Oskar Lafontaine: Politik für alle

Oskar Lafontaine: Politik für alle. Streitschrift für eine gerechte Gesellschaft. Ullstein, 2005. o | Auszüge der Seiten 9-118, Hervorhebungen H.N.


Inhalt
Vorwort
I. Die Republik hat sich verändert:
Die Deutschen haben Grund zum Jammern | Wirtschaftspolitik für die Reichen | Die Gesellschaft zerfällt.
II. Korruption der Sprache und des Denkens: Die Linke spricht die Sprache der Rechten | Dichter und Denker statt Kostensenker | Der Stärkere sorgt für den Schwächeren | Gibt es soziale Gerechtigkeit? | Freiheit ist auch die Freiheit des anderen.


Vorwort

Neoliberale Politik wird in Deutschland nunmehr schon über zwanzig Jahre gemacht. Ihr Scheitern und die damit verbundenen Symptome des Verfalls kann niemand übersehen.

Wie lange lässt es sich das Volk noch gefallen, dass eine wohlhabende Minderheit ihm auf der Nase herumtanzt? Zu oft schon lösten Hoffnung und Enttäuschung, Zorn und Resignation einander ab. Aber wir dürfen nicht müde werden, immer wieder gegen den neoliberalen Mainstream anzukämpfen. Neoliberalismus und Finanzkapitalismus haben die Welt und Deutschland grundlegend verändert. Die neoliberale Wirtschaft gefährdet die Demokratie. Eine demokratische Gesellschaft setzt die Kontrolle wirtschaftlicher Macht voraus. Weil der globale Finanzkapitalismus zu einer unkontrollierten Ausübung wirtschaftlicher Macht führt, höhlt er die Demokratie aus und muss überwunden werden. [...]

Vielleicht reagieren viele nicht mehr auf Massenarbeitslosigkeit und Sozialabbau, weil im Medienzeitalter die Katastrophe alltäglich geworden ist. Eine solidarische Gesellschaft bildet sich aber nur, wenn Menschen wahrnehmen, was in ihrer Nachbarschaft geschieht.

Im Februar 2005
Oskar Lafontaine

I. Die Republik hat sich verändert

Die Deutschen haben Grund zum Jammern

[...] Die Mechanismen, mit denen der Sozialstaat für eine gerechtere Verteilung sorgte, wurden Schritt für Schritt zurückgedrängt. An ihre Stelle trat eine Art Marktfundamentalismus, der die Ungleichheit der Einkommens‑ und Vermögensverteilung wieder deutlich verstärkte. Heute können wir das Ergebnis betrachten: Die Gewerkschaften stehen mit dem Rücken an der Wand. Schon lange gelingt es ihnen nicht mehr, ihren eigentlichen Auftrag zu erfüllen. Die Reallöhne treten seit Jahren auf der Stelle, die Gewinne explodieren. Der Staat, der in einer solchen Systemkrise besonders gefordert wäre, der ungleichen Verteilung entgegenzuwirken, versagt. Statt den sozialen Auftrag des Grundgesetzes zu erfüllen und für mehr Gerechtigkeit zu sorgen, hat er die wachsende Ungleichheit durch die Steuer‑ und Sozialgesetzgebung weiter vergrößert. Renten und Arbeitslosengeld werden gekürzt. Die Arbeitslosenhilfe wird abgeschafft, und die Kranken werden zur Kasse gebeten. Gleichzeitig verteilt die Allparteienkoalition in Berlin über Steuersenkungen Milliarden-Geschenke an die Unternehmen, die Inhaber großer Vermögen und die Bezieher hoher Einkommen. [...]

Die ärmere Hälfte der Haushaltseinkommen verfügt über nicht einmal vier Prozent des gesamten Nettovermögens. Das reichste Zehntel besitzt 44 Prozent, das sind zwei Prozent mehr als fünf Jahre zuvor. Mehr als drei Millionen Haushalte sind überschuldet. Nach dem Bericht besteht für jede achte Familie die Gefahr, in Armut abzurutschen. Die Armutsgrenze wird mit 938 Euro im Monat je Haushalt definiert. [...]

Mit der Verabschiedung der Gesundheitsreform und des Gesetzes zur faktischen Abschaffung der Arbeitslosenhilfe, Hartz IV genannt, ist eines überdeutlich geworden: Ein tiefer Graben trennt die selbst ernannten politischen, wirtschaftlichen und journalistischen Eliten Deutschlands von der Mehrheit der Bevölkerung. Eine in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland beispielslose Entfremdung des Volkes von seinen gewählten Repräsentanten ist unübersehbar. Die gesamte politische Klasse gerät in Misskredit, auch die der berichtenden Zunft. „Die Medien erscheinen zunehmend als Teil des Problems, nicht der Lösung: Sie sprechen die Sprache der Politik, denken in deren Logik, erblinden wie sie vor der Wirklichkeit“, kommentierte Hans‑Ulrich Jörges im stern.

Auch nach den verheerenden Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen änderte sich nichts. Die Eliten waren sich einig, jetzt komme es nur darauf an, standhaft zu bleiben und unbeirrt am Kurs der Reformen festzuhalten. So viel Einigkeit in Politik, Wirtschaft und Medienwelt hat es in diesem Land noch nie gegeben.

Der Wirtschaft gehen die beschlossenen sozialen Kürzungen – wie immer – nicht weit genug. Die Medien trommeln täglich für harte Einschnitte ins soziale Netz, von denen die Leitartikler und ihre Chefs nicht betroffen sind. Fast der ganze Bundestag stimmt Gesetzen zu, die von zwei Dritteln der Bevölkerung abgelehnt werden. [...]

Wirtschaftspolitik für die Reichen

[...] Die Gründe für diese Entwicklung hatte der amerikanische Starökonom Paul Krugman auf den Punkt gebracht. Er stellte fest: Die „törichten Vorstellungen (der angebotsorientierten Wirtschaftspolitik) nähme mit Sicherheit kaum jemand ernst, stünden sie nicht den Interessen der Reichen so nahe und würden sie von diesen über die einschlägigen Medien nicht systematisch im Gespräch gehalten“. [...]

Beobachtet man die öffentliche Debatte, dann stellt man fest, dass eine Seilschaft gegenseitigen Gebens und Nehmens den Ton in der deutschen Wirtschaftspolitik angibt. Und da die Mitglieder dieses Clubs durch höhere Gewinne, Einkommen und Vermögen von der Irrlehre der neoliberalen Umverteilung von unten nach oben profitieren, stören sie die massiven Kollateralschäden wie steigende Armut und höhere Arbeitslosigkeit nicht. Indem sie die Binnennachfrage strangulieren und die Konjunktur abwürgen, schaffen sie erst die Voraussetzungen dafür, einer immer stärker verunsicherten Bevölkerung ständig neue Sozialabbaupläne zu präsentieren. Die neoliberalen Ärzte sorgen zuerst für die Krankheit, um ihre falsche Arznei umso besser verkaufen zu können. Und damit der Absatz floriert und nicht zum Erliegen kommt, heißt ihr Lieblingssatz: „Nach der Reform ist vor der Reform.“ Auf die Rentenkürzung folgt die Lohnkürzung, die wiederum zu einer niedrigeren Rente führt. Auf die Kürzung des Arbeitslosengeldes die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe. Auf die Praxisgebühr die steigende Selbstbeteiligung der Kranken an der Finanzierung des Gesundheitswesens. Und so geht das seit vielen Jahren. [...]

Die Gesellschaft zerfällt

Da sich Kostensenken mit krämerischem Geist, aber nicht mit Menschenliebe, Nächstenliebe oder Solidarität verträgt, zerfällt der Zusammenhalt der Gesellschaft. Stolz spricht man von einer neuen Generation, der Generation Ich. In der Zunahme der Individualisierung sieht man einen Gewinn an Freiheit. Die Ich‑AG wird zum politischen Projekt und die in diesem Wort zum Ausdruck kommende geistige Notdurft beleidigt die Nase vieler Bürger nicht mehr. [...]

Die allgemeine Stimmung nach der Agenda 2010 und nach Hartz IV gibt ein Gespräch wieder, das ich mit einem Taxifahrer führte. Er verdient sich mit diesem Nebenjob am Wochenende das Geld für den Urlaub seiner Familie und für zusätzliche Neuanschaffungen. Im Hauptberuf arbeitet er bei einem großen saarländischen Produktionsbetrieb. Ich fand das, was er mir sagte, derart spannend, dass ich es fast wörtlich mitgeschrieben habe:

„So wie es bei uns jetzt da oben zugeht – gemeint ist die Geschäftsführung –, das gab es in unserem Betrieb noch nie. Das ist reiner Menschenhandel. Die jungen Leute werden nur noch mit Zeitverträgen abgespeist und schlecht bezahlt. Wenn sie zu mir kommen, haben sie Tränen in den Augen. Sie sagen, ich kann mir kein Haus bauen, kein Auto kaufen und schon gar nicht eine Familie gründen. Schließlich weiß ich nicht, ob ich in einigen Monaten noch Arbeit habe. Wenn der Chef fragt, ob ich am Samstag oder Sonntag zur Arbeit kommen kann, darf ich nicht Nein sagen. Jede Aussicht auf Weiterbeschäftigung wäre dann flöten.

Uns älteren Betriebsangehörigen mit Festanstellung geht es aber auch an den Kragen. Weihnachtsgeld und Urlaubsgeld werden gekürzt, Überstunden werden nicht mehr besonders bezahlt. Wir müssen arbeiten für nix, dann sind die erst zufrieden. Da soll man noch mit Lust und Liebe schaffen gehen.

Ich bin früher mit meiner Frau zweimal im Monat essen gegangen. jetzt kann ich dies allenfalls noch einmal. Sie müssen mal mit denen reden, die Deutschland nach dem Krieg aufgebaut haben, unseren Rentnern und Trümmerfrauen. Was die über die jetzige Regierung denken, das glauben Sie nicht. Wenn ich mit denen spreche, dann laufen ihnen manchmal die Tränen die Wangen runter. ...“ [...]

II. Korruption der Sprache und des Denkens

Die Linke spricht die Sprache der Rechten

[...] Den Abbau des Sozialstaates nennt man ja auch „Umbau“. Dabei ist es noch vergleichsweise harmlos, Abschaffung und Abbau in „Änderung und Umbau“ zu verwandeln. Unverfrorener ist es, wenn man nicht sagt: „Wir wollen soziale Leistungen kürzen“, sondern verspricht: „Wir wollen Deutschland fit machen für die Zukunft.“ Oder man nennt das brutale Streichkonzert schlichtweg „Modernisierung“. [...]

In seinem Jahrhundertroman 1984 hat der in Indien geborene britische Sozialist Eric Arthur Blair, der sich George Orwell nannte, prophezeit, wie die Sprache zur Gehirnwäsche eingesetzt wird. [...]

Die Begriffe „Agenda 2010“ und „Hartz IV“ erfüllen genau die Voraussetzung, dass man sie fast gedankenlos verwenden kann. Und so geschieht es dann auch. „Der Kanzler ist standhaft bei der Durchsetzung der Agenda 2010 und von Hartz IV“ – dieser häufig zu lesende Satz ist ein Beweis dafür, wie die neoliberale Sprache funktioniert. Ganz anders klänge es, wenn da stünde: „Der Kanzler ist standhaft bei der Kürzung der Rente und des Arbeitslosengeldes, bei der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe, bei der Einführung der Praxisgebühr, der Verteuerung der Arzneimittelpreise und der Senkung beziehungsweise Abschaffung der Steuern auf hohe Einkommen und Vermögen.“

[...] Meine Rechtfertigung, den Mund aufzumachen und mich einzumischen, beziehe ich daraus, dass neben meinem privaten sozialen Engagement alle meine Vorschläge zur Steuer‑ und Sozialpolitik zu einer stärkeren Belastung der besser Verdienenden, zu denen ich gehöre, führen. Diese Haltung verschafft einem in diesen Kreisen keine Sympathie, sondern sie stößt auf Ablehnung und Spott.

Das erfuhr ich immer wieder, wenn ich in politischen Gremien für die Beibehaltung des Spitzensteuersatzes von 53 Prozent kämpfte. Besonders allergisch auf den Spitzensteuersatz reagieren Medienvertreter, deren Einkommen das der Politiker in einer Reihe von Fällen bei weitem übertrifft. Mittlerweile wurde der Spitzensteuersatz deutlich gesenkt und diejenigen unter den Journalisten, die gut verdienen, gehören vielfach zu den eifrigsten Befürwortern der neoliberalen Reformen. [...]

Obwohl die Produktivität der deutschen Beschäftigten seit Anfang der neunziger Jahre um mehr als 16 Prozent zugenommen hat, stiegen die Reallöhne im gleichen Zeitraum nicht. Nach Steuern und Abgaben hatten die Arbeitnehmer Ende 2003 nicht mehr im Geldbeutel als 1991. [...]

Der Vater des Wirtschaftswunders, Ludwig Erhard, wollte den Produktivitätsgewinn noch den Arbeitnehmern zukommen lassen, um den Konsum und damit das Wachstum und die Beschäftigung zu stärken. Diejenigen, die sich heute auf ihn berufen, wollen etwas ganz anderes. Sie haben Erhards Erbe längst verraten. Am Anfang seines Buches Wohlstand für alle schrieb der Wirtschaftsminister im ersten Kabinett Adenauers unmissverständlich: „[...] 57 Am Ausgangspunkt stand der Wunsch, über eine breit geschichtete Massenkaufkraft die alte konservative soziale Struktur endgültig zu überwinden. Diese überkommene Hierarchie war auf der einen Seite durch eine dünne Oberschicht, welche sich jeden Konsum leisten konnte, wie andererseits durch eine quantitativ sehr breite Unterschicht mit unzureichender Kaufkraft gekennzeichnet.“

Diese Worte sind eindeutig. Erhards falsche Enkel wollen eine stärkere Differenzierung der Löhne und Einkommen. Das heißt: Sie wollen die überkommene Hierarchie, die Erhard überwinden wollte, wieder herstellen. [...]

Lohnnebenkosten

[...] Noch heute ertappe ich mich dabei, wie ich im Eifer des Gefechts Kampfwörter der Wirtschaftsliberalen unkritisch verwende. Also nehmen wir das Wort „Lohnnebenkosten“ auseinander: Seine Bestandteile sind Lohn‑neben‑Kosten. Die erste flüchtige Wahrnehmung und Überlegung führt zu dem Ergebnis, etwas Nachgeordnetes, Nebensächliches sei aus dem Ruder gelaufen. Ohnehin ist ja klar, dass Löhne und Kosten runter müssen, wenn wir im internationalen Wettbewerb bestehen wollen.

Ersetzt man das Tarnwort „Lohnnebenkosten“ durch „Geld für Rentner, Kranke, Arbeitslose und Pflegebedürftige“, dann verändert sich schlagartig die Sicht. Die grünen Damen hätten – gleich ihren männlichen Kollegen, und zwar quer durch alle Parteien – mit Sicherheit Schwierigkeiten, Folgendes zu verkünden: „Die Kürzungen der Leistungen für Rentner, Kranke, Arbeitslose und Pflegebedürftige stehen im Mittelpunkt unserer Politik.“ [...]

Der Mensch muss aus der Sprache verschwinden, um die Ungeheuerlichkeit des Tuns zu verschleieren. [...]

Der amerikanische Soziologe Richard Sennett schrieb vor einiger Zeit ein Buch mit dem Titel Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Darin schildert er, wie der flexible Arbeitsmarkt das Leben in Amerika verändert hat: „Heute muss ein junger Amerikaner mit mindestens zweijährigem Studium damit rechnen, in vierzig Arbeitsjahren wenigstens elfmal die Stelle zu wechseln und dabei seine Kenntnisbasis wenigstens dreimal auszutauschen.“ Sennett hatte beobachtet, wie durch die Zerstückelung des Arbeitslebens etwas zerstört wird, was die Grundlage menschlicher Existenz ist: Dauerhaftigkeit und Verlässlichkeit. So schreibt er: „Vielleicht ist die Zerstörung des Charakters eine unvermeidliche Folge. Wenn es nichts Langfristiges mehr gibt, desorientiert das auf lange Sicht jedes Handeln, löst die Bindungen von Vertrauen und Verpflichtung und untergräbt die wichtigsten Elemente der Selbstachtung.“

Welch vernichtendes Urteil! Und wie traurig ist es zu beobachten, wie die Herolde der Reformierung und Modernisierung Deutschlands von diesen Folgen ihres gedankenlosen Tuns keine Ahnung haben. [...]

Gehen wir noch einmal näher auf den Begriff „Arbeitsmarkt“ ein. Die Worte „Arbeit“ und „Markt“ passen doch wohl gut zusammen. Es klingt ja so einleuchtend: Die Arbeit hat ihren Preis, den wir Lohn nennen, und jeder Preis wird von Angebot und Nachfrage bestimmt. Hier ist wieder der altbekannte Trick zur Anwendung gekommen, den Menschen aus der Sprache zu verbannen. Das Wort „Menschenmarkt“ würde dagegen zu eindeutig an einen Sklavenmarkt erinnern und sogar ziemlich Verbohrte zum Zweifeln bringen. [...] Der Markt taugt zur Preisbildung für Waren, Güter und Dienstleistungen, aber überhaupt nicht zur endgültigen Festlegung von menschlichen Lebensbedingungen. Bei deren Gestaltung geht es nämlich um Werturteile, für die der Markt blind ist. Der Markt schafft aus sich heraus keinen Sozialstaat. Er registriert nicht, wenn ein Mensch weint, weil er keine Arbeit findet und seine Familie nicht ernähren kann. Er nimmt keine Rücksicht auf die Umwelt.

Man sieht, die Formulierung „Flexibilisierung des Arbeitsmarktes“ erfüllt alle Voraussetzungen, zum Unwort des Jahrzehnts zu werden – und man ahnt, wie schwierig es ist, der abgegriffenen Sprache und der dahinterstehenden Philosophie des Neoliberalismus zu entkommen. [...]

Reform

[...] Schlagen wir wieder im Duden nach. Dort lesen wir unter „Reform“: „Umgestaltung, Verbesserung des Bestehenden, Neuordnung“. [...]

Heute empfinden die Wähler Reformankündigungen als Drohungen. In den letzten Jahren haben sie erfahren, dass „Reform“ für Sozialabbau steht. [...]

Der Schotte Adam Smith (1723‑1790), der Begründer der klassischen Nationalökonomie, würde die Bundestagsparteien heute heftig kritisieren, weil sie die Vorschläge der Wirtschaftslobbyisten übernehmen. Zwar sah der Schotte in den Kapitalisten die Triebkräfte des Fortschritts. Aber er warnte vor ihrer Selbstsucht. Der Gesetzgeber dürfe nicht auf sie hören. Ihre Vorschläge, so Smith, „kommen von einer Gruppe von Menschen, deren Interesse niemals genau mit dem öffentlichen Interesse übereinstimmt und die im Allgemeinen darauf aus sind, die Öffentlichkeit zu täuschen“. [...]

Reformer müssen schon eine Vorstellung davon haben, wie die Gesellschaft in einigen Jahren aussehen soll. Ob ausgesprochen oder nicht, viele Modernisierer liebäugeln mit einem Sozialdarwinismus, der das Überleben des Tüchtigsten (survival of the fittest) zur Leitidee hat. Wir wollen Deutschland fit für die Zukunft machen, heißt es immer wieder, und die Nachdenklichen unter uns fragen sich, wer soll da eigentlich fit gemacht werden? Die pflegebedürftige Rentnerin, der kranke Arbeitslose oder das lernbehinderte Kind? [...]

Der Experte

Wenn in Talkshows die Parteien aneinander geraten oder Scheingefechte austragen, dann wird in wirtschaftlichen und sozialen Fragen oft ein Experte oder Sachverständiger gebeten, als Schiedsrichter tätig zu sein. Ein Angestellter einer Wirtschaftsberatungsfirma oder ein Unternehmer erklärt dann den Politikern und Fernsehzuschauern, wie „die Wirtschaft“ die Frage beurteilt und beantwortet. [...]

Der Unternehmer folgert oft nach dem Muster: Was für mein Unternehmen gut ist, ist auch für die ganze Volkswirtschaft richtig. Aber genau das ist falsch. Vielmehr ist es so, dass das, was für den einzelnen Betrieb ratsam ist, für die Volkswirtschaft als Ganzes noch lange nicht gilt. [...]

Wenn ein Betrieb Löhne senkt und Leute entlässt, dann kann das in bestimmten Fällen eine Möglichkeit sein, das Überleben der Firma zu sichern. Wenn aber alle Betriebe Löhne senken und Leute entlassen, dann führt das direkt in eine wirtschaftliche und soziale Katastrophe. Ohne Tarifverträge und gesetzliche Mindestlöhne gäbe es einen verheerenden Wettlauf um niedrigere Löhne, bei dem am Ende alle die Verlierer wären – auch die schlauen Unternehmer, die sich mit Lohnkürzungen Kostenvorteile verschaffen wollten. [...]

Wenn ich hier so über die deutschen Ökonomen herziehe, dann wird der eine oder andere denken, was maßt sich dieser Physiker, der sich in die Politik verirrt hat, eigentlich an. Also zitiere ich zur Untermauerung meiner Kritik den amerikanischen Wachstumsforscher und Nobelpreisträger Robert Solow, der im Juli 2004 in der Zeit sagte: „Die Arbeitsmarktreformen (der Bundesregierung) wirken sich negativ auf die Nachfrageseite der Wirtschaft aus, sie reduzieren die Konsumausgaben und die Investitionsausgaben – jeder Volkswirt weiß das. Also muss der Staat den erwarteten Nachfrageausfall kompensieren.“ Auf die Frage der Wochenzeitung, warum die deutschen Vorzeigeinstitutionen Bundesbank und Sachverständigenrat auf diese Zusammenhänge nie hinweisen würden, antwortete er: „Bundesbank und Sachverständigenrat haben schon immer den theoretischen Glauben ernst genommen, dass es allein notwendig sei, die Inflation im Griff zu haben – und Produktion und Beschäftigung würden dann von selbst ins Gleichgewicht kommen.“ Auf die Nachfrage, ob man Denken und Handeln von Bundesbank und Sachverständigenrat dogmatisch nennen könne, erwiderte er: „Dogmatisch ist ein schönes Wort dafür.“ Bei dieser ideologischen Einseitigkeit ist es kein Wunder, dass sich die neoliberalen Wirtschaftsweisen mit ihren Wachstumsprognosen in den letzten Jahren meist gründlich blamiert haben.

In die gleiche Kerbe wie Solow hieb einen Monat später, ebenfalls in der Zeit, der Chefvolkswirt der US‑Investmentbank Goldman Sachs, Jim O'Neill. Auf den Einwand des Interviewers, wer in Deutschland für mehr Nachfrage in der Wirtschaftspolitik plädiere, bekomme die Antwort, Keynes sei tot, sagte er: „Adam Smith ist auch tot, und wenn die deutschen Ökonomen weiterhin so kategorisch denken, wird auch die deutsche Wirtschaft demnächst tot sein [...].“

Rendite

[...] Seit Jahren haben sich aber bei den Erwartungen an die Kapitalrendite Zahlen eingebürgert, die die Schamschwelle überschreiten. Sie sagen mehr über die Machtverteilung in unserer Gesellschaft aus als die gängigen Betrachtungen über den zu großen Einfluss von Parteien und Gewerkschaften. Da lesen wir in den Wirtschaftsteilen der deutschen Zeitungen, dass Manager eine Rendite von 15 Prozent fordern. Andernfalls würden sie den Laden dichtmachen oder verkaufen. Unmittelbar daneben stehen oft ellenlange Kommentare, in denen Wirtschaftsjournalisten beredt Klage über völlig unrealistische Lohnforderungen führen, die jedes Maß überstiegen und verantwortungslos seien. Wie das?

15 Prozent für das Kapital gehen in Ordnung, aber vier Prozent Lohnforderungen, bei denen man weiß, dass am Ende allenfalls zwei Prozent als Ergebnis herauskommen, sollen völlig unangemessen und verantwortungslos sein? Wer 15 Prozent Kapitalrendite bekommt, hat sein Geld in vier bis fünf Jahren verdoppelt. Aber vielen sind nicht einmal 15 Prozent genug. [...]

Hatten nicht vor allem konservative Parteien Wahlkämpfe mit dem Slogan geführt: „Leistung muss sich wieder lohnen“? Wie verträgt sich aber dieser Anspruch mit der Tatsache, dass derjenige, der Geld von Onkel Fritz geerbt und es in einem Unternehmen eingesetzt hat, in wenigen Jahren sein Vermögen verdoppeln kann, während der Malocher, der die Knochenarbeit macht, seit vielen Jahren, wenn man die Preissteigerungen abrechnet, keinen Cent zusätzlich im Geldbeutel hat? Der Kontostand der Wohlhabenden wachse jährlich um sieben bis acht Prozent, stellte die Citigroup fest. Hier offenbart sich die Kehrseite der sozialen Hängematte, die der weltweite Finanzkapitalismus geschaffen hat, das Schlaraffenland der High Society. In ihm tummelt sich eine immer größer werdende Zahl von Faulenzern, deren Leistung darin besteht, Geld geerbt zu haben und ab und zu bei der Bank nachzufragen, wie hoch der Kontostand sei. [...]

Die Gewinne von heute sind die Investitionen von morgen, hieß es früher. Aber diese Zeiten sind längst vorbei. Die Bundesbank stellt seit dem Jahr 2000 einen kontinuierlichen Rückgang der Investitionen fest, obwohl viele Aktiengesellschaften in Amerika, Europa und Japan im Geld schwimmen. Doch sie investieren nicht, sondern kaufen Aktien ihrer Firma zurück, um den Kurs zu steigern. Da die Unternehmen immer mehr dazu übergehen, ihre Vorstände an Kursgewinnen zu beteiligen, werden diese dazu verleitet, sich selbst zu bereichern, anstatt langfristig rentable Investitionen zu tätigen.

Die irren Renditevorstellungen sind mittlerweile eine Investitionsbremse. Wer 15 bis 20 Prozent Rendite will, findet immer schwieriger neue Projekte, die entsprechende goldene Eier legen. Die Konzerne sitzen auf ihrem Geld. Vor allem in Deutschland bleiben die Investitionen weit hinter den verfügbaren flüssigen Mitteln der Betriebe zurück. [...]

Nicht Lohnzurückhaltung, sondern Gewinnzurückhaltung ist heute angesagt. Hier sieht man wieder die Macht der Sprache. Das Wort „Lohnzurückhaltung“ gehört zum Alltag, das Wort „Gewinnzurückhaltung“ kennt man nicht.

Umverteilung

[...] In der Tat, wenn wir uns die Einkommens‑ und Vermögensverteilung in Deutschland und der Welt ansehen, dann kann das nicht allein der Markt verursacht haben. Vielmehr entscheiden in unserer ach so zivilisierten Gesellschaft – wie im Tierreich – eher Macht, Kraft und Stärke darüber, wer zuerst zum Futtertrog darf, und damit auch, wer mengenmäßig mehr Futter abbekommt. Der „freie“ Markt führt zu einer demokratisch nicht hinnehmbaren Konzentration von Einkommen und Vermögen. Es ist Aufgabe des Staates, auf eine gleichmäßigere Verteilung von Einkommen und Vermögen hinzuwirken.

Die von Macht und Markt Benachteiligten haben sich zu Gewerkschaften zusammengeschlossen, um nicht unter die Räder zu kommen. Gehört man aber zu denen, die große Einkommen und Vermögen haben, und will man diese Privilegien verteidigen, dann muss man den Staat und die der Sozialstaatsidee verpflichteten Parteien und Gewerkschaften schwächen. Da der Neoliberalismus nichts anderes im Sinn hat, kämpfen seine Anhänger in Wirtschaft, Politik und Medien jeden Tag an dieser Front. Und das, wie die letzten Jahre gezeigt haben, mit viel Erfolg. Die ungerechte Verteilung und die damit einhergehende Konzentration von Einkommen und Vermögen haben ein nie gekanntes Ausmaß erreicht. Die neoliberale Sprache hat dabei geholfen. [...]

Hans Eichel wollte die persönliche Haftung von Managern nach all den Pleiten und Skandalen verschärfen. Aber die Wirtschaftsverbände legten sich erwartungsgemäß quer. Konzerne könnten aus Angst vor zu harten Gesetzen nach Luxemburg auswandern, warnten sie. Da fragt man sich, warum es in den USA, in Frankreich und in Großbritannien möglich ist, Haftungsregeln für Manager zu erstellen, die viel strenger sind als die in Deutschland. Es ist bemerkenswert, dass die Manager die heiß geliebte Eigenverantwortung für sich selbst nicht gelten lassen wollen.

Der Neoliberalismus führt in seiner Konsequenz zu Rücksichtslosigkeit und Selbstbereicherung. [...]

Dichter und Denker statt Kostensenker

Es gab immer wieder gesellschaftliche Epochen, in denen nach einem ethischen Neuanfang gerufen wurde. Zufällig fiel mir ein Text des ehemaligen Reichskanzlers und Außenministers Gustav Stresemann aus den dreißiger Jahren in die Hände, also aus den Zeiten der Weltwirtschaftskrise. Er könnte – leicht verändert – auch am Ende der gescheiterten neoliberalen Ära unserer Zeit stehen:

„Unser ganzes Leben, unsere Auffassung steht unter dem Eindruck des Materiellen. Wir sprechen immer nur von Produktion, von Währung, von technischen Mitteln, dies oder jenes zu tun. Vergessen wir jedoch darüber das eine nicht: Jeder Wiederaufstieg Deutschlands wird und muss ausgehen vom sittlichen Empfinden des Deutschen Volkes. Wenn wir nicht vom sittlichen Empfinden ausgehen und der Geist des Volkes uns den Weg des Wiederaufbaus weist, dann wird ihn uns die Technik, dann wird ihn uns die Wirtschaft nicht weisen.“

Der Stärkere sorgt für den Schwächeren

Nicht mehr von Verantwortung, sondern von Eigenverantwortung ist in diesen Tagen die Rede. Das klingt harmlos, und wer wollte bestreiten, dass die Stärkung der menschlichen Eigenverantwortung elementar und notwendig ist. Und dennoch charakterisiert das Austauschen des Wortes „Verantwortung“ durch „Eigenverantwortung“ einen fundamentalen gesellschaftlichen Wandel. Verantwortung ist im Kern Verantwortung von Menschen für Menschen. Sie ist, wie der Philosoph Hans Jonas es formulierte, die als Pflicht erkannte Sorge für den anderen, die Sorge des Stärkeren für den Schwächeren. Die so verstandene Verantwortung ist die Leitidee, die unserem Sozialstaat zugrunde liegt. Der Arbeitende sorgt für die Rentner und Arbeitslosen, der Gesunde hilft den Kranken. [...]

Aus der sozialen Marktwirtschaft wurde die neoliberale Ellbogenwirtschaft, in der das Kostensenken dominiert und die Sozialstaatsidee diffamiert wird. [...]

Aber heute sind die Stichworte, die fallen, wenn über den Sozialstaat geredet wird, völlig anderer Natur. Sie heißen „Kosten“, „Umverteilung“ (als hätten Rentner, Kranke und Arbeitslose nie Beiträge gezahlt), „Missbrauch“, „Nichtstun“ und „Ausländer bekommen zu viel Geld“. Noch entscheidender ist aber: Die Verantwortung, die als Pflicht erkannte Sorge für den anderen, wird in der neoliberalen Ära zur Bevormundung durch den Staat. Und weit davon entfernt, Verantwortung zuerst als Verantwortung von Menschen für Menschen zu begreifen, behauptet man, die Menschen hätten Angst davor, wieder selbst Verantwortung zu übernehmen. [...]

Die Belegschaften erleben fast überall, wie Unternehmer, Betriebsleiter und Manager ihnen Wasser predigen und selbst Wein trinken. Die Globalisierung hat bei Managern zu Gehaltsexplosionen geführt, bei den Belegschaften aber zu Lohnkürzungen. Das Ganze hat Methode und ist das Ergebnis des Wertewandels der Gesellschaft. [...]

Gibt es soziale Gerechtigkeit?

[...] Um soziale Gerechtigkeit durchzusetzen, müssen wir uns von dem Marktfundamentalismus befreien, der das wirtschaftliche Denken unserer Zeit beherrscht. Der Glaube an die Märkte hat geradezu religiöse Züge angenommen. [...] An die Stelle des lieben Gottes ist der Markt getreten. Aber dieser ist nicht barmherzig und gütig. Er vergibt seinen Schuldigern nicht. Er bringt die Menschen nicht dazu, einander zu helfen, im Gegenteil, er fördert das Konkurrenzverhalten.

Rein wirtschaftliche Überlegungen können nie zu einer Bestimmung dessen führen, was unter sozialer Gerechtigkeit zu verstehen wäre. Nur ein aus dem Inneren des Menschen kommendes moralisches Empfinden weist den Weg zu einer gerechten Gesellschaft. [...]

Wenn Starke und Schwache aufeinandertreffen, dann führt die Abwesenheit von Regeln zur Unterdrückung der Schwachen, während das Gesetz dafür sorgt, dass die Schwächeren nicht zu kurz kommen. Daher kämpft die Linke für Regeln, die die Schwachen schützen. Dieser Kerngedanke einer Politik, die Gesetze fordert, um jedem Menschen den notwendigen Freiraum zu sichern, ist den Militärs völlig vertraut. Nichtintervention ist Intervention zu Gunsten der Stärkeren, sagen sie. Für die Gesellschaft heißt das: Deregulierung ist Regulierung zu Gunsten der Stärkeren. Die Neoliberalen kämpfen für das Recht des Stärkeren, damit dieser sich durchsetzen kann, und nennen das dann Freiheit. [...]

Ohne soziale Gerechtigkeit gibt es nur die Freiheit der Stärkeren. Ohne sie gibt es keine Gesellschaft, in der jeder das Recht auf ein menschenwürdiges Leben hat.

Freiheit ist auch die Freiheit des anderen

[...] Mit kaum einem Wort wird auf der Welt so viel Missbrauch getrieben wie mit dem der Freiheit. Die Nazis schrieben über die Tore ihrer Vernichtungslager „Arbeit macht frei“. Wer sich in der Politik auf die Freiheit bezieht, muss sagen, was er darunter versteht. [...]

Die Freiheit, tun und lassen zu können, was man will, ist verlockend. Ein solches Verständnis von Freiheit verliert aber den Bezug zum Mitmenschen. Wer Freiheit als Möglichkeit eines jeden Menschen begreift, über sein Leben selbst zu bestimmen, muss Regeln befürworten, die den Schwachen schützen. Das Verständnis von Verantwortung als Verantwortung von Menschen für Menschen führt zu diesem Freiheitsbegriff. [...] Die Rechte will die Kräfte des Marktes von Schranken befreien, die Linke will den Markt Regeln unterwerfen, um die Schwachen zu schützen.

Dass heute den öffentlichen Auseinandersetzungen ein Freiheitsbegriff zugrunde liegt, der eher auf das Recht des Stärkeren zielt, ist auch an der Geringschätzung der betrieblichen Mitbestimmung erkennbar. Sie ist für den neoliberalen Reformer nur ein Investitionshindernis. Freiheit meint aber nie die Freiheit der wenigen – in diesem Fall die Freiheit der Kapitalbesitzer –, sondern immer die Freiheit aller. [...] Die politischen Parteien teilen die Vorstellungen der Wirtschaftsverbände und die Gewerkschaften werden als Besitzstandswahrer und Betonköpfe diffamiert.

Das Wort „Besitzstandswahrer“ ist ein Paradebeispiel aus dem Lügenwörterbuch des Neoliberalismus. Nicht die sich selbst bereichernden Manager sind damit gemeint, diese müsste man eigentlich auch eher „Besitzstandsvermehrer“ nennen. Gemeint ist auch nicht jenes eine Prozent der Bevölkerung, das 25 Prozent des Geldvermögens besitzt. Ebenso wenig diejenigen, die Produktionsmittel besitzen und Macht ausüben, indem sie mit Betriebsverlagerungen ins Ausland drohen und über das Schicksal der Arbeitnehmer entscheiden. [...]

Mit Besitzstandswahren sind in der verlogenen Welt des Neoliberalismus Arbeitnehmer, Rentner, Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger und diejenigen gemeint, die für die Interessen der sozial Schwachen eintreten. Nirgendwo war die neoliberale Sprachdressur so erfolgreich wie bei Eigentum und Besitz. „Alle Besitzstände müssen auf den Prüfstand“, rufen Deutschlands Reformer und denken nicht an die Reichen, sondern an die Bezieher sozialer Leistungen.

Eine Gesellschaft, die Milliardenvermögen nicht besteuert, aber die Hilfe für die Armen kürzt, ist weder christlich noch sozial. Sie ist schlichtweg pervers.