­schutz in ihrer Eigendynamik eine weiter anhaltende drastische Freisetzung von Arbeitskräften mit sich bringt.

Die gesellschaftliche Diskussion und die Rolle der Medien

Es ist wohl die Notwendigkeit ganz deutlich ge­worden, die von ver­schiedener Seite geforderten Maßnahmen bzw. politischen Ent­schei­dun­gen als Szenarien mit allen ihren Auswirkungen auf sämtliche Bereiche des menschlichen und gemeinsamen Lebens deutlich und aus­führ­lich darzustellen.

Es muß eine gesellschaftliche Diskussion über die zur Option ste­hen­den Gesamtszenarien geben - oder zumindest eine voll öffentlich gemachte Diskussion der beteiligten "interessierten bzw. informier­ten Kreise".

Beides ist nur durch Medien möglich; daher kommt die­sen eine um­fassende Verantwortung für unsere Zukunft zu, indem sie entschei­dend dafür mitverantwortlich sind, ob und wann Änderungen bzw. Neu­e­rungen als notwendig erkannt/beurteilt und schließlich begonnen und umgesetzt werden.

Ein Konzept und die Konsequenzen

Deswegen stelle ich Ihnen folgende Idee zur Überlegung dar, die in gemeinsamer Absprache aller Beteiligten näher zu konkretisieren wäre:

Sie führen eine regelmäßige Kolumne ein, in der Vertreter der "informierten Kreise" aus den verschiedenen Bereichen (Wirtschaft, Umwelt & Entwicklung, Forschung etc.) ihre Ansicht über notwendige Entscheidungen darlegen, sowie über positive und negative Auswir­kungen der zur Diskussion stehenden Szenarien unter klarer Nennung ihrer Grundannahmen deutlich und ausführlich darstellen. In den verschiedenen Ausgaben sollen sie zu jeweils bestimmten Themen auch aufeinander eingehen und zu Einwänden Stellung nehmen. Ebenso sol­len Leserbriefe veröffentlicht werden.

Ich wiederhole: Es geht ja um die zentralen Problemkomplexe (nicht nur) unserer Gesellschaft, die - richtig dargestellt - jeden in­teressieren, der nicht vollkommen auf das Privatleben fixiert ist. Sie werden nicht nur eine Flut von Leserbriefen, sondern auch von neuen Lesern bekommen, die diese einsetzende Diskussion verfolgen und an ihr teilnehmen wollen, sofern sie nicht nur ein kurzes Leuchtfeuer ist, sondern wirklich langfristig institutionalisiert wird und dazu dient, strittige Fragen immer wieder neu und solange aufzuwerfen, bis die verschiedenen Ansichten und ihre Grundannahmen (sowie ihre Plausibilität) kristallklar offenliegen.

Schwächen der verschiedenen Ansichten und Ausnahmen sollen aufge­griffen und dis­kutiert werden, so daß sich auch jeder "Normalbür­ger" ein begründe­tes Urteil bilden kann. Damit wird er erst wirk­lich befähigt und auch ermuntert, an der Gestaltung unserer Zukunft mitzuwirken.

Letztlich soll die Mehrheit unserer Bevölkerung nicht nur den poli­tischen Nicht-/Entscheidungen nachträglich zustimmen, sondern sie explizit einfordern. Dann wäre es für Politiker nicht mehr not­wendig (und auch nicht zu­lässig), sich auf verschiedene Interes­sen­gruppen hinzuorientie­ren, die Sachverhalte naturgemäß aus ihrer Sicht und damit einsei­tig darstellen und darüberhinaus nur bestimmte Teile der Gesell­schaft einseitig repräsentieren.

Zur weiteren Konkretisierung des Konzepts noch folgende Worte:

Am Anfang der Kolumne steht jeweils eine ansprechende Einführung für "Neuleser", die die Notwendigkeit und (u.a. moralische) Bedeu­tung der Kolumne bzw. Diskussion deutlich macht.

Die Organisation und Koordinierung der einzelnen "Referenten" (Kontaktaufnahme, Vorgaben unbedingt anzusprechender Punkte etc.) wird zumindest anfangs, evtl. auch ständig, eine anspruchsvolle Herausforderung sein. Sie kann zum Beispiel von bestimmten Verbän­den aus dem Bereich Umwelt & Entwicklung übernommen werden, die spezielle Koordinationsstellen schaffen sowie eine detaillierte Konzeption der Vorgehensschritte liefern müßten.

Die "Stimmen gegen den Stillstand"

In bzw. nach Ihrem Artikel kamen ja nun auch Vertreter der "infor­mierten Kreise" zu Wort. Wie zu erwarten, gab es die unterschied­lichsten Empfehlungen. Auch hier galt oft, was Herr von Lojew­ski meinte: Die Antworten kennt man eigentlich schon vorher.

Anders steht es eben mit den Grundannahmen und den verschiedensten Konsequenzen der Vorschläge. Kurz: Welches gesellschaftliche Leit­bild hat derjenige, der z.B. Deregulierung oder aber "mehr Staat" fordert, was für eine Gesellschaft stellt er sich insgesamt vor und was sind die vielfältigen "Nebenwirkungen" seiner Forderung?

Zum Schluß möchte ich bemerken, daß bezeichnenderweise nur Herr von Weizsäcker als einsame Stimme die Umweltprobleme erwähn­te. Dabei sind doch die Grundlagen unserer Gesundheit (in vielen Tei­len der Welt auch die des Überlebens) gefährdet, ebenso auch die Grund­lagen unserer Kultur (wenn z.B. in Kauf genommen wird, sich irgendwann völlig gegen Umweltflüchtlinge abzuschotten).

Die Probleme müssen, ganz richtig, "beim Namen genannt" werden, ihre relative Bedeutung muß klargestellt bzw. diskutiert werden.

Wie die Rede des Bundeskanzlers allein, werden auch 22 "Stimmen gegen den Stillstand" zu wenig in Gang setzen. Eine gesellschaftliche Diskussion kann nicht bedeuten, daß jeder ver­sucht, die seiner Meinung nach dringlichsten Punkte möglichst überzeugend auszudrücken. Man muß aufeinander eingehen und es braucht Zeit, herauszufinden, wie die alternativen Szenarien ins­gesamt aussehen. Eine solche Diskussion muß in ihrer Notwendigkeit erkannt, wirklich gewollt, intensiv geplant und, sobald sie begon­nen hat, intensiv gepflegt und betreut werden.

Sehr geehrter Herr Bissinger, ich würde gerne noch einiges mehr schreiben, insbesondere ein weiteres, leidenschaftliches Plädoyer anschließen. Im Vertrauen darauf, daß Sie sich auch aus den bis­he­rigen Zeilen ein umfassendes Bild machen, beende ich jedoch die­sen Brief mit der Hoffnung auf eine ausführliche Antwort.

Im August bekam ich dann ein Schreiben eines Vertreters der Zeitung, in der dieser auf Verständnis hoffte, dass mein Schreiben nicht als Leserbrief veröffentlicht wurde! Ich schrieb Herrn Bissinger am 31.8. nochmals:


Sehr geehrter Herr Bissinger,

In meinem Brief vom 15.7. an Sie hatte ich in Form eines Vorschlags skizziert, wie Ihre Zeitung eine wirkliche gesellschaftliche Dis­kus­sion der drängendsten Probleme unserer Zeit anstoßen und unter­stützen kann. Ich hatte erwartet, daß Sie mir in einer Antwort schreiben, wie Sie meinen Vorschlag bewerten und die in ihm liegen­de Möglichkeit einschätzen.

Stattdessen bekam ich einen Brief von Herrn Nitschmann, in dem er auf Verständnis hoffte, daß mein Schreiben nicht als Leserbrief veröffentlicht wurde - dies hatte ich aber nie angestrebt. Mein Brief diente nicht dazu, eine Meinung loszuwerden, sondern ich macht in ihm einen wirklichen Vorschlag, der unserer Gesellschaft dienen soll.

Daher hoffe ich sehr, daß Sie ihn nachträglich als solchen verste­hen wollen und bitte Sie herzlich, mir zu antworten.

Eine solche Antwort kam dann aber nicht mehr...