20.11.2000

Hart aber herzlich - die Dorfgemeinschaft Tennental

„Reportage“ über die sozialtherapeutische Dorfgemeinschaft Tennental nach einem einwöchigen Besuch.


"Der Michael Drescher drescht zuviel." Markus freut sich kindlich über seinen Witz und flattert mit den Armen wie ein Vogel, der Flugübungen macht. Ursula sieht lachend von ihrer Strick­arbeit auf und lispelt gespielt vorwurfsvoll: "Gehtf di no ganf gut?". Und Leif, der immer wie eine Schlafmütze aus seinen halbblinden Augen guckt, nuschelt gerade zum vierten Mal: "Wieviel mal schlafen kommt Mama wieder?" und hält dem Praktikanten sein rechtes Ohr hin - wieder einmal die Nervensäge spielend und den Umstand ausnutzend, daß man ihm irgendwie nie böse sein kann. - Eindrücke aus dem Tennental, einer Lebensgemeinschaft nordöstlich von Stuttgart. Hier leben hilfebe­dürftige Menschen zusammen mit anderen, die sie betreuen. Eine Terminologie, die sich nicht um eine spirituelle Menschenkunde kümmert, spricht von "geistig behinderten Menschen". In anthroposophischen Einrichtungen wie dem Tennental spricht man von seelenpflegebedürftigen Menschen, ein schönes Wort, das nur am Anfang ungewohnt klingt. 

Ich komme über Stuttgart, fahre mit der S1 bis Endstation Herrenberg und nehme den Bus nach Deckenpfronn. Dort laufe ich noch 15 Minuten aus dem Ort heraus und stoße dann auf ein Hinweisschild, das mich nach rechts leitet. Zu beiden Seiten Felder, gehe ich allmählich eine seichte Kuppe hinauf, dann erstreckt sich vor mir plötzlich eine Senke, und ich erblicke das Tennental. - Die Dorfgemeinschaft hat im Moment fünf Doppelhäuser, in jedem Haus leben neun Betreute, drei hauptverantwortliche Betreuer, dazu zwei bis fünf Seminaristen, außerdem Praktikanten und "Schnuppergäste" wie ich. Es gibt eine Gärtnerei und Landwirtschaft. In der Bäckerei wird das eigene Brot gebacken, in der Schreinerei wird z.B. Holzspielzeug herge­stellt, in der Verarbeitungswerkstatt macht man u.a. Apfelringe, Pommes frites und Marme­laden. In der "Regenbogenwerkstatt" versucht man, Schwerst- und Mehrfachbehinderten verschiedene und sinn-volle Sinneserlebnisse zu ermöglichen, indem man gemeinsam Brötchen backt, Kerzen zieht, Bauklötzchen abschleift usw.

Das Bistro und ein kleiner Saal sind der Treffpunkt für viele gemeinsame Aktivitäten, wie z.B. den Morgenkreis, in dem jeweils allen berichtet wird, was die einzelnen Werkstätten an diesem Tag vorhaben. In jedem Haus gibt es eine saubere Mülltrennung, alles Plastik z.B. wird abgewaschen. Jeden Morgen holt die "Regenbogenwerkstatt" von einem Haus den Müll ab und sortiert ihn nochmals, damit er später an einen Recyclinghof gegeben werden kann. Der Dorfladen hat eine große Auswahl an Demeter-Produkten, wobei die Lebensmittel aus dem eigenen biologisch-dynamischen Anbau kommen. An manchen Tagen, z.B. beim Martinsmarkt am 11.11. wimmelt das kleien Dörfchen von Besuchern.

Das Beeindruckenste aber sind natürlich die Menschen und ihre Gemeinschaft. Was hier täglich versucht und gelebt wird, ist seinem Ansatz nach etwas absolut Zukünftiges. Trotz aller menschlichen Schwächen verbindet alle das Ideal eines brüderlichen Zusammenlebens. Das Christentum bezeichnete diese Zukunft mit dem Namen "Neues Jerusalem". Im Tennental ist tatsächlich ganz stark etwas spürbar, was man mit vollem Recht, fernab jeder Dogmatik, den Christus-Impuls nennen kann. Jeder einzelne befindet sich täglich auf einem persönlichen Übungsweg. Man versucht, seine Ideale im Bewußtsein zu halten: In allem das Gute zu entdecken, das Ich des anderen wirkliclh zu erleben und den Anderen so wichtig nehmen wie sich selbst und vieles andere, was letztlich das gleiche Ziel hat.

Das Tennental ist auch Ausbildungsstätte. Wer hier Heilerziehungspfleger werden will, erhält durch den anthroposophischen Ansatz und die täglich lebendige Praxis eine hervorragende Ausbildung. Aber das Leben in der Gemeinschaft verlangt von den Betreuern sehr viel, denn sie haben in jedem Augenblick eine Verantwortung für andere.

Geweckt wird an normalen Tagen um 7 Uhr. Wenn alle gewaschen und angezogen sind, wird gemeinsam gefrühstückt. Dann gehen alle zum Morgenkreis und anschließend in die Werkstätten, wo man zusammen bis 12.15 Uhr arbeitet. Zum Mittagessen gehen alle wieder in ihre Familien. Nach einer kleinen Mittagsruhe ist von 14.15 Uhr bis 17.15. Uhr noch einmal Werkstattzeit. Nach dem Abendessen ist Zeit für verschiedene gemeinsame Aktivitäten oder auch eigenes Tun. Gegen 21 Uhr ist für die meisten dann Schlafenszeit angesagt. Die Betreuer müssen in den Zwischenzeiten Essen vorbereiten, manche Windel wechseln; einmal in der Woche muß jeder baden, öfter natürlich auch duschen. Dies und jenes muß organisiert, hier und da muß geholfen werden. Jede Familie hat auch ihre speziellen Probleme, z.B. Menschen, die mehr reden als alle anderen zusammen. Auch in dieser Hinsicht müssen die Betreuer alles immer in die rechten Bahnen lenken. Wer aber die täglichen Aufgaben und Herausforderungen nicht scheut und Sinn und Befriedigung darin finden kann, anderen Menschen zu helfen, die in diesem Leben auf so viel Hilfe angewiesen sind, der ist im Tennental gut aufgehoben und wird von den täglichen Eindrücken auch reich belohnt.

Und wer die Anthroposophie noch nicht kennengelernt hat, wird mit Staunen einer spirituellen Weltanschauung begegnen, die sich nicht aufdrängt und völlig undogmatisch ist (im Gegensatz zu einigen "Anhängern", die sie mißverstehen). Während die New-Age-Szene in einer verwirrenden Fülle verkündet, was der Mensch sei oder erreichen könne, und dabei doch fast immer nur spektakulär ist, aber pauschal bleibt, bietet die Anthrophosophie umfassende, konkrete Anregungen, seine bisherige Weltanschauung kritisch zu prüfen. Wer sich mit der Anthroposophie auseinandersetzt, für den kann das Geistige und die Sinnhaftigkeit in der Welt immer mehr und konkreter in allen Bereichen des Lebens wieder verstanden und erlebt werden. Mit der Zeit schaut man wirklich ganz anders auf diese Welt, und diese veränderte Beziehung zur Welt veschränkt sich eben nicht auf den Kopf. Echte Spiritualität meint immer den ganzen Menschen, auch sein Fühlen und sein Wollen - eine Frucht dieser Spiritualität ist das Tennental.