George MacDonald: Das Lied des Baronet / Lady Florimel

Das Werk von George MacDonald, dem meistgelesenen englischen Autoren des 19. Jahrhunderts, umfasst drei Fantasy-Bücher, acht Märchen und Allegorien für Kinder, fünf Predigtsammlungen, drei Bücher mit Essays, drei Sammlungen mit Kurzgeschichten, mehrere Gedichtsammlungen und 25-30 Romane. Auf deutsch sind u.a. erschienen: Hinter dem Nordwind, Die Prinzessin und Curdie, Lilith.

C.S. Lewis („Die Chroniken von Narnia“) über George MacDonald:
„In MacDonald spricht immer die Stimme des Gewissens... Ich wage nicht zu sagen, dass er sich niemals im Irrtum befindet; aber um es klar zu sagen: ich kenne kaum einen anderen Schriftsteller, der dem Geist Christi selbst näher oder andauernder nahe zu sein scheint.“ [zit. nach „Lady Florimel...“, Vorwort, S. 8].
„Die meisten Sagen wurden in prähistorischen Zeiten gemacht..., aber gelegentlich begegnet man in der modernen Welt einem Genie..., das solch eine Geschichte machen kann. MacDonald ist das größte Genie dieser Art, das ich kenne. [zit. nach „Das Lied des Baronet“, Vorwort, S. 8].

Das Lied des Baronet (1879)

aus: George MacDonald: Das Lied des Baronet. Francke, 1987. (S. 253-256)


Unter einer schwachen, rauchigen Öllaterne blieb Gibbie stehen. Er wußte durch den festeren Griff ihrer Arme, daß Ginevra wieder zu sich gekommen war.

„Laß mich hinunter“, sagte sie schwach.

Er tat das, hielt seinen Arm aber um sie. Sie seufzte tief und schaute verwirrt aus. Als sie ihn sah, lächelte sie.

„Mit dir, Gibbie!“ murmelte sie. „– Aber sie werden hinter uns her­kommen!“

„Sie werden Sie nicht berühren!“ deutete Gibbie an.

„Was hatte dies zu bedeuten?“ fragte sie.

Gibbie buchstabierte auf den Fingern: „Weil ich angeboten habe, Ihnen Glashruach zu geben, falls Ihr Vater Sie Donal heiraten ließe.“

„Gibbie! Wie konntest du?“ rief sie fast schreiend. Sie drückte sei­nen Arm weg, wandte sich von ihm ab und versuchte wegzurennen, aber nach zwei Schritten torkelte sie zum Laternenpfahl und lehnte sich dagegen.

„Dann kommen Sie mit mir mit und seien Sie meine Schwester, Ginevra, und ich will für Sie sorgen“, buchstabierte Gibble. „Ich kann nicht auf Sie aufpassen, wenn ich nicht in Ihre Nähe kommen kann.“

„Oh, Gibbie! So etwas tut niemand“, erwiderte Ginevra, „sonst täte ich es so gern!“

„Es gibt keine andere mir bekannte Möglichkeit. Sie heiraten nämlich niemanden, wissen Sie.“

„Ich heirate nicht, Gibbie? Wie kommst du denn darauf?“

„Weil Sie natürlich nie Donal ausschlagen und jemanden anders heiraten würden, das wäre gar nicht möglich.“

„Oh! Quäl mich nicht, Gibbie.“

„Ginevra, Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß Sie heiraten wol­len?“

Im schwachen Licht und mit Gibbies unvollkommenem Mittel, mit dem er seine Gedanken darzustellen versuchte, verstand Ginevra ihn falsch.

„Ja, Gibbie“, sagte sie. „Das würde ich tun. Ich habe gemeint, daß es zwischen uns abgemacht war vom Tag an, als du mich auf Glashgar angetroffen hast. In meinen Gedanken war ich schon die ganze Zeit dein.“

Sie wandte ihr Gesicht zum Laternenpfahl. Aber Gibbie ließ sie ihn anschauen.

„Sie meinen doch nicht etwa“, buchstabierte er eilig, „daß Sie mich heiraten würden? – Mich? Das wäre mir nie im Traum eingefallen.“

„Dann hast du es nicht ernst gemeint!“ sagte Ginevra mit einem Aufschrei, der bitter war, jedoch schwach vor Verzweiflung und der mit einem erstickten schrillen Schrei endete. „Was habe ich jetzt bloß gesagt! Ich habe gemeint, ich gehörte zu dir! Ich habe gemeint, du wolltest mich schon immer haben!“ Sie brach in ein verzweifeltes Schluchzen aus. „Ich war die ganze Zeit alleine und wußte es nicht.“

Sie sank auf die Pflastersteine am Fuße des Laternenpfahles, weinte heftig und wurde von Schluchzern geschüttelt. Gibbie war traurig und bestürzt. Der Himmel hatte sich seinen Blicken geöffnet, dessen Farben füllten seine Augen; dessen Klänge füllten ihm Ohren und Herz und Verstand. Aber die Pförtnerin war zu beschäftigt mit Weinen und wollte die Tür nicht aufmachen. Er konnte sie auch nicht erreichen, um sie zu trösten – sie brauchte ihre Augen, um zu weinen, und da waren seine armseligen Zeichen zu nichts nutze. Gibbie hielt eine ihrer Hände und streichelte sie. Dann zog er seinen Mantel aus und legte ihn ihr sanft um die Schultern. Sie wurde etwas ruhiger.

„Bring mich nach Hause, Gibbie“, sagte sie mit leiser Stimme.

Gibbie legte die Arme um sie und half ihr auf die Füße. Sie schaute ihn an und sah ein Gesicht, das leuchtete vor Glückseligkeit. Nie, nicht einmal auf Glashgar hatte sie ihn so gesehen. Und in seinen Augen war etwas, was triumphierte, nicht über die Stummheit, sondern über die Sprache. Es brachte ein rosi­ges Feuer auf ihre bleichen Wangen; sie verbarg das Gesicht an seiner Brust. Und unter der schäbigen, roten Flamme der Lampe in der steini­gen Straße hielten sie sich gegenseitig so beglückt fest, als ob sie unter einem vor Glühwürmchen wimmelnden Orangenbaum stünden. Denn jeder kannte das Herz des anderen.

Wie lange sie dort standen, wußte keiner von ihnen. Die Lady hätte nicht gesprochen, wenn sie es gekonnt hätte, und der Jüngling hätte nicht gekonnt, wenn er es gewollt hätte. Aber die Lady zitterte; und weil sie zitterte, wollte sie, daß der Jüngling seinen Mantel wieder nähme. Er aber trotzte der Kälte. Er ließ sie die Arme in die Ärmel stecken und knöpfte ihr den Mantel zu; beide lachten, als sie sahen, wie weit er war. Dann nahm er sie bei der Hand und führte sie weg, ergeben wie damals, als er sie und ihr Herz zum ersten Mal auf Glashgar angetroffen hatte.

[...]

Gibbie ging heimwärts, als ob Pearl Street die Stufen von Glashgar und das Auld Hoose o' Galbralth eine herrschaftliche Villa in den Him­meln wären. Die Liebe für dieses braune Täubchen hatte sich so viele Jahre gesammelt und sich ständig getürmt in seinem Herzen. Nun war der Felsen endlich gesprengt worden und der Schatz hervorgestürzt. Gibbies Liebe war einfach, selbstlos, anspruchslos – sie bat nicht um Erwiderung, auch nicht darum, anerkannt zu werden; verlangte nicht einmal, daß ihre Existenz überhaupt bekannt wurde. Er war ein unge­wöhnlicher Mensch, der den üblichen Wunsch, nämlich geliebt zu wer­den, nicht mit der Liebe selbst verwechselte.

[...]

Der Mann, der am meisten hebt, liebt am besten. Der Mann, der Gott und seine Nächsten völlig liebt, ist der einzige Mann, der eine Frau auf ideale Weise hebt – er kann sie lieben mit der Liebe, an die Gott dachte, als er den Menschen als Mann und Frau schuf.

Weil Gibbies Liebe sich auf alles Menschliche bezog, konnte er Ginevra so lieben, wie Donal sie noch nicht lieben konnte. Seine Liebe für Ginevra stand wie ein wachsendes Dickicht aus wohlriechenden Sträuchern, bis ihr Geständnis das Feuer des Himmels hineinbrachte. Er hätte sich nie vorgestellt, nie gehofft, nie gewünscht, daß sie ihn so liebte. Sie hatte seinen Freund abgewiesen, den starken, edlen, hübschen Donal, den Dichter; und nur weil er es von ihren eigenen Lippen hörte, glaubte er, daß sie ihre Gefühle auf den kleinen Sir Gibbie gerichtet hatte, einen Niemand, der in seinen eigenen Augen ein brennendes Herz war, das in zerrissenen Kleidungsstücken herumlief. Unermeßlich war deshalb sein Glücksgefühl. Die Summe des Glücks in der Stadt an jenem Abend, zusammengefaßt in einer Welle, hätte die Spitze der mächtigen Welle nicht einmal halbwegs erreicht, die sich in Gibbies Geist rau­schend himmelwärts wälzte.

Lady Florimel und der Fischer (1875)

aus: George MacDonald: Lady Florimel und der Fischer. Francke, 2003. (S. 28ff, 44f, 69ff, 158f)


Das Echo war kaum verklungen, als er durch einen erschrecken­den Schrei aufgestört wurde. Er blickte zum Ufer und entdeckte eine junge Frau auf einem niedrigen Felsen, der ein Stück ins Was­ser hinausreichte. Sie hatte sich halb erhoben und anscheinend eben erst gemerkt, daß sie vom Wasser der steigenden Flut einge­schlossen war. Er stürzte die Düne hinab und rief ihr im Laufen zu: „Nicht bewegen, Mem! Warten Sie, ich komme.“

Er lief geradewegs in die auflaufende Flut hinaus, da die Entfer­nung zum Schwimmen zu gering und das Wasser zu niedrig war. In einem Augenblick war er bei ihr, nahm kaum die bloßen Füße wahr, die sie gebadet hatte, und achtete nicht auf ihre Handbewe­gung, die ihn zurückwinkte. Er faßte sie mit den Armen wie ein kleines Kind und trug sie sicher zum Ufer, ehe sie auch nur eines Wortes mächtig war. Er hielt erst inne, als er sie den Abhang des Sandhügels hinaufgetragen hatte, wo er sie behutsam zu Boden gleiten ließ, ohne sich irgendwelche Gedanken über die Freiheit zu machen, die er sich erlaubt hatte, nur erfüllt davon, Hilfe zu brin­gen. Mit dem Rock, den er weggeworfen hatte, als er ihr zur Hilfe eilte, begann er sich die Füße zu trocknen.

„Lassen Sie mich doch bitte allein!“ rief das Mädchen halb amüsiert, halb ärgerlich, zog die Füße an sich und warf ein Buch, das sie in den Händen gehalten hatte, beiseite, um die Füße besser unter dem Rock zu verbergen. Obwohl sie zurückgeschreckt war, konnte sie seine Ergebenheit wirklich nicht mißverstehen, konnte sich auch nicht verhehlen, daß ihr seine Freundlichkeit gefiel. Wahrscheinlich hatte sie sich noch nie zuvor einem so schlechtge­kleideten Menschenwesen verpflichtet gefühlt, doch selbst in die­ser Aufmachung bemerkte sie durchaus, daß er ein feiner Bursche war.

„Wo sind denn Ihre Strümpfe, Mem?“

„Ihr ließet mir ja keine Zeit, sie aufzuheben, Ihr packtet mich so – so heftig“, antwortete das Mädchen etwas ärgerlich, aber mit einer so lieblichen Sprache, wie sie nie zuvor an seine schotti­schen Ohren gedrungen war.

Ehe ihr die Worte noch völlig entschlüpft waren, eilte er bereits mit langen Schritten zum Felsen zurück. Die verlassenen Schuhe und Strümpfe befanden sich in unmittelbarer Gefahr, vom stei­genden Wasser hinweggeschwemmt zu werden, doch er stürzte sich ins Wasser, hatte nach ein paar Schwimmzügen die Gegen­stände gerettet, die er auf Armeslänge von sich weghielt, als er zu­rückwatete und eine nasse Spur vom Ufer aus hinter sich ließ. Er breitete seine Jacke vor ihr aus, und als er bemerkte, daß sie ihre Füße unter dem Rock verborgen hielt, drehte er sich um und blieb stehen.

„Warum geht Ihr nicht weg?“ fragte das Mädchen und streckte vorsichtig einige Zehen unter ihrer Hülle hervor, wagte aber ihre Füße nicht weiter zu entblößen.

Wortlos und ohne den Kopf umzudrehen machte er sich auf den Weg.

Das Mädchen, das vielleicht von seinem Gehorsam und der Ein­sicht, er sei ein echter Kavalier, geschmeichelt war, aber wohl auch nicht gerne auf das Vergnügen verzichten mochte, das ihr seine Gegenwart bereitete und teilweise von einer angeborenen Lust zu necken getrieben wurde, wandte sich von neuem an ihn: „Ihr geht doch nicht weg, ohne mir zu danken?“

„Wofür, Mem?“ entgegnete er einfach und blieb stocksteif ste­hen, immer noch von ihr abgewandt.

„Ihr braucht nicht so dazustehen. Ihr glaubt doch nicht, daß ich mich weiter anziehe, solange Ihr in Sichtweite seid?“

„Ich war schon so gut wie fortgegangen, Mem“, sagte er und drehte sich mit niedergeschlagenem Blick um.

„Sagt mir, was das heißen soll, daß Ihr mir nicht dankt“, be­harrte sie.

„Es wäre ein leerer Dank, Mein, wenn ich nicht weiß wofür.“ „Natürlich dafür, daß ich Euch erlaubt habe, mich ans Ufer zu tragen.“

„Seid also von Herzen bedankt, Mem.“

„Sagt nicht immer 'Ma'am' zu mir.“

„Was soll ich denn sonst sagen, Mem? – Verzeihung, Mem.“

„Sagt 'my Lady'. So sprechen mich die Leute an.“

„Ich dachte mir schon, daß Sie etwas ganz Besonderes sind, my Lady. Deshalb sind Sie auch so hübsch“, erwiderte er mit zittern­der Stimme. „Aber Sie müssen jetzt Ihre Strümpfe anziehen, my Lady, sonst bekommen Sie kalte Füße, und das ist nicht gut für jemand wie Sie.“

Die Anrede, die sie ihm vorgeschrieben hatte, erweckte in ihm keinen Gedanken an einen Rang, sondern bestärkte ihn nur in sei­ner Vorstellung, daß sie eine Dame sei, die von den Frauen seines eigenen Lebenskreises um Welten entfernt war.

„Und was bitte wird aus Euch?“ fragte sie. „Mit euren tropf­nassen Kleidern?“

„Ich bin mit Salzwasser viel zu vertraut, als daß es mir schaden würde“, entgegnete der junge Mann. „Manchmal laufe ich von morgens bis abends in nassen Sachen herum, wenn wir auf Heringsfang gehen, my Lady.“

[...]

Der Glanz eines jungen Sommermorgens durchdrang den Himmel, Erde und Meer und ließ das Herz des jun­gen Mannes schwellen, als er von unbewußter Unruhe erfüllt der Selbstsicherheit des Mädchens gegenüberstand. Sie war jünger als er und wußte weit weniger von den Dingen, die man wissen sollte. Doch sie besaß einen außerordentlichen Vorteil ihm gegenüber –nicht nur die Wirkung ihrer Gegenwart auf jemand, der noch nie eine so schöne Gestalt gesehen hatte. Es kam dazu die Bereitschaft zu oberflächlichem Denken und der Schliff ihrer Sprache, die ihr ein Gefühl der Überlegenheit über den Mann verliehen, den sie nun mit ihrer Konversation auszeichnete. Nach ihrer persönlichen Erschei­nung hätte der junge Mann sie wohl für zwanzig halten können, denn sie sah mehr wie eine erwachsene Frau aus als er trotz seines kräf­tigen hohen Körperbaus für einen Mann gegolten hätte. Sie war ziemlich groß und schlank mit kleinen Händen und Füßen. Ihr Haar war von dunklem Braun, die Augen von einem so leuchtenden Blau, daß niemand sie hätte für Grau ansehen können. Ein paar Som­mersprossen verliehen dem Gesicht einen besonders warmen Ton.

[...]

„Habt Ihr ein eigenes Boot?“ fragte die Lady.

„Ja, das ist's, da drüben im Wasser. Möchten Sie gerudert wer­den? Sie ist schön und ruhig.“

„Wer? Das Boot?“

„Die See, my Lady.“

„Ist Euer Boot sauber?“

„Von allem außer Fisch. Aber nein, das paßt nicht zu einem hübschen Kleid wie dem Ihrigen. Ich kann Sie heute nicht einstei­gen lassen, my Lady. Aber wenn Sie wollen, dann seien Sie mor­gen früh wieder hier. Ich werde um die gleiche Stunde hier sein und mein Boot so sauber haben wie einen Sonntagsanzug.“

„Ihr denkt mehr an mein Kleid als an mich“, entgegnete sie.

„Um Sie braucht man sich keine Gedanken zu machen, my La­dy. Sie sind so gut gemacht, daß Sie keinen Schaden nehmen. Doch ich möchte nicht daran denken, wie das Kleid aussieht nach einer Stunde im Boot, wenn die Fische umherspringen. Aber ich muß nun wirklich gehen; ich wünsche Ihnen einen guten Morgen, my Lady.“

 „Urn Himmels willen, ich will Euch nicht von Euren kostbaren Fischen abhalten.“

Malcolm, der sich gemaßregelt fühlte und nicht wußte warum, nahm die Entlassung an und lief zu seinem Boot. Als er die Ruder in die Hand nahm, war das Mädchen verschwunden. [...]

Malcolm besaß Selbstvertrauen, war aber in keiner Weise eingebildet. Er war weder hochfahrend, noch emp­fand er Minderwertigkeit. So hatte er noch nicht einmal angefan­gen darüber nachzudenken, welch ein Abgrund ihn von Lady Florimel trennte, ein Abgrund ohne Brücke, ein blanker, leerer Raum. Er empfand ihre Gegenwart nur als die eines anbetungs­würdigen Wesens, dem man voll Entzücken zuhörte und das man doch ohne Scheu ansprach.

[...]

An einem schwülen Nachmittag lag Florimel an dem der See zu­gewandten Hang der Düne, vergraben in ihr Buch. Der Himmel dampfte vor Hitze, die See lag stumpf, als.drücke die Luftschicht sie nieder. Langsam stieg die Flut, begleitet von einem leisen, schläfrigen Gemurmel auf dem Sand. Während sie las, kam Mal­colm auf der Düne des Weges, doch erst, als er fast über ihr war, vernahm sie seine Schritte im weichen Sand.

Sie nickte freundlich, und er stieg zu ihr nieder.

„Wünschen Sie etwas von mir, my Lady?“ fragte er.

„Nein“, antwortete sie.

„Ich war mir nicht sicher, ob Sie mir zugenickt haben, weil Sie etwas von mi~ wollten“, meinte Malcolm und schickte sich an, wieder die Düne hochzusteigen.

„Wohin geht Ihr jetzt?“ fragte sie.

„O, nirgendwohin im besonderen. Ich kam nur, um die Dinge zu betrachten.“

„Was für Dinge?“

„Einfach den Himmel und das Meer.“

„Nurt, dann möchte ich Euch nicht von so wichtigen Angele­genheiten abhalten“, sagte Lady Florimel und wandte den Blick wieder ihrem Buch zu.

„Wenn Sie meine Gesellschaft möchten, kann ich genausogut von hier aus Umschau halten als anderswo“, meinte Malcolm.

Mit diesen Worten streckte er sich einige Schritte von ihr ent­fernt weiter unten an der Düne nieder. Florimel blickte halb belu­stigt, halb ärgerlich, aber sie hatte das selbst herbeigeführt und strafte ihn nun, indem sie sich wieder auf ihr Buch konzentrierte und schwieg.

Malcolm lag da und schaute sie einige Augenblicke lang nachdenk­lich an; dann glaubte er den Grund für ihre Verstimmung gefunden zu haben, erhob sich, ging auf die andere Seite und legte sich von neuem nieder, wahrte aber eine noch respektvollere Entfernung.

„Warum habt Ihr Euch dorthin gelegt?“ fragte sie, ohne aufzu­schauen.

„Weil von Nordost eine leichte Brise weht.“

„Und Ihr wolltet durch mich davor beschützt werden?“ fragte Lady Florimel.

„O nein, my Lady“, entgegnete Malcolm lachend, „so schmal wie Sie sind, wären Sie nur ein geringer Schutz für mich.“

„Warum habt Ihr Euch dann dorthin gelegt?“ wollte das Mäd­chen wissen.

„Nun, my Lady, es ist heiß, und ich bewege mich fast die ganze Zeit unter den Fischen. Als ich mich auf den Weg machte, wußte ich nicht, daß ich Ihnen begegnen würde. So fiel mir eben ein, daß meine Kleidung nach Fisch riechen könnte. Das ist zwar gesund, aber manche Leute mögen das nicht. Soweit ich weiß, sind Leute wie Sie da vielleicht empfindlicher als wir Fischer.“

Diese Erklärung, so einfach sie war, gab ihr ihren Gleichmut zurück. Sie beugte den Kopf wieder über ihr Buch. Nach drei Stanzen sah sie auf und betrachtete den jungen Mann, der dalag und sie mit Augen anblickte, als wolle er ihr zu Diensten sein.

„Nun?“ fragte sie schließlich. „Worauf wartet Ihr?“

„Ich dachte, Sie wollten mir etwas sagen, my Lady. Ich bitte um Verzeihung“, antwortete Malcolm, sprang auf und schickte sich zum Gehen an.

„Lest Ihr jemals?“ wollte sie wissen und brachte ihn zum Halten.

„O ja“, erwiderte Malcolm, der sich umwandte und still da­stand. „Am liebsten lese ich so, wie es my Lady eben tun, ich lege mich auf eine Düne und habe die ganze See vor mir.“

„Und was lest Ihr bei solchen Gelegenheiten?“

„Manchmal dies, manchmal das – was ich gerade in die Finger bekomme. Ich mag gern Reisebeschreibungen oder Geschichtsbü­cher, wenn sie nicht zu trocken geschrieben sind. Predigten mag ich nicht gern, obwohl es den Anschein hat, daß von ihnen in Portlossie mehr vorhanden sind als anderswo. Mr. Graham – das ist der Lehrer – hat eine feine Bibliothek. Aber sie besteht vor­wiegend aus lateinischen und griechischen Büchern. Ich mag La­tein zwar recht gern, aber wenn ich am Meer bin, will ich nicht etwas lesen, wo ich ständig im Lexikon nachschlagen muß.“

„Könnt Ihr denn auch Latein lesen?“

„Ja, ich kann etwas Vergil lesen und auch Horaz. Aber Damen befassen sich im allgemeinen nicht mit solchen Dingen.“

„Ihr Gentlemen gebt uns ja keine Gelegenheit. Ihr wollt uns nicht unterweisen.“

„Nun, my Lady, fangen Sie nicht an, sich über mich lustig zu machen wie my Lord. Ich kann es von ihm nur schwer ertragen, und wenn Sie das ebenfalls machen, dann müßte ich mich von Ihnen fernhalten. Ich bin kein Gentleman, und ich habe viel zu sehr Res­pekt vor dem, was einen Gentleman ausmacht, als daß ich so be­nannt werden möchte. Aber was das Latein angeht, so wäre ich stolz, my Lady darin zu unterrichten, wann immer Sie wollen.“

[...]

Mitten in die Unterhaltung zuckte ein greller Blitz, und Donner dröhnte durch die bleierne Luft, gefolgt von schweren, mit Hagel­körnern vermischten Regentropfen. Bei dem Blitz stieß Florimel einen Schrei aus und erhob sich halb, doch stürzte sie mit dem Donner nieder, wie betäubt von dem Krach. Mit einem Satz war Malcolm an ihrer Seite, doch als sie seine Angst um sie bemerkte, lächelte sie, griff nach seiner Hand und sprang auf.

„Los, kommt“, rief sie und eilte, immer noch seine Hand fest­haltend, die Düne hinauf und auf der anderen Seite hinunter. Malcolm blieb Schritt für Schritt an ihrer Seite, doch war er heftig versucht, sie einfach hochzunehmen und mit ihr zu dem löcheri­gen Felsen hinzurennen, dessen Höhle ihnen den besten Unter­schlupf bei dem plötzlichen Gewitter geboten hätte. Er konnte sich nicht denken, warum sie zur Straße hin eilte, die hoch auf ei­nem unersteigbaren Damm verlief. Auf der anderen Seite lag die Parkmauer. Doch sie steuerte direkt auf ein Tor im Damm selbst zu, das dunkel zwischen zwei Pfeilern eingefaßt lag. Da er das Tor nie offen gesehen hatte, war es ihm nicht eingefallen. Einen Au­genblick lang stand sie keuchend da, während sie mit zitternder Hand einen Schlüssel in das Schloß steckte. Im nächsten Augen­blick stieß sie das ächzende Tor auf und trat ein. Als sie sich um­wandte, um den Schlüssel herauszuziehen, sah sie Malcolm in einiger Entfernung auf der Düne in einem Sturzbach von Wolken­bruch stehen. Er hatte den Hut in der Hand und hielt nach einem Abschiedsblick Ausschau.

„Warum kommt Ihr nicht herein?“ rief sie ungeduldig.

Im Nu stand er neben ihr.

„Ich wußte nicht, ob Euch das recht ist, wenn ich hereinkom­me“, sagte er.

„Ich möchte Euch nicht gerne ertrinken lassen“, entgegnete sie und schloß das Tor.

„Ertrinken!“ wiederholte er. „Es braucht schon eine ganze Menge, daß ich ertrinke. Ich hing eine ganze Nacht auf dem Kiel eines gekenterten Bootes, als ich erst fünfzehn war.“

Sie standen in einem Tunnel, der unter der Straße durchführte und den Park unmittelbar mit dem Strand verband. Das andere Ende des Durchganges war von Bäumen verdunkelt.

„Meinen Sie nicht, my Lady“, sagte Malcolm, „daß Sie nun besser ins Haus gehen sollten? Bei dem Wind und der Nässe wer­den Sie sich zu Tode erkälten. Ich werde Sie begleiten, soweit Sie mir erlauben, damit Sie nicht weggeblasen werden.“

Der Sturm flaute plötzlich ab, und seine letzten Worte hallten in dem gewölbten Durchgang laut wider. In der Stille verdüsterte sich die Welt für einen Augenblick, dann wurden sie von einem grellen Blitz geblendet, der nur die Finsternis des Tunnels hinterließ. Die schwarzen Gewitterwolken hatten weit vor der Zeit die Abenddäm­merung mit sich gebracht. Ein dröhnender Donner folgte, und noch ehe er abgeklungen war, huschte ein weißes Gesicht am Gitter des Tores vorbei, und eine angsterstickte Stimme schrie laut:

„l dinna ken whaur it comes from!“*

Florimel griff nach Malcolms Arm. Das Gesicht war so dicht an ihnen vorbeigehuscht – nur das Gitter dazwischen, und der Schrei zerschnitt den Donner wie mit einem Messer.

Instinktiv, beinahe unbewußt, nahm er sie in seinen Arm, um sie vor ihrem eigenen Entsetzen zu bewahren.

„Haben Sie keine Angst, my Lady“, sagte er. „Das ist nur der verrückte Laird. Er ist ein ganz ruhiges Geschöpf, aber er weiß nicht, wo er herkommt – er weiß nicht, wo irgend etwas her­kommt – und das kann er nicht ertragen. Aber der Laird würde keinem lebenden Wesen etwas zuleide tun.“

„Was für ein schreckliches Gesicht!“ sagte das Mädchen schaudernd.

„Es ist kein schlimmes Gesichw, meinte Malcolm, „nur das Ge­witter hat ihn zutiefst erschreckt, und sein Gesicht sieht nun so to­tenblaß aus wie sonst nicht.“

„Kann man denn nichts für ihn tun?“ fragt sie mitleidig.

„Auf dieser Seite des Grabes kaum, my Lady“, antwortete Malcolm.

Nun erst gewahrte das Mädchen ihre Stütze. Sie legte ihre Hand auf Malcolms Arm und schob ihn weg. Er gehorchte sofort, und sie sagte nichts.

„Es wurde davon geredet“, fuhr er rasch mit unsicherer Stimme fort, „ihn nach Aberdeen in eine Anstalt zu schicken und ihn nicht mehr wie bisher durch die Gegend streifen zu lassen. Aber das wä­re die schiere Grausamkeit, denn er liebt nichts so sehr wie das freie Herumstreifen, und er tut niemand einen Schaden. Er hat ge­nauso ein Recht auf die Freiheit, die Gott ihm gab, wie jeder ande­re lebende Mensch, und vielleicht mehr als manch anderer.“

„Weiß man denn nichts über ihn?“

„Man weiß alles über ihn, my Lady, so wie von uns anderen auch. Sein Vater war der Laird von Gersefel – und nebenbei ist er nun selbst der Laird geworden. Aber es heißt, er habe eine sol­che Abneigung gegen seine Mutter, daß er nicht einmal das Wort 'Mutter' ertragen könne. Er schreit laut, wenn er es nur hört.“

„Es sieht aus, als klare das Wetter auf“, bemerkte Florimel.

„Das ist sicher nur eine kurze Unterbrechung“, erwiderte Mal­colm nach einem Blick auf den Himmel, soweit man ihn durch die Stäbe sehen konnte, „aber ich glaube, Sie sollten nun zum Haus laufen, my Lady. Ich werde einige Schritte hinter Ihnen folgen und aufpassen, daß Sie sicher sind. Aber keine Angst – ich gebe schon acht, daß man Sie nicht in Gesellschaft eines Fischers wie mich sieht.“

Die Schlichtheit von Malcolms Äußerung erstickte jeden Zwei­fel, und das Mädchen schwieg. Sie ließen den Tunnel hinter sich, umrundeten einen kleinen Hügel und befanden sich unvermittelt mitten in einem Jungwald, durch den ein kiesbestreuter Weg zum Herrenhaus führte. Sie waren noch nicht weit gekommen, als ein Windstoß von weit größerer Heftigkeit als zu Beginn des Gewit­ters Wald und Bäume, junge Lärchen, Birken und Sykomoren, niederbog. Lady Florimel drehte sich um und hielt nach Malcolm Ausschau. Ihr Haar flatterte im Sturm, und ihr Kleid zerrte an ihr, als wollte es sie forttragen. Nie in ihrem Leben war sie im Sturm draußen gewesen, und sie fand diesen Kampf herrlich auf­regend. Das Brüllen des Sturms in den Bäumen war großartig, und die Bäume, die sich drehten, bogen und dem Sturm trotzten, beflügelten ihre Phantasie so sehr, daß sie die Arme ausbreitete und anfing zu tanzen und herumzuwirbeln, als sei sie mitten im Zentrum des Sturmes. Malcolm, der sich vielleicht dreißig Schritte hinter ihr befand, war im nächsten Augenblick an ihrer Seite.

„Ist es nicht herrlich?“ rief sie.

„Es bläst ganz ordentlich – fast so toll wie mein Daddy“, sagte Malcolm, der das Ganze genauso genoß wie das Mädchen.

„Wie könnt Ihr aus diesem großartigen Aufruhr der Natur ein Spiel machen“, sagte Florimel überlegen.

„Aus dem Sturm ein Spiel machen, weil ich ihn mit meinem Großvater vergleiche!“ rief Malcolm. „Hören Sie, my Lady! Für den größten Sturm, der je tobte, ist es ein Kompliment, mit einem alten Mann wie ihm verglichen zu werden.“

Als der Sturm abgeflaut war, setzte Florimel ihren Weg fort. Malcolm hielt noch an und ließ einen passenden Abstand zwi­schen beiden.

„Ihr braucht nicht so weit zurückzubleiben“, meinte Florimel zurückblickend.

„Wie Sie meinen, my Lady“, antwortete Malcolm und kam her­zu. „Ich werde mit Ihnen gehen, bis Sie mir Einhalt gebieten ... Ach, my Lady, heute sehen Sie so ganz anders aus als neulich morgens.“

„Welchen Morgen?“

„Als Sie am Fuße des löcherigen Felsens saßen.“

„Löcheriger Fels! Was ist das?“

„Das ist der Fels am Strand, in dem eine Höhle ist. Sie kennen den Felsen gut, my Lady. Sie saßen an seinem Fuß und lasen in Ihrem Buch, und Sie sahen so weiß aus wie frischgefallener Schnee. Ich dachte an den Engel auf dem Grabstein, als ich Sie damals sah.“

„Und wie sehe ich heute aus?“ fragte sie.

„O, heute sehen Sie aus wie ein Geschöpf des Sturms oder viel­leicht wie der Sturm selbst, der menschliche Gestalt angenommen hat.“

„Ach du liebe Zeit!“ rief Florimel dazwischen. „Ich habe mein Buch verloren!“

„Ich werde zurückgehen und danach schauen, my Lady“, sagte Malcolm. „Ich kenne jeden Zoll des Strandes, und wenn es auf dem Weg liegt, den wir gekommen sind, dann muß ich auf alle Fälle darauf stoßen. Sie müssen nun heimgehen, denn der Regen wird gleich wieder einsetzen, und Sie werden naß, wenn Sie sich nicht beeilen“, fügte er mit einem Blick zu den Wolken hinzu.

„Aber wie bekomme ich es dann? Ich will es unbedingt haben.“

„Ich werde es einfach ins Haus bringen und sagen, daß ich es da gefunden habe, wo es gelegen hat. Aber geben Sie mir bitte Ihr Taschentuch, damit ich es darin einwickeln kann, denn ich fürch­te, ich mache es sonst schmutzig.“

Florimel reichte ihm ihr Tuch, und er verabschiedete sich mit dem Versprechen, in längstens einer halben Stunde zurück zu sein.

[...]

Im Haus angekommen, über­gab er das Buch der Köchin mit einem kurzen Bericht, wo er es gefunden hatte, und bat sie nachzuforschen, ob es jemandem im Hause gehöre. Die Köchin schickte eins der Mädchen mit dem Buch zu Lady Florimel, und Malcolm wartete, bis sie zurückkam – mit einem Dank und einer halben Krone. Er nahm das Geld und kehrte durch das obere Tor in die Stadt zurück.

[...]

Einige Tage lang blieb das Wetter trüb und unbeständig mit kal­ten Windböen und gelegentlichen Regenschauern. Doch dann kam ein Morgen, noch immer grau zwar, aber warm und voller Hoffnung; noch vor Mittag brach die Sonne durch, und die letz­ten Nebel verzogen sich. Malcolm war in Scaurnose gewesen und hatte seinen Freund Joseph Mair besucht. Nun stieg er den steilen Pfad an der Seite des Vorgebirges auf seinem Heimweg hinunter, als sein scharfer Blick am Dünenhang eine Gestalt entdeckte, die niemand anders sein konnte als Lady Florimel. Sie hob den Blick nicht, bis er ganz nahe war, und auch dann schlug sie die Augen nieder ohne ein Zeichen des Erkennens, als sei er ein völlig frem­der Fischer. Sie war schon halb und halb geneigt, eine Auseinan­dersetzung mit ihm vom Zaun zu brechen und stellte sich vor, er werde sich im Vertrauen auf ihr recht alltägliches gemeinsames Abenteuer und seinen Ausgang mit einem bisher nicht gezeigten Selbstvertrauen nähern. Ihr Kopf blieb regungslos über das Buch gebeugt, als er dastand und sie ansprach.

„My Lady“, fing er an und hielt den Hut in der Hand.

„Nun?“ entgegnete sie, ohne auch nur den Blick zu heben, denn das ererbte Vorrecht ihres Ranges versetzte sie in die Lage, beleidi­gend kühl zu sein.

„Ich hoffe, das Büchlein sah nicht gar zu schlimm aus, my La­dy“, sagte er.

„Das hat nichts zu sagen“, erwiderte sie.

„Wenn es meins wäre, würde ich nicht so denken“, gab er zurück und blickte sie eifrig an. „Hier ist Ihr Taschentuch, my La­dy“, fuhr er fort. „Ich habe es sauber gefaltet aufbewahrt, seit mein Daddy es gewaschen hat. Für einen Blinden hat er das recht gut gemacht, und ich selbst hab's gebügelt, so gut ich konnte.“

Beim Sprechen wickelte er ein Stück braunes Papier auf, das er ihr bescheiden überreichte.

Sie nahm es langsam aus seiner Hand, legte es mit einem steifen „danke“ neben sich und senkte wieder den Blick, als wolle sie da­mit ein Ende der Unterhaltung andeuten.

„Ich zweifle, ob Ihnen meine Gesellschaft heute willkommen ist, my Lady, und ich werde mich bald auf den Weg machen“, sagt Malcolm mit unsicherer Stimme, „aber da ist noch etwas, was ich Ihnen sagen muß. Als ich Ihnen neulich Ihr Buch brachte, schickten Sie mir durch Ihre Dienerin eine halbe Krone. Vor dem Mädchen wollte ich nichts gegen etwas sagen, was Sie mir gegen­über taten. Ich dachte bei mir, daß es vielleicht für die Würde von my Lady und die Sicht der Dinge notwendig ist –“

„Wie könnt Ihr irgendein Einverständnis zwischen Euch und mir andeuten!“ rief das Mädchen in hellem Zorn.

„Lieber Gott, Mein! Was habe ich denn gesagt, daß Sie mich so anfunkeln? Ich dachte, Sie hätten das getan, weil Sie vor dem Mädchen nicht schäbig dastehen wollten gegenüber dem Bur­schen, der Ihnen Ihr Buch zurückbrachte.“

Während er sprach, rieb er die Münze, die er aus der Tasche ge­nommen hatte, eifrig mit Sand ab, bis sie glänzte wie neu, als er sie ihr nun hinreichte.

„Ihr irrt Euch“, entgegnete sie ungnädig. „Ihr beleidigt mich mit der Annahme, ich wolle das Geld zurückhaben.“

„Glauben Sie denn, ich könne bezahlt werden für einen Gang zu einem Nachbarn, geschweige denn die Rückgabe eines Buches an eine Darne?“ sagte Malcolm tief verletzt. „Das würde heißen, mich selbst zu verachten. Ich will für meine Arbeit bezahlt wer­den, und ich mag gern gut bezahlt werden. Aber was ich neulich tat, kann man schwerlich als Arbeit bezeichnen. Es kann wohl kei­ne Kränkung sein, wenn ich Ihnen Ihr Geld zurückgebe, my Lady.“

Wieder hielt er ihr die Münze hin.

„Ich sehe nicht im geringsten ein, warum Ihr das Geld nicht nehmen wollt. Ihr habt zweifellos dafür gearbeitet.“

„Wirklich, my Lady, eine solche Einstellung würde die Welt um jede Gnade bringen! Was wäre das Leben wert, wenn man für al­les zahlen würde? Nehmen Sie Ihre halbe Krone an sich, my La­dy“, schloß er in eindringlichem Ton.

Doch der energische Ausbruch genügte, um Lady Florimel in ihrer augenblicklichen Laune zu verärgern.

„Macht mit dem Geld, was Ihr wollt; nur geht fort und laßt mich damit in Ruhe“, erklärte sie eisig.

„Was soll ich damit anfangen, wenn ich es nicht ausgeben will?“ saje Malcolm mit der Geduld tiefer Enttäuschung.

„Gebt es irgendeiner armen Kreatur. Ich bin sicher, Ihr kennt jemand, der sich darüber freut.“

„Ich möchte nicht das Ansehen einer Großzügigkeit haben, die nicht von mir ausgeht.“

„Ihr könnt ja sagen, Ihr hättet es verdient.“

„Und mich damit selbst erniedrigen, indem ich eine Belohnung von einer geborenen Lady für das gleiche annehme, was ich gerne für jeden Bettler im Lande täte? O nein, my Lady.“

„Eure Worte sind in der Tat schmeichelhaft, wenn Ihr mich auf eine Stufe stellt mit jedem Bettler im Land!“

„Nur was einen solchen Dienst angeht, my Lady. Sie wissen recht gut, was ich damit sagen will. Bitte nehmen Sie das Geld zurück.“

„Wie könnt Ihr mich darum bitten zurückzunehmen, was ich einmal gegeben habe!“

„Als Sie das Geld gaben, konnten Sie nicht wissen, was Sie ta­ten. Nehmen Sie es zurück, und ein Stein wird mir vom Herzen fallen.“

Er sprach doch tatsächlich von seinem Herzen! – Wie würde ein Mädchen in Lady Florimels Stimmung das aufnehmen?

„Bitte ärgert mich jetzt nicht länger!“ sagte sie und unterdrück­te ihren Zorn, als sie von neuem zu ihrem Buch griff.

Malcolm blickte sie einen Augenblick an, dann wandte er sein Gesicht der See zu und stand einen Atemzug lang still da. Lady Florimel blickte auf, doch Malcolm nahm ihre Bewegung nicht wahr. Er hob die Hand und schaute auf die halbe Krone, die in seiner Handfläche blinkte. Mit einer plötzlichen Drehung des Kör­pers und einer heftigen Bewegung des Armes schleuderte er die Münze schnell über den Sand in die auflaufende Flut. Noch ehe sie auf das Wasser klatschte, drehte er sich um und ging mit lan­gen Schritten und gebeugtem Kopf von dannen.

Lady Florimel empfand einen heftigen Stich im Herzen.

„Malcolm!“ rief sie.

Er wandte sich sofort um, kehrte langsam zurück und blieb schweigend vor ihr stehen.

Sie mußte etwas sagen. Ihr Blick fiel auf das Päckchen, das ne­ben ihr lag, und sie sprach den ersten Gedanken aus, der ihr durch den Kopf ging.

„Wollt Ihr dies annehmen?“ fragte sie und bot ihm das Ta­schentuch dar.

Benommen streckte er die Hand danach aus und nahm es an sich mit einem Blick, als wisse er nicht, was er da in der Hand hielt.

„Es ist schon etwas Eigenartiges!“ meinte er schließlich mit ei­ner enttäuschten Handbewegung. „Sie wollen nicht einmal das Waschen eines Taschentuches von mir annehmen, aber mir woll­ten Sie eine halbe Krone in die Hand drücken! Mein, Sie sind eine große, hübsche Dame. Und Sie haben eine Art an sich, und wenn es nur eine Bewegung Ihres Kopfes ist, die selbst einen Engel dazu verleiten könnte, alles fallen zu lassen, was er in der Hand hält. Aber ehe ich jemand kränke, die nichts als guten Willen von mir wollte, möchte ich, möchte ich – lieber der Fischerjunge sein, der ich bin.“

Sicher ein schwachbrüstiges Bekenntnis, aber Malcolm fühlte sich endlich erleichtert. Er legte das Päckchen fast andächtig ne­ben ihr in den Sand und wandte sich von neuem zum Gehen. Doch Lady Florimel sprach wieder.

„Nun seid Ihr es, der mich kränkt“, sagte sie weich. „Wenn eine Dame einem Gentleman ihr Taschentuch schenkt, dann wird das im allgemeinen als ganz besondere Gunst aufgenommen.“

„Wenn ich einen Fehler gemacht habe, my Lady, dann deshalb, weil ich kein Gentleman und nicht gewohnt bin, wie ein Gentle­man behandelt zu werden. Aber ich zweifle, ob ein Gentleman Ih­re Absicht geahnt hätte, nachdem Sie ihm zuerst eine halbe Krone anboten.“

„O ja, das hätte er – unbedingt!“ behauptete Florimel mit be­leidigtem Ausdruck.

„Dann bedauere ich, my Lady, zum erstenmal in meinem Le­ben, daß ich nicht als Gentleman geboren wurde.“

„In diesem Falle hätte ich das Geschenk sicherlich nicht ge­macht“, sagte Florimel in ihrer Launenhaftigkeit.

„Warum nicht, my Lady? Ich verstehe Sie wieder nicht. Zwi­schen uns muß doch ein großer Unterschied sein!“

„Weil ein Gentleman sich bei einer solchen Gunst Freiheiten herausgenommen hätte.“

„Nun, dann bin ich mehr als je glücklich darüber“, sagte Mal­colm und hob mit einer langsamen Geste das Tuch auf, „daß ich nicht als Gentleman geboren bin, denn sonst würde ich auf arbei­tende Menschen, zu denen ich selbst gehöre, herabschauen und sie als Menschen zweiter Klasse ansehen. Aber ich bitte Sie um Ver­zeihung, daß ich Sie falsch verstanden habe, my Lady. Und solan­ge ich lebe, werde ich das hier als eine der Federn eines Engels betrachten, die er fallen ließ, als er am ausgehöhlten Felsen saß. Und wenn ich tot bin, will ich das Tuch auf mein Gesicht legen, dann kann ich vielleicht im Vorbeigehen einen Blick auf Sie wer­fen. Leben Sie wohl, my Lady.“

„Lebt wohl“, erwiderte sie freundlich. „Ich wünschte, mein Va­ter würde mir erlauben, daß ich mit Eurem Boot eine Ruderpartie unternehme.“

„Es steht Ihnen jederzeit zu Diensten, wenn Sie wollen, my La­dy“, sagte Malcolm.

Lady Florimel lag auf der Düne und versuchte wieder zu lesen. Doch die beiden letzten Tage war sie dessen müde geworden. Sie hob ihren Blick vom Buch hoch und sah hinaus auf die See. Nir­gends, nicht einmal an tropischen Ufern, gab es einen farben­prächtigeren Ozean. Oppig in Purpur und Grün, mattem Blau und funkelndem Gold erschien er Malcolm. Doch Lady Florimel empfand nur das Alleinsein. Ein einsames Boot lag an dem langen Strand. Ohne Lebenszeichen dehnten sich die bewegungslosen Klippen weit in das Meer hinaus. Wurde sie ihrer Freiheit ohne Gefährten langsam müde? War selbst der Streit mit einem Fi­scherjungen für sie eine Art von Zeitvertreib? Wünschte sie nun, ihn etwas länger aufgehalten zu haben? Konnte sie ein Interesse an ihm entwickeln, das über jenes hinausging, welches sie dem Hund oder dem Lieblingspferd ihres Vaters entgegenbrachte?

Was immer sie in diesem Augenblick an Gedanken und Empfin­dungen bewegen mochte, es blieb die Tatsache, daß Florimel Co­lonsay, die Tochter eines Marquis, und Malcolm MacPhail, der Enkel eines blinden Dudelsackpfeifers, eben eine Frau und ein Mann waren – und der Mann war diesmal der Edlere und tiefer Empfindende von beiden.

[...]

„Ich frage Euch“, verlangte Florimel noch herrischer zu wissen, „was würdet Ihr als erstes tun, wenn Ihr eines Tages plötzlich kein Fischer mehr wäret, sondern der Sohn eines Grafen?“

„Aber ich möchte immer ein Fischer sein – bis ans Ende der Schöpfung, my Lady.“

„Ihr weigert Euch, auf meine Frage zu antworten!“

„Aber nein, my Lady, wenn Sie unbedingt eine Antwort ver­langen.“

„Ich verlange eine Antwort!“

„Wenn Sie eine haben wollen, dann, aber...“

„Kein Aber, sondern eine Antwort.“

„Nun – es ist Ihre eigene Schuld, my Lady! – Ich würde ein­fach, wo ich gerade vor Ihnen stehe, hinknien und eine Menge Dinge sagen, die Sie dann vielleicht schon zur Genüge kennen.“

„Was würdet Ihr mir sagen?“

„Ich würde Ihnen sagen, daß Ihre Augen strahlend sind wie der Blitz, Ihre Wangen wie eine weiße Rose, Ihr Haar so weich, wie sie aus der Hand des Schöpfers kamen, als er nichts Schöneres mehr schaffen konnte, Ihr Mund so, daß die Leute nicht wagen, Ihnen näher zu kommen, und Ihre Gestalt, da gibt es in der Natur nichts anderes – Sie wollten es ja so haben, my Lady!“ fügte er entschuldigend hinzu – und das war gut so, denn Lady Florimels Wangen waren errötet, lange ehe er mit dem Ausbruch seines kel­tischen Gemütes zu Ende war. Ob sie sich nun wirklich ärgerte oder nur so tat, auf jeden Fall fiel es ihr nicht schwer, Malcolm vorzuspielen, sie sei wirklich zornig.

Sie erhob sich aus dem Sessel – doch erst, als er geendet hat­te –, fegte halbwegs bis zur Türe, drehte sich dann um und blitzte ihn an.

„Wie könnt Ihr es wagen!“ fuhr sie ihn an, denn ihre Herkunft brach sich Bahn, und sie wandte sich um und verließ den Raum.

[...]