Marc Aurel: Selbstbetrachtungen

Marc Aurel: Selbstbetrachtungen (griech.: ta eis heautòn), ca. 170-180. Quelle: Projekt Gutenberg

Zweites Buch

1. | Sage zu dir in der Morgenstunde: Heute werde ich mit einem unbedachtsamen, undankbaren, unverschämten, betrügerischen, neidischen, ungeselligen Menschen zusammentreffen. Alle diese Fehler sind Folgen ihrer Unwissenheit hinsichtlich des Guten und des Bösen. Ich aber habe klar erkannt, daß das Gute seinem Wesen nach schön und das Böse häßlich ist, daß der Mensch, der gegen mich fehlt, in Wirklichkeit mir verwandt ist, nicht weil wir von demselben Blut, derselben Abkunft wären, sondern wir haben gleichen Anteil an der Vernunft, der göttlichen Bestimmung. Keiner kann mir Schaden zufügen, denn ich lasse mich nicht zu einem Laster verführen. Ebensowenig kann ich dem, der mir verwandt ist, zürnen oder ihn hassen; denn wir sind zur gemeinschaftlichen Wirksamkeit geschaffen, wie die Füße, die Hände, die Augenlider, wie die obere und untere Kinnlade. Darum ist die Feindschaft der Menschen untereinander wider die Natur; Unwillen aber und Abscheu in sich fühlen ist eine Feindseligkeit.

2. | Was ich auch immer sein mag, es ist doch nur ein wenig Fleisch, ein schwacher Lebenshauch und die leitende Vernunft. Laß die Bücher, die Zerstreuung, es fehlt dir die Zeit. Betrachte dich als einen, der im Begriff ist zu sterben, verachte dieses Fleisch: Blut, Knochen, ein zerbrechliches Gewebe, aus Nerven, Puls- und Blutadern zusammengeflochten. Betrachte diesen Lebenshauch selbst; was ist er? Nur Wind, und nicht einmal immer derselbe, sondern jeden Augenblick ausgeatmet und wieder eingeatmet. Das Dritte ist die gebietende Vernunft. Auf folgendes mußt du bedacht sein: Du bist alt; gib nicht mehr zu, daß sie eine Sklavin sei, daß sie durch einen wilden Trieb dahingerissen werde oder gegen das jetzige Geschick murre oder durch das künftige erschüttert werde. [...]

5. | Denke zu jeder Tageszeit daran, in deinen Handlungen einen festen Charakter zu zeigen, wie er einem Römer und einem Mann geziemt, einen ungekünstelten, sich nie verleugnenden Ernst, ein Herz voll Freiheits- und Gerechtigkeitsliebe. Verscheuche jeden anderen Gedanken, und das wirst du können, wenn du jede deiner Handlungen als die letzte deines Lebens betrachtest, frei von Überstürzung, ohne irgendeine Leidenschaft, die der Vernunft ihre Herrschaft entzieht, ohne Heuchelei, ohne Eigenliebe und mit Ergebung in den Willen des Schicksals. [...]

7. | Warum dich durch die Außendinge zerstreuen? Nimm dir Zeit, etwas Gutes zu lernen und höre auf, dich wie im Wirbelwind umhertreiben zu lassen. Hüte dich noch vor einer andern Verirrung, denn es ist auch Torheit, sich das Leben durch zwecklose Handlungen schwer zu machen; man muß ein Ziel haben, auf das sich alle unsere Wünsche, alle unsere Gedanken richten.

8. | Es ist noch nie jemand unglücklich geworden, weil er sich nicht um das, was in der Seele eines andern vorgeht, gekümmert hat; aber diejenigen, die nicht mit Aufmerksamkeit den Bewegungen ihrer eigenen Seele folgen, geraten notwendig ins Unglück. [...]

12. | Wie schnell doch alles verschwindet! In der Welt die Menschen selbst, in der Zeit ihr Andenken! Was ist alles Sinnliche, besonders das, was uns durch Wollust reizt oder durch Schmerz erschreckt, endlich das, was uns durch Scheingröße Rufe der Bewunderung entlockt: wie unbedeutend und verächtlich, wie niedrig, hinfällig und tot! Dies zu erwägen, geziemt dem denkenden Menschen. Wer sind selbst diejenigen, deren Meinungen und Reden Ruhm verleihen? Was ist der Tod? Wenn man ihn für sich allein betrachtet und in Gedanken das davon absondert, was in der Einbildung damit verbunden ist, so wird man darin nichts anderes erblicken als eine Wirkung der Natur. Wer sich aber vor einer Naturwirkung fürchtet, ist ein Kind. Noch mehr, der Tod ist nicht bloß eine Wirkung der Natur, sondern eine für die Natur heilsame Wirkung. Betrachte endlich, wie und durch welchen Teil seines Wesens der Mensch mit Gott in Berührung steht und in welchem Zustande er sich dann befindet, wenn dieses Körperteilchen zerstäubt ist.

13. | Nichts ist jämmerlicher als ein Mensch, der alles ergründen will, der die Tiefen der Erde, wie jener Dichter sagt, durchforscht und, was in der Seele seines Nebenmenschen vorgeht, zu erraten sucht, ohne zu bedenken, daß er sich genügen lassen sollte, mit dem Genius, den er in sich hat, zu verkehren und diesem aufrichtig zu dienen. Dieser Dienst aber besteht darin, ihn vor jeder Leidenschaft, Eitelkeit und Unzufriedenheit mit dem Tun der Götter und Menschen zu bewahren. Denn was von den Göttern kommt, verdient unsere Ehrerbietung wegen der Vortrefflichkeit, und was von den Menschen kommt, unsere Liebe wegen der Verwandtschaft, die zwischen uns besteht, manchmal verdient es eine Art Mitleid wegen ihrer Unkenntnis des Guten und Bösen; sie sind wie Blinde oder so, wie wenn jemand Weiß und Schwarz voneinander nicht zu unterscheiden vermag. [...]

16. | Die Seele des Menschen bedeckt sich vornehmlich dann mit Schmach, wenn sie gleichsam eine Geschwulst, ein krankhaftes Geschwür in der Welt wird. Denn über Dinge, die uns begegnen, unzufrieden sein, heißt so viel wie sich von der allgemeinen Natur, die die Natur aller besonderen Wesen in sich faßt, lossagen. Ferner entehrt sie sich durch Abneigung gegen einen Menschen oder wenn sie aus Feindseligkeit ihm zu schaden trachtet; und von der Art sind die Gemüter der Zornigen. Sie schändet sich auch, wenn sie sich von der Lust oder vom Schmerze besiegen läßt; ferner, wenn sie sich verstellt und in ihren Handlungen und Reden heuchelt und lügt; endlich, wenn sie bei ihren Handlungen und Bestrebungen kein Ziel verfolgt, sondern unbesonnen ihr Tun dem Zufall überläßt, während die Pflicht gebietet, selbst die unbedeutendsten Dinge auf einen Zweck zu beziehen. [...]

Drittes Buch

4. | Verbringe den Rest deines Lebens nicht in Gedanken an andere, wenn sie keine Beziehung zum Gemeinwohl haben. Denn du versäumst damit die Erfüllung einer anderen Pflicht, wenn du deinen Geist damit beschäftigst, was dieser oder jener tut und warum, was er sagt, was er denkt oder vorhat usw., was dich von der Beobachtung deiner regierenden Vernunft abzieht. Du mußt also aus deiner Gedankenreihe jeden Zufall, jedes Unnütze, jede Neugier und jede Arglist verbannen, mußt dich gewöhnen, nur solche Gedanken zu haben, daß, wenn man dich plötzlich fragt, woran du denkst, du freimütig antworten kannst: An dies oder das; so daß man an deinen Gedanken erkennt, daß alles Einfachheit und Wohlwollen ist, wie es einem geselligen Wesen geziemt, daß du nicht an bloßes Vergnügen oder irgendeinen Genuß denkst, nicht an Haß, Neid, Argwohn oder sonst etwas, dessen Geständnis dich schamrot machen müßte. Ein solcher Mann, der nichts versäumt, sich in der Tugend zu vervollkommnen, ist wie ein Priester und Diener der Götter, innig vertraut mit der Gottheit, die in ihm ihren Tempel hat, die ihn unbefleckt von Lüsten, unverletzbar von Schmerzen, ungebeugt von Kränkung erhält; sie macht ihn unempfindlich gegen jegliche Schlechtigkeit, macht ihn zum Helden im größten aller Kämpfe, über alle Leidenschaften zu siegen, tief durchdrungen von Gerechtigkeitsliebe, im Grunde seines Herzens alles willig hinnehmend, was ihm zustößt und zuteil wird. [...]

5. | Tue nichts mit Unwillen, nichts ohne Rücksicht aufs Gemeinwohl, nichts übereilt, nichts in Zerstreuung. Kleide deine Gedanken nicht in zierliche Worte, sei nicht weitschweifig in deinen Reden, noch tue vielgeschäftig. [...] Dann findet man die Heiterkeit der Seele, wenn man sich gewöhnt, der Hilfe von außen her zu entbehren und zu unserer Ruhe anderer Leute nicht zu bedürfen. Man soll aufrecht stehen, ohne aufrecht gehalten zu werden.

6. | Wenn du im menschlichen Leben etwas findest, was höher steht als die Gerechtigkeit, die Wahrheit, die Mäßigkeit, der Mut, mit einem Worte, als ein Gemüt, das in Hinsicht seiner vernunftgemäßen Handlungsweise mit sich selbst und hinsichtlich der Ereignisse, die nicht in seiner Gewalt stehen, mit dem Schicksal zufrieden ist, wenn du, sage ich, etwas Besseres findest, so wende dich dem mit der ganzen Macht deiner Seele zu und ergötze dich an diesem höchsten Gute. Wenn sich aber deinen Blicken nichts Besseres zeigt als der Geist, der in dir wohnt, der sich zum Herrn seiner eigenen Begierden gemacht hat, sich genau Rechenschaft über alle seine Gedanken gibt, der sich, wie Sokrates sagte, von der Herrschaft der Sinne losreißt, sich der Leitung der Götter unterwirft und den Menschen seine Fürsorge widmet, wenn alles andere dir gering und wertlos erscheint, so gib auch keinem andern Dinge Raum. Denn hast du dich einmal hinreißen lassen, so steht es nicht mehr in deiner Macht, dich wieder los zu machen und dem einzigen Gute, das in Wahrheit dein eigen ist, den Vorrang zu geben. Es ist durchaus nicht erlaubt, jenem Gute, das sich auf die Vernunft und das Handeln bezieht, irgend etwas Fremdartiges, wie das Lob der Menge oder Herrschaft oder Reichtum oder Sinnenlust an die Seite zu stellen. Alle diese Dinge werden, wenn wir ihnen auch nur den geringsten Zugang verstatten, die Oberhand bekommen und uns vom rechten Wege abbringen. [...]

11. | Zu den hier ausgesprochenen Lebensregeln muß noch eine hinzugefügt werden: von jedem Gegenstande des Gedankenkreises bilde dir einen genauen, bestimmten Begriff, so daß du denselben nach seiner wirklichen Beschaffenheit unverhüllt, ganz und nach allen seinen Bestandteilen anschaulich zu erkennen und ihn selbst sowohl, als auch die einzelnen Merkmale, aus denen er zusammengesetzt ist und in die er wieder aufgelöst wird, mit ihren richtigen Namen zu bezeichnen vermagst. Nichts ist geeigneter, uns erhaben über alles Irdische zu machen, als die Fähigkeit, jeden Gegenstand, der uns im Leben aufstößt, richtig und vernunftgemäß zu untersuchen und ihn stets auf solche Art zu betrachten, daß es uns zugleich klar wird, in welchem Zusammenhange er stehe, welchen Nutzen er gewähre, welchen Wert er für das Ganze, welchen für den einzelnen Menschen habe [...]. Sprich: Was ist das, was jetzt diese Vorstellung in mir erregt? Aus welchen Teilen ist es zusammengesetzt? Wie lange kann es seiner Natur nach bestehen? Welche Tugend muß ich ihm gegenüber geltend machen? Etwa Sanftmut? Sündhaftigkeit? Wahrheitsliebe? Vertrauen? Einfalt oder Selbstgenügsamkeit usw.? [...]

Viertes Buch

3. | Man sucht Zurückgezogenheit auf dem Lande, am Meeresufer, auf dem Gebirge, und auch du hast die Gewohnheit, dich danach lebhaft zu sehnen. Aber das ist bloß Unwissenheit und Schwachheit, da es dir ja freisteht, zu jeder dir beliebigen Stunde dich in dich selbst zurückzuziehen. [...]

7. | Laß die Einbildung schwinden, und es schwindet die Klage, daß man dir Böses getan. Mit der Unterdrückung der Klage: »Man hat mir Böses getan« ist das Böse selbst unterdrückt. [...]

10. | Alles, was sich ereignet, geschieht gerecht. Wenn du sorgfältig alles beobachtest, wirst du das erkennen; ich sage: nicht nur der natürlichen Ordnung, sondern vielmehr der Gerechtigkeit gemäß, und wie von einem Wesen ausgehend, das alles nach Würdigkeit verteilt. Beachte dies also wohl, wie du begonnen hast, und was du nur tust, das tue mit dem Bestreben, gut zu sein, gut in der eigentlichen Bedeutung des Wortes. Das sei die feststehende Regel bei allem, was du tust. [...]

37. | Bald wirst du tot sein und bist noch nicht weder fest noch ohne Unruhe noch frei von der Einbildung, daß du durch die Außendinge unglücklich werden kannst, nicht wohlwollend gegen jedermann, nicht gewohnt, die Weisheit allein in rechten Taten zu suchen. [...]

49. | Sei wie ein Fels, an dem sich beständig die Wellen brechen: Er steht fest und dämpft die Wut der ihn umbrausenden Wogen. Ich Unglückseliger, sagt jemand, daß mir dieses oder jenes widerfahren mußte! Nicht doch! sondern sprich: Wie glücklich bin ich, daß ich trotz diesem Schicksal kummerlos bleibe, weder von der Gegenwart gebeugt noch von der Zukunft geängstigt! Dasselbe hätte ja jedem andern so gut wie mir begegnen können, aber nicht jeder hätte es ohne Kummer ertragen können. Warum wäre nun jenes eher ein Unglück als dieses ein Glück? Kann man das überhaupt ein Unglück nennen, was den Endzweck der Natur des Menschen nicht unerfüllt läßt, oder scheint dir etwas der Natur des Menschen zu widersprechen, was nicht gegen den Willen seiner Natur ist? Was ist aber dieser Wille? Du kennst ihn. Hindert dich denn das, was dir zustößt, gerecht, hochherzig, besonnen, verständig, vorsichtig im Urteil, truglos, bescheiden, freimütig zu sein, alle Eigenschaften zu haben, in deren Besitz die Eigentümlichkeit der Menschennatur besteht? Denke also daran, bei allem, was dir Traurigkeit verursachen könnte, bei dieser Wahrheit Zuflucht zu suchen: Dies ist kein Unglück, vielmehr ein Glück, es mit edlem Mute zu ertragen. [...]

Fünftes Buch

5. | Durch deine Geistesschärfe kannst du keine Bewunderung erlangen. Es sei! Allein es gibt vieles andere, wovon du nicht sagen kannst, daß du dazu nicht geeignet wärest. Zeige demnach das an dir, was ganz in deiner Macht steht, sei lauter, ehrbar, arbeitsam, nicht vergnügungssüchtig, zufrieden mit deinem Geschick, genügsam, wohlwollend, freimütig, einfach, ernsthaft und großmütig. Fühlst du's nicht, von wie vielen Seiten du dich schon hättest zeigen können, ohne dich mit natürlichem Unvermögen entschuldigen zu dürfen? Und dennoch bleibst du aus freien Stücken hinter dieser Vollkommenheit zurück. Oder bist du infolge einer fehlerhaften Naturanlage gezwungen zu murren, deine Trägheit zu zeigen, zu schmeicheln, dein Körperchen anzuklagen, seinen Launen nachzugeben, großzutun und darüber in so viel Seelenruhe zu schweben? Nein, bei den Göttern; es ist nicht so! Vielmehr hättest du von diesen Fehlern schon längst frei sein können. Wenigstens hättest du, wenn du dich wirklich als etwas langsam und schwerfällig im Begreifen erkennen mußt, dieser Schwäche durch Übung abhelfen, nicht aber sie außer acht lassen oder dir gar in deiner Untätigkeit gefallen sollen. [...]

8. | [...] Im großen und ganzen waltet eine einheitliche Übereinstimmung, und gleichwie aus allen Körpern zusammengenommen die Welt ein so vollendeter Körper wird, so wird auch aus allen wirkenden Ursachen zusammengenommen jene höchste ursächliche Kraft, das Schicksal. Was ich hier sage, verstehen auch die allerunwissendsten Menschen; denn sie sagen ja: Das ist Schickung; also wurde es uns zugeschickt oder zugeordnet. Lasset uns mithin derlei Schickungen so hinnehmen wie die Mittel, die ein Arzt verordnet. Schmeckt ja auch unter diesen vieles bitter, und doch heißen wir's in Aussicht auf Genesung willkommen. Denke dir also dasjenige, was die gemeinsame Natur für vollständige Erreichung des Zieles bestimmt, als etwas deiner Gesundheit Ähnliches und heiße alles, was geschieht, wenn es dir auch noch so hart erscheint, willkommen, weil es zum Ziele hinführt, nämlich zur Gesundheit der Welt und zum gedeihlichen Wirken und zur Seligkeit des höchsten Gottes. Denn er würde einem Menschen nichts der Art zuschicken, wenn es nicht dem Ganzen nützlich wäre. [...] Denn das Weltganze würde verstümmelt werden, wenn du aus dem Zusammenhang und Zusammenhalt wie der Bestandteile so denn auch der wirkenden Ursachen auch nur das geringste lostrennen wolltest. Du trennst es aber los, soviel es bei dir steht, wenn du damit unzufrieden bist und es gewissermaßen wegzuräumen suchst. [...]

17. | Unmögliche Dinge verlangen ist töricht; unmöglich aber ist es, daß die Lasterhaften anders als lasterhaft handeln. [...]

19. | Die Außendinge selbst berühren die Seele auf keinerlei Weise. Sie haben keinen Zugang zu ihr und können die Seele weder umstimmen noch irgendwie bewegen. Sie erteilt sich vielmehr selber allein Stimmung und Bewegung, und nach Maßgabe der Urteile, die sie über ihre eigene Würde fällt, schätzt sie auch die äußeren Gegenstände höher oder niedriger. [...]

Sechstes Buch

22. | Ich tue meine Pflicht, alles übrige kümmert mich nicht; denn dies ist entweder unbeseelt oder vernunftlos oder verirrt und des Wegs nicht kundig. [...]

29. | Schändlich ist es, wenn deine Seele schon ermüdet, ohne daß der Leib schon müde ist. [...]

52. | Es steht bei dir, über dies und das dir keine Meinung zu bilden und so deiner Seele alle Unruhe zu ersparen. Denn die Dinge selbst können ihrer Natur nach uns keine Urteile abnötigen.

53. | Gewöhne dich auf die Rede eines andern genau zu achten und versetze dich so viel möglich in die Seele des Redenden. [...]

Siebentes Buch

16. | Die gebietende Vernunft bereitet sich selbst keine Unruhe, sie stürzt sich zum Beispiel nicht selbst in Furcht oder Schmerz; will aber ein anderer ihr Furcht oder Traurigkeit einstoßen, so mag er's tun; sie selbst wird sich durch ihr Urteil in keine solche Gemütsbewegungen versetzen. Daß aber der Körper nichts leide, dafür mag er sorgen, wenn er kann, und es sagen, wenn er leidet. Die Seele aber, der eigentliche Sitz der Furcht, der Traurigkeit und der dahin einschlagenden Vorstellungen, wird wohl nicht, wenn sie sich nicht selbst zu derlei Urteilen verführt, leiden. Denn die herrschende Vernunft ist an und für sich bedürfnislos, wenn sie sich selbst keine Bedürfnisse schafft; eben deshalb kennt sie auch weder Unruhe noch Hindernis, wenn sie es sich nicht selbst verursacht. [...]

22. | Es ist ein Vorzug des Menschen, auch diejenigen zu lieben, die ihn beleidigen. Dahin gelangt man, wenn man bedenkt, daß die Menschen mit uns eines Geschlechtes sind, daß sie aus Unwissenheit und gegen ihren Willen fehlen, daß ihr beide nach kurzer Zeit tot sein werdet und vor allem, daß dein Widersacher dich nicht beschädigt hat. Denn er hat die in dir herrschende Vernunft doch nicht anders gemacht, als sie zuvor war. [...]

26. | Hat sich jemand in etwas gegen dich vergangen, so erwäge sogleich, welche Ansicht über Gut und Böse ihn zu diesem Vergehen bestimmt hat. Denn sobald dir dies klar ist, wirst du gegen ihn nur Mitleid fühlen, aber dich weder verwundern noch zürnen. Denn entweder hast du über das Gute und über das Böse dieselbe Ansicht wie er oder doch eine ähnliche, und dann mußt du verzeihen, oder du hast über das Gute und Böse nicht diese Ansichten, und in diesem Falle wird dir Wohlwollen gegen den Irrenden um so leichter sein. [...]

71. | Es ist lächerlich, der eigenen Schlechtigkeit sich nicht entziehen zu wollen, was doch möglich, wohl aber der Schlechtigkeit anderer, was unmöglich ist. [...]

73. | Wenn du eine Wohltat erwiesen und ein anderer deine Wohltat empfangen hat, was suchst du, gleich den Toren, daneben noch ein Drittes, nämlich den Ruhm eines Wohltäters oder Vergeltung dafür zu erhalten? [...]

Achtes Buch

17. | Rührt ein Übel von dir selbst her, warum tust du's? Kommt es von einem andern, wem machst du Vorwürfe? Etwa den Atomen oder den Göttern? Beides ist unsinnig. Hier ist niemand anzuklagen. Denn, kannst du, so bessere den Urheber; kannst du das aber nicht, so bessere wenigstens die Sache selbst; kannst du aber auch das nicht, wozu frommt dir das Anklagen? Denn ohne Zweck soll man nichts tun. [...]

51. | Sei in deinem Tun nicht nachlässig, in deinen Reden nicht verworren, in deinen Vorstellungen nicht zerstreut; laß deine Seele niemals sich verengen oder leidenschaftlich aufwallen oder in deinem Leben dich von Geschäften völlig mit Beschlag belegen. Mögen sie dich ermorden, zerfleischen und mit ihren Flüchen verfolgen. Was tut denn das? Kann doch deine denkende Seele dessenungeachtet rein, verständig, besonnen, gerecht bleiben! Eine klare und süße Quelle hört ja nicht auf, ihren Labetrunk hervorzusprudeln, sollte gleich jemand hinzutreten und sie verlästern. Und auch wenn er Schmutz hineinwerfen sollte, sie wird diesen doch alsbald zerteilen oder wegspülen, ohne dadurch im mindesten getrübt zu werden. Wie kannst du dir nun eine solche nie versiegende Quelle – und nicht etwa bloß eine Zisterne – zu eigen machen? Wenn du dir selbst stündlich eine freie Gesinnung, verbunden mit Wohlwollen, Einfalt und Bescheidenheit, anzueignen strebst. [...]

Neuntes Buch

4. | Wer sündigt, versündigt sich an sich selbst; begangenes Unrecht fällt auf den Urheber zurück, indem er sich selbst verschlechtert. [...]

16. | Nicht auf Einbildung, sondern auf sein Wirken gründet sich das Wohl und Weh eines vernünftigen, geselligen Wesens, gleichwie auch Tugend und Laster bei ihm nicht auf einem leidenden Zustande, sondern auf Tätigkeit beruhen. [...]

18. | Dringe in das Innere der Menschenseelen ein, und du wirst sehen, vor was für Richtern du dich fürchtest, und was für Richter sie über sich selbst sind. [...]

40. | Entweder vermögen die Götter nichts, oder sie vermögen etwas. Wenn sie nun nichts vermögen, warum betest du? Sind sie aber mächtig, warum flehst du sie nicht, statt um Abwendung dieses oder jenes Übels oder um Verleihung dieses oder jenes Gutes, vielmehr um die Gabe an, nichts von alle dem zu fürchten oder zu begehren oder darüber zu trauern? Denn wenn sie überhaupt den Menschen zu helfen vermögen, so können sie auch dazu verhelfen. Aber vielleicht entgegnest du: Das haben die Götter in meine Macht gestellt. [...] Wer hat dir denn aber gesagt, daß die Götter uns in dem, was von uns abhängt, nicht zu Hilfe kommen? Fange doch nur einmal an, um solche Dinge zu beten, und du wirst sehen. [...]

42. | Sooft du an der Unverschämtheit jemandes Anstoß nimmst, frage dich sogleich: Ist es auch möglich, daß es in der Welt keine unverschämten Leute gibt? Das ist nicht möglich. Verlange also nicht das Unmögliche. Jener ist eben einer von den Unverschämten, die es in der Welt geben muß. Dieselbe Frage sei dir zur Hand hinsichtlich der Schlauköpfe, der Treulosen und jedes Fehlenden. [...] Wenn aber ein ungebildeter Mensch eben wie ein Ungebildeter sich beträgt, was ist denn Schlimmes oder Seltsames daran? Sieh zu, ob du nicht vielmehr dich selbst deshalb anklagen solltest, daß solch ein fehlerhaftes Benehmen von diesem Menschen dir so unerwartet kam. [...]

Zehntes Buch

1. | O meine Seele! Wirst du denn nicht endlich einmal gut und lauter und einig mit dir selbst? Wann wirst du sichtbarer werden als der dich umhüllende Leib? Willst du nicht endlich einmal das Glück genießen, die Menschen zu lieben und zu erfreuen? Wirst du nicht endlich einmal zu einer bedürfnislosen Befriedigung auch in dir selbst gelangen, wo du zum Freudengenusse nichts mehr verlangst noch begehrst, sei es etwas Lebendiges oder Lebloses, weder mehr an Zeit, um länger noch zu genießen, noch in einem anderen Raum in einer andern Gegend zu sein, eine reinere Luft zu atmen und mit umgänglicheren Menschen zu verkehren? [...] Wirst du es nicht endlich einmal durch deine Beschaffenheit zu einem solchen Verhältnis mit den Göttern und Menschen bringen, daß du weder über sie Beschwerde führst noch auch von ihnen verurteilt wirst? [...]

8. | Hast du dir einmal die Namen: gut, bescheiden, wahrhaftig, verständig, gleichmütig, hochherzig erworben, so habe acht, daß du nie die entgegengesetzten Bezeichnungen verdienst, und solltest du diese Namen je verlieren, so eigne sie dir ungesäumt wieder an. Bedenke aber, daß das Wort klug bedeutet, alles sorgfältig und genau zu prüfen, »gleichmütig« willig das anzunehmen, was dir von der Allnatur zugeteilt wird; edelmütig bedeutet die Erhebung deines denkenden Teiles über jede leise oder unsanfte Erregung des Fleisches, sowie über den nichtigen Ruhm, den Tod und alles andere der Art. Wenn du dich nun im Besitz jener Ehrennamen behauptest, ohne jedoch danach zu verlangen, daß andere dich nach ihnen benennen, so wirst du ein ganz anderer Mensch werden und ein ganz anderes Leben beginnen. [...]

30. | Sooft du am Fehltritt eines andern Anstoß nimmst, geh sogleich in dein Inneres und überlege, welchen ähnlichen Fehler du begehst, wenn du zum Beispiel Geld, Sinnenlust oder eiteln Ruhm und dergleichen für ein Gut hältst. Denn sobald du dies erwägst, wirst du deinen Zorn vergessen, zumal wenn es dir dabei noch einfällt, daß jener gezwungen wird, also zu handeln. Denn was kann er tun? Kannst du's aber, so befreie ihn von dem, was Gewalt über ihn hat. [...]

Elftes Buch

15. | Wie verderbt und betrügerisch ist der Mensch, der da spricht: Ich bin entschlossen, aufrichtig mit dir umzugehen! Wozu das, o Mensch? Es ist unnötig, das erst zu sagen; es muß auf der Stelle sich zeigen; schon auf deiner Stirne muß diese Versicherung geschrieben stehen. Es muß sogleich aus deinen Augen hervorleuchten, wie der Geliebte im Blicke des Liebenden sogleich alles lesen kann [...]. [...]

18. | Erstens ist zu betrachten: in welchem Verhältnis stehe ich zu den Menschen? Wir alle sind füreinander da, und in einer andern Hinsicht stehe ich an ihrer Spitze, wie der Widder die Schafe führt und der Stier die Rinder. Doch betrachte dies Verhältnis auch von einem höhern Gesichtspunkte: Ist nicht alles ein Atomengewirr, so ist die Natur Beherrscherin des Alls; in diesem Falle sind niedere Wesen den höheren untergeordnet und letztere einander beigeordnet.

Zweitens: Wie zeigen sich die Menschen bei Tische, in ihren Zimmern und in den übrigen Lebenslagen? Und besonders, welche Gewalt haben ihre Grundsätze über sie, und mit wieviel Eigendünkel verrichten sie ihre Handlungen?

Drittens: Ist ihr Handeln vernünftig, so darfst du nicht unwillig werden; ist es aber nicht vernünftig, so handeln sie offenbar wider Wissen und Wollen. Denn wie jede Seele ungern auf die Wahrheit verzichtet, so auch auf das geziemende Betragen gegen jedermann. Daher kommt es, daß es die Menschen unerträglich finden, wenn man sie Ungerechte, Undankbare, Eigennützige, mit einem Wort Übeltäter an ihrem Nebenmenschen heißt.

Viertens: Auch du vergehst dich oft und gehörst also in dieselbe Klasse, und wenn du dich auch von gewissen Vergehen fern hältst, so hast du wenigstens die Anlage dazu, obgleich du aus Furcht oder Ehrsucht oder sonst einer schlimmen Neigung solcher Vergehen dich enthältst.

Fünftens: Du kannst es nicht einmal recht wissen, ob dieser oder jener sich wirklich vergangen hat. Denn vieles geschieht auch vermöge eines Dranges der Umstände, und man muß überhaupt mit manchen Verhältnissen zuvor bekannt sein, um über die Handlungsweise eines andern ein gegründetes Urteil abgeben zu können.

Sechstens: Wenn du dich auch noch so sehr erzürnst oder grämst, so bedenke, daß das Leben nur eine kleine Weile dauert und daß wir bald alle im Grabe sein werden.

Siebentens: Nicht die Handlungen anderer beunruhigen uns, denn jene beruhen auf ihren leitenden Grundsätzen, sondern vielmehr unsere Meinungen. Schaffe also diese wenigstens aus dem Wege und habe nur den Willen, dein Urteil über sie, als seien sie etwas Schreckliches, aufzugeben, und dann ist auch dein Zorn verschwunden. Wie soll ich nun aber jene aus dem Wege schaffen? Indem du erwägst, daß keine Beleidigung dich schändet. Nur das Laster ist etwas, was schändet. Wäre dem nicht so, dann müßte folgen, daß du dadurch ein Sünder oder Räuber werden könntest, weil es andere sagen.

Achtens: Der Zorn und Kummer, den wir durch die Handlungen der Menschen empfinden, sind härter für uns als diese Handlungen selbst, über die wir uns erzürnen und betrüben.

Neuntens: Ist dein Wohlwollen wirklich echt, ohne Heuchelei und Gleißnerei, so ist es auch unerschütterlich. Denn was kann dir der boshafte Mensch anhaben, wenn du in Freundlichkeit gegen ihn verharrst, ihn bei passender Gelegenheit sanftmütig warnst und gerade in dem Augenblick, wo er dir Böses anzutun versucht, ihn in ruhigem, zurechtweisendem Tone etwa so anredest: »Nicht doch, mein Lieber! Wir sind zu etwas anderem geboren. Mir zwar wirst du damit nicht schaden, dir selbst aber schadest du damit, mein Lieber.« Zeige ihm dann in schonendster Weise und mit gutem Bedacht, daß sich dies also verhält, und daß selbst die Bienen und andere herdenweise zusammenlebende Tiere nicht so verfahren. Du mußt es aber ohne Spott und Übermut tun, vielmehr mit liebevoller Seele und fern von aller Bitterkeit; auch nicht im hofmeisternden Tone oder in der Absicht, das Staunen eines Dritten, der etwa dabeisteht, zu erregen, sondern rede, wenn du ihn allein hast, nicht wenn andere umherstehen ...

Dieser neun Hauptvorschriften bleibe eingedenk, als hättest du sie von den neun Musen zum Geschenk erhalten, und fange endlich einmal an, Mensch zu sein, solange du noch zu leben hast. [...]

Zwölftes Buch

19. | Empfinde es doch endlich, daß du etwas Besseres und Göttlicheres in dir hast als das, was die Leidenschaften erregt und dich hin- und herzerrt wie der Draht die Marionetten. Denn was ist deine Seele? [...]