Christian Morgenstern: Gesammelte Werke

Christian Morgenstern: Gesammelte Werke. Siehe auch www.christian-morgenstern.de und Projekt Gutenberg.

Christian Morgenstern (1871-1914) war ein tief um das wahre Menschentum ringender Dichter und in seinen letzten fünf Lebensjahren ein enger Schüler Rudolf Steiners.


I. Gedichte und Sprüche
Gedichte
Sprüche und Epigramme

II. Aphorismen
Stufen: Natur | Kunst | Literatur | Politisches - Soziales | Zeitkritisches | Ethisches | Lebensweisheit | In me ipsum | Erziehung - Selbsterziehung | Psychologisches | Erkennen | Weltbild.

III. Humorvolles
Kinderlieder
Galgenlieder
Palmström und Palma Kunkel
Grotesken und Parodien


Gedichte und Sprüche

Gedichte


Wenn leuchtend...

Wenn leuchtend die Gestirne tauchen
im dunklen Äthermeer empor
und in geheimnisvollem Hauchen
die Welt umweht ein Dämmerflor,
entschwebt der Geist zu wachen Träumen
ins große heilige Reich der Nacht,
beschwingt nach unermeßnen Räumen
von tiefer Phantasien Macht.
Im weichen Zauber solcher Nächte
scheint sich die Schöpfung zu entfalten,
und dunkel ahnen wir die Mächte,
die über unserem Leben walten.
[mit 16 Jahren]


Frühling

Wie ein Geliebter seines Mädchens Kopf,
den süßen Kopf mit seiner Welt von Glück,
in seine beiden armen Hände nimmt,
so fass ich deinen Frühlingskopf, Natur,
dein überschwenglich holdes Maienhaupt,
in meine armen, schlichten Menschenhände,
und, tief erregt, versink' ich stumm in dich,
indes du lächelnd mir ins Auge schaust,
und stammle leis dir das Bekenntnis zu:
Vor so viel Schönheit schweigt mein tiefstes Lied.


Der einsame Christus

Wachet und betet mit mir!
Meine Seele ist traurig
bis an den Tod.
Wachet und betet!
mit mir!
Eure Augen
sind voll Schlafes, –
könnt ihr nicht wachen?
Ich gehe,
euch mein Letztes zu geben –
und ihr schlaft...
Einsam stehe ich
unter Schlafenden,
einsam vollbring ich
das Werk meiner schwersten Stunde.
Wachet und betet mit mir!
Könnt ihr nicht wachen?
Ihr alle seid in mir,
aber in wem bin ich?
Was wißt ihr
von meiner Liebe,
was wißt ihr
vom Schmerz meiner Seele!
O einsam!
einsam!
Ich sterbe für euch –
und ihr schlaft!
Ihr schlaft!


Eins und alles

Meine Liebe ist groß
wie die weite Welt,
und nichts ist außer ihr,
wie die Sonne alles
erwärmt, erhellt,
so tut sie der Welt von mir.

Da ist kein Gras,
da ist kein Stein,
darin meine Liebe nicht wär,
da ist kein Lüftlein
noch Wässerlein,
darin sie nicht zög einher!

Da ist kein Tier
vom Mückchen an
bis zu uns Menschen empor,
darin mein Herze
nicht wohnen kann,
daran ich es nicht verlor!

Ich trage die Welt
in meinem Schoß,
ich bin ja selber die Welt,
ich wettre in Blitzen,
in Stürmen los
und bin der Gestirne Zelt!

Meine Liebe ist weit
wie die Seele mein,
alle Dinge ruhen in ihr,
das ganze Weltall
bin ich allein,
und nichts ist außer mir!


Ich bin ein Mensch...

Ich bin ein Mensch von rechter Vogelart
und lass nicht gern die Hände um mich legen,
das Glück der ungehemmten Wanderfahrt
wird stets am freudigsten mein Herz bewegen.
Vom Zaun herab, von roten Rosenhecken
durchschwelle eure Gärten mein Gesang,
doch wollt ihr mich in goldne Bauer stecken,
entflieg ich schnell den Wiesenrain entlang.
Und trag ich Sehnsucht auch im weichen Sinn
und zittere beim Lockruf mancher Schönen,
vermochte doch noch keine Zauberin
in ihren Park mich dauernd zu gewöhnen.


Erster Schnee

Aus silbergrauen Gründen tritt
ein schlankes Reh
im winterlichen Wald
und prüft vorsichtig, Schritt für Schritt,
den reinen, kühlen, frischgefallnen Schnee.

Und Deiner denk' ich, zierlichste Gestalt.


Butterblumengelbe Wiesen...

Butterblumengelbe Wiesen,
sauerampferrot getönt –
o du überreiches Sprießen,
wie das Aug' dich nie gewöhnt!

Wohlgesangdurchschwellte Bäume,
wunderblütenschneebereift –
ja, fürwahr, ihr zeigt uns Träume,
wie die Brust sie kaum begreift.


Lebensbild / Oktobersturm

Schwankende Bäume
im Abendrot –
Lebenssturmträume
vor purpurnem Tod –

Blättergeplauder –
wirbelnder Hauf – –
nachtkalte Schauder
rauschen herauf.


Auch du bist fremd...

Auch du bist fremd und feind den großen Worten.
Sie haben uns zu oft betrogen.
Wir haben selbst damit zu oft gelogen;
vielleicht nicht wollend, doch zu allen Orten.

Schmerzlich misstrauend jenen blinden Räuschen,
die Menschen treiben, Menschen anzuhangen,
umfangen unsre Seelen sich voll Bangen
und zittern, sich noch einmal zu enttäuschen.


Ich liebe dich, Du Seele...

Ich liebe dich, Du Seele, die da irrt
im Tal des Lebens nach dem rechten Glücke,
ich liebe dich, die manch ein Wahn verwirrt,
der manch ein Traum zerbrach in Staub und Stücke.

Ich liebe deine armen wunden Schwingen,
die ungestoßen in mir möchten wohnen;
ich möchte dich mit Güte ganz durchdringen;
ich möchte dich in allen Tiefen schonen.


Den langen Tag...

Den langen Tag bin ich dir fern gewesen,
bis nun beim abendlichen Licht
dir wiederum mein ganzes Wesen
wie eine Knospe auseinanderbricht

und Dir erduftet, Dir erblühet,
als seiner Sonne, die ihm frommt.
Des Tags Gestirn hat mir umsonst geglühet;
nun kommt die Nacht, und meine Sonne kommt.


Und wenn du nun...

Und wenn du nun zur dunklen Ferne treibst,
als wie ein Blatt auf mitleidloser Welle, –
daß du mir, Teure, immer in der Helle
dem Leben dienender Gedanken bleibst!

Und war ich nur ein Funke, dir zu leuchten,
und war mein Gruß nur wie ein Wetterschein, –
o laß, wann Tränen je dein Auge feuchten,
ein Glänzen auch von ihm darinnen sein.

Vielleicht daß dann ein Licht dich sanft erhelle,
daß du der Sorge starke Herrin bleibst,
und nicht auf deines Tränenstromes Welle
zu Fernen, immer düstereren, treibst.


Liebe, Liebste...

Liebe, Liebste, in der Ferne,
wie so sehr entbehr' ich Dich!
Leuchteten mir milde Sterne,
ach, wie bald ihr Glanz erblich!

Wenn ich deine weichen Wangen
leis in meine Hände nahm,
und voll zärtlichem Verlangen
Mund zu Mund zum Kusse kam;

Wenn ich deine Schläfen rührte
durch der Haare duftig Netz,
o, wie war, was uns verführte,
beiden uns so süß Gesetz!

Und nun gehst du fern und einsam.
Ach, wie achtlos spielt das Glück!
Bringt, was einmal uns gemeinsam,
noch einmal sein Strom zurück?

Liebe, Liebste, in der Ferne,
wie so sehr entbehr' ich dich!
Leuchteten uns milde Sterne,
ach, wie schnell ihr Glanz erblich!


Für viele

Wieviel Schönheit ist auf Erden
unscheinbar verstreut;
möcht' ich immer mehr des innewerden;
wieviel Schönheit, die den Taglärm scheut,

in bescheidnen alt und jungen Herzen!
Ist es auch ein Duft von Blumen nur,
macht es holder doch der Erde Flur,
wie ein Lächeln unter vielen Schmerzen.


- Fast -

Du hast mir viel zu Lieb und Leid getan, –
hab Dank.
Wir waren eins in mancher Stunde Wahn;
doch heimlich sank
mein Wesen oft von dir
in Gründe, ach!
da du nicht nachkamst,
muntrer Silber-Bach,
und floh nach Höhen,
die du nie gekannt.
O zürne nicht! –
wir sind ja – fast – verwandt.


Zum Abschied

Die du durch meinen Tag gewandelt bist
wie Sonnenlicht
durch Gänge dichtbelaubt.
du liebes, lichtes Haupt,
zerbrich mir nicht!
Wenn dir das Leben ernst die Zunge löst
der wilden Klag'
und dir das Haar zerzaust
Und mit der Faust
dich vor die Stirne stößt: –
Dann denk' an mich...
ich
litt
wie nur ein Mensch von seiner Hand –
und stand
und stritt
mich dennoch durch zum Licht.
O du, und alle, die ich liebe, mit,
zerbrecht mir nicht!


Nachts im Wald

Bist du nie des Nachts durch Wald gegangen,
wo du deinen eignen Fuß nicht sahst?
Doch ein Wissen überwand dein Bangen:
  Dich führt der Weg.

Hält dich Leid und Trübsal nie umfangen,
daß du zitterst, welchem Ziel du nahst?
Doch ein Wissen übermannt dein Bangen:
  Dich führt dein Weg.


Genug oft...

Genug oft, daß zwei Menschen sich berühren,
– nicht leiblich, geistig nur – daß sie sich sehn
daß sie sich einmal gegenüberstehn –
um sich danach vielleicht auf immer zu verlieren.

Genug oft, daß ein Lächeln Zweier Seelen
vermählt – oh nicht vermählt! nur dies: sie führt,
so voreinander schweigend und erschüttert,
daß ihnen alle Wort' und Wünsche fehlen,
und jede, unaussprechlich angerührt,
nur tief vom Zittern der verwandten zittert.


O bunte Welt...

O bunte Welt,
was schillerst du mir her!
Auf mich gestellt,
bedarf ich dein nicht mehr.

Nicht mehr? Und doch,
wie bangt mich oft nach dir...
Zu innig noch
verschlingt sich Dort und Hier.


Durch so viel Zweifel...

Durch so viel Zweifel bin ich durchgegangen,
daß nichts mehr fest war, und die Welt fürwahr
wie Sand mir durch die armen Finger rann.

So restlos zweifelte nicht leicht ein Mann
und blieb doch – Bildner. Ja, blieb Kind sogar.
Ward Abkehr ganz. Und blieb doch ganz Verlangen.


Rings um uns

Dort der Vogel, dort der Baum –
wie wir neben ihnen leben!
Wohl, verstehn uns selber kaum,
doch was mag sich dort begeben!

Wieviel Leben uns umflutet,
unaufhörlich ausgegossen!
Wieviel Seele, nur vermutet,
nur gefühlt, doch nie erschlossen!


Der Tor

Was kümmert mich, mein kluger Freund, zu lernen,
wie dieser Berg, wie diese Blume heißt:
sie gehen in mich ein wie Geist in Geist –
warum durch Namen sie von mir – entfernen?

Ei wohl, ich bin ein Tor in Erdendingen,
mich lockte nie der Schritt der Wissenschaft,
mir fehlte stets der Ernst, die Lust, die Kraft,
die Bildung meiner Zeit mir aufzuzwingen.

Unwissend bin ich sehr und ungegründet
in allem schier, wozu Gedächtnis not.
Und doch, ich sterbe einen ruhigen Tod, –
ein Weiser dort, wo eure Weisheit mündet.


Form und Farbe...

Form und Farbe wär es bloß,
die mir dieses Gras und Moos
also innig nahe brächte?
Nein, es sind die gleichen Mächte,
die auch mir Gestaltung geben,
ist das gleiche warme Leben.
Wie ein unermesslich Du
atmet mir der Waldgrund zu.
Seelenluft ist, wo ich schreite –
süß umfängt mich Nähe, Weite.
Ich und Du sind Eines nur:
Eine ewige Natur.


Verantwortung / Trägst du denn Schuld...

Trägst Du denn Schuld, wenn andre übeltun?
Versteh mich recht: Der Zoll läßt mich nicht ruhn,
den ich den Menschen schuldig bin, die leiden.
Versteh mich recht: Untätig sich bescheiden,
indes der Mensch am Menschen sich vergeht,
das ist die Schuld, die stündlich vor mir steht
und da mir nirgends Einfluss zu erwerben,
da ich nur Narr, nur Schwätzer, nur Poet,
so bleibt allein: Für die man fühlt, zu sterben.


Blätterfall

Der Herbstwald raschelt um mich her,
ein unabsehbar Blättermeer
entperlt dem Netz der Zweige.
Du, dessen krankes Herz
mitklagen will den großen Schmerz –
sei stark, sei stark und schweige!
Du lerne lächeln, wenn das Laub,
dem leichten Wind ein leichter Raub,
hinabschwankt und verschwindet.
Du weißt, daß just Vergänglichkeit
das Schwert, womit der Geist der Zeit
sich selber überwindet.


Dies ist das Wunderbarste...

Dies ist das Wunderbarste, dieses feste.
so scheint es, ehern feste Vorwärtsschreiten –
und alles ist zuletzt nur tiefer Traum.

Von tausend Türmen strotzt die Burg der Zeiten
(so scheint's) aus Erz und Marmor, doch am Saum
der Ewigkeit ist all das nur noch Geste.


Ein Gleichnis

So wie das Fenster anfangs nur ein Schimmer
von künstlichen, doch blinden Eiskristallen,
durch die gedämpft ins winterliche Zimmer
der Morgensonne liebe Strahlen fallen –

doch mehr und mehr löst sich der Reif und Glimmer,
verästeln sich die Blumen zu Korallen,
und lang bevor die Mittagsglocken hallen,
bestehn auch diese Taugebilde nimmer –

der ganzen Sonne liegt der Raum nun offen,
das Glas ward klar und läßt nun ohne Schleier
den schöpferischen Segen einwärts fluten – –

so wehrt, seit deine Liebe mich getroffen,
mein Sinn, vom Eis der Abwehr täglich freier,
kaum länger ihren unverwandten Gluten.


Der Morgen...

Der Morgen war von übersanftem Schmelz,
der harte Berg war nicht mehr Stein und Krume,
der Wald wie purpurbrauner Falter Pelz.
Und drüber quoll des Weltraums Blaue Blume
aus ewigem Kelch ihr tiefstes Ja und Amen.
Und vor dem allem stand im jungen Strahl
ein Mensch und nahm dies Heilige Morgenmahl
dir zum Gedächtnis und in deinem Namen.


Ich habe nicht gewußt...

Ich habe nicht gewußt, daß so viel Liebe
in einem Menschen sein kann – und zu mir.
Zwar – ich bin ungerecht. Und doch ... es hat
mich nimmermehr zuvor so überwältigt.

So will ich sagen: Wissen um die Liebe,
das tat ich stets, und war auch wohl ihr Gast, –
so wie ein Gast von Heim und Herdglut weiß.
Durch Dich erst aber glaub' ich an die Liebe.

Selbst (und das ist das Schwerste) an die meine;
an meine Fähigkeit zu jener letzten
Ver-Einigung des ewig sonst Ent-Zweiten.

Nun nicht mehr Gast nur wandl' ich durch die Zeiten, –
nun sitz ich selbst am Herd und atme Frieden,
und glaub an alle Liebe – durch die Deine.


Sag' nicht...

Sag' nicht: dies ist nicht vorzustellen,
nicht auszudenken! Eines Tages
erscheint ein Mensch bestimmten Schlages
und steigt hinunter zu den Quellen.

Und trägt vom Urborn der Natur
zwei Hände voll ins lichte Leben.
Und als Erfahrung bleibt gegeben,
was Vorzeit nur als Traum erfuhr.

Und wie sie kommen all und trinken,
verwandelt Sinn sich und Gesicht:
Wie Schleier scheint's hinwegzusinken,
und Dunkelstes wird seltsam licht.


Man gibt dir nicht...

Man gibt dir nicht, "was dir gebührt"?
So sprich, was dir gebühre.
Was ist's, was dich noch hinverführt
zu andrer Menschen Türe?

"Man ist nicht zart, man ist nicht gut,
man fühlt nicht, was ich brauche..."
Ja, wer auf "man" sich gründen tut,
der freilich baut auf Hauche.

Wenn du im "man" den Gott nicht siehst
und kindlich liebst in allem,
wenn dich der Gott im "man" verdrießt,
so wirst du ewig fallen.

Gebührt uns irgend andres Brot,
als Gott in allem Grade?
Und ist denn Leid seit Eines Tod
nicht mehr als alles – Gnade?


Wie kannst du...

Wie kannst du nur am Morgen
das Licht der Sonne borgen
und leuchten wie sie selber schier –
und dann, nach wenig Stunden,
ist alles hingeschwunden
und graue Nacht in dir!

Vergessen ist das Gute,
das köstlich in dir ruhte,
ein Grämling, blickst du freudeleer,
verdrossen aus dem kleinen,
unendlich kleinen Deinen
auf alles um dich her.

O halte, Herz, die Wonne,
der goldnen Morgensonne,
die dir so hellen Tag gemacht,
mit Angst und strengem Achten
hoch über trübem Trachten
doch fest bis in die Nacht! 


Lächelt nicht...

Lächelt nicht, wenn Paulus spricht
von dem Schrei der Kreatur.
Selbst die harte Felsenflur
wird einst wiederum zu – Licht.

Menschenstoff ist, was ihr schaut,
Stein und Kraut und Tier verblieb
unserm Höherwuchs zulieb
uns als Heimat unterbaut.

Abgestoßne Menschenwelt
ist die niedre Schöpfung, – Herz,
Fühlst du nun des Tieres Schmerz,
das ein blinder Waidmann stellt?

Fühlst, warum dem Haupt voll Graun
der Gekreuzigte entspringt?
Was der Jäger niederzwingt,
welch ein Welt-erschütternd Schaun?

Ahnst, wie's stufenweis begann?
Und wie Liebe ganz allein
soviel ungeheure Pein –
in Äonen – sühnen kann?

Lächelt nicht, die Dinge sind
nicht bloß Schaum, der gärt und gart.
Eh' der Traum nicht aus euch fährt, –
spottet wenigstens – gelind!


Der Theosoph

Erschau dich als im Guten wie im Bösen
hineinverstrickt in deiner Tage Pflicht
und suche nicht dich selbstisch abzulösen.

Auf alles Menschen Trotzen tu Verzicht
und geh, verhüllt, ein Heiliger, mit ihnen,
der in ihr Hassen noch sein Lieben flicht

um selbst im Chaos Christo noch zu dienen.


Rudolf Steiner

So wie ein Mensch, am trüben Tag, der Sonne
vergisst, –
sie aber strahlt und leuchtet unaufhörlich, –
so mag man Dein an trübem Tag vergessen,
um wiederum und immer wiederum
erschüttert, ja geblendet zu empfinden,
wie unerschöpflich fort und fort und fort
Dein Sonnengeist
uns dunklen Wandrern strahlt.


Anthroposophie

O Welt, – du armer Mensch,
der du nicht weißt,
was hier inmitten deiner
sich begibt.

Die wahre Größe dieser wirren Zeit
wird hier lebendig menschhaft dargelebt,
ein Stück erhabenster Geschichte rollt
hier vor uns ab – und wir sind mit in ihm!

O große Welt, du armer Muttermensch –
die (wieder einmal – o du Träumerin!)
nicht weiß, nicht ahnt,
was sich in ihr gebiert.


Verantwortung

Wir stehn hier müßig hin und her –
und droben wartet man auf uns!
Wir gehn hier müßig hin und her.

In unsrer Treue lebt kein Ernst –
und droben rechnet man auf uns!
In unsrer Treue wirkt kein Ernst.

Nicht oben und nicht unten wächst
aus solcher Hülfe Sinn und Sieg.
So droben und so drunten wächst

aus solcher Halbheit Scham und Gram.
Die Götter droben darben und
die Menschen welken. Grauer Gram

zersetzt das Liebeswerk der Welt.


Und siehe...

"Und siehe, es war alles gut."
Doch wir verdarben alles.
Und aus der Finsternis des Falles
erlöst erst wieder Christi Blut.

Er gab sein Sonnen-Ich dahin,
daß unsre trübe Erde
von ihm geläutert werde,
zurück, empor zu ihrem Wahren Sinn.

So kehrte der verlorne Sohn zurück,
wie sie sich nun nach langem Wahn und Harme
heimfinden will in ewige Vaterarme –
und alle Himmel glühen auf in Glück.


Keine Kunst...

Keine Kunst,
wenn dich Leben füllt,
wenn der Gottheit Gunst
dich in ihren Mantel hüllt,
deiner Meister, fromm und heiter sein.

Aber wenn
du von dir und ihr verlassen bist,
wenn dich Leere
schmerzt vom Scheitel bis zum Rist,
wenn dich Schwere

niederhält wie einen toten Stein, Gemüte,
dann sonder Widerstreit und Vorwurf sein –
das ist wahrer Frömmigkeit
Blüte.


Stör' nicht den Schlaf...

Stör' nicht den Schlaf der liebsten Frau, mein Licht!
Stör' ihren zarten, zarten Schlummer nicht.
Wie ist sie ferne jetzt. Und doch so nah.
Ein Flüstern – und sie wäre wieder da.
Sei still, mein Herz, sei stiller noch, mein Mund,
mit Engeln redet wohl ihr Geist zur Stund.


Die zur Wahrheit wandern...

Die zur Wahrheit wandern,
wandern allein,
keiner kann dem andern
Wegbruder sein.

Eine Spanne gehn wir,
scheint es, im Chor...
bis zuletzt sich, sehn wir,
jeder verlor.

Selbst der Liebste ringet
irgendwo fern;
doch wer's ganz vollbringet,
siegt sich zum Stern,

schafft, sein selbst Durchchrister,
Neugottesgrund –
und ihn grüßt Geschwister
Ewiger Bund.


Was klagst du an...

Was klagst du an
die böse Welt
um das und dies?
Bist du ein Mann,
der niemals Spelt
ins Feuer blies?

Hat Hass und Harm
und Wahn und Sucht
dich nie verführt,
daß blind dein Arm
der Flammen Flucht
noch mehr geschürt?

Was dünkst du dich
des unteilhaft,
was Weltbrand nährt!
Zuerst zerbrich
die Leidenschaft,
die dich noch schwärt.

In dich hinein
nimm allen Zwist,
der Welt sorg nit;
je wie du rein
von Schlacke bist,
wird sie es mit.


Sieh nicht...

Sieh nicht, was andre tun,
der andern sind so viel,
du kommst nur in ein Spiel,
das nimmermehr wird ruhn.

Geh einfach Gottes Pfad,
lass nichts sonst Führer sein,
so gehst du recht und grad,
und gingst du ganz allein.


Bedenke, Freund...

Bedenke, Freund, was wir zusammen sprachen.
War's wert, daß wir den Bann des Schweigens brachen,
um solche Nichtigkeiten auszutauschen?

So schwätzen wohl zwei Vögel miteinander,
derweil in unablässigem Gewander
des Stromes strenge Wogen meerwärts rauschen.

Erwacht in dir nicht ein Gefühl der Leere,
erwägst du, wie so auftut Jahre, Jahre
nichts als Geschwätz aus dir sich und dem andern,

indessen nach der Gottheit Schoß und Meere
der Geistesweisheit sternenspiegelklare
Gewässer ruhlos und gewaltig wandern?


Du Weisheit...

Du Weisheit meines höhern Ich,
die über mir den Fittich spreitet
und mich vom Anfang her geleitet,
wie es am besten war für mich, –

wenn Unmut oft mich anfocht: nun
es war der Unmut eines Knaben!
Des Mannes reife Blicke haben
die Kraft, voll Dank auf Dir zu ruhn.


Nun wohne DU...

Nun wohne DU darin,
in diesem leeren Hause,
aus dem der Welt Gebrause
herausfloh und dahin.

Was ist nun noch mein Sinn, –
als daß auf eine Pause
ich einzig DEINE Klause,
mein Grund und Ursprung, bin!


Ich hebe Dir mein Herz...

Ich hebe Dir mein Herz empor
als rechte Gralesschale,
das all sein Blut im Durst verlor
nach Deinem reinen Mahle,
    o CHRIST! 

O füll es neu bis an den Rand
mit Deines Blutes Rosenbrand,
daß: den fortan ich trage
durch Erdennächt' und -tage,
    DU bist!


Die Fußwaschung

Ich danke dir, du stummer Stein,
und neige mich zu dir hernieder:
Ich schulde dir mein Pflanzensein.

Ich danke euch, ihr Grund und Flor,
und bücke mich zu euch hernieder:
Ihr halft zum Tiere mir empor.

Ich danke euch. Stein, Kraut und Tier,
und beuge mich zu euch hernieder:
Ihr halft mir alle drei zu Mir.

Wir danken dir, du Menschenkind,
und lassen fromm uns vor dir nieder:
weil dadurch, daß du bist, wir sind.

Es dankt aus aller Gottheit Ein-
und aller Gottheit Vielfalt wieder.
In Dank verschlingt sich alles Sein.


Wirf dich weg...

Wirf dich weg! Sonst bist du nicht
meiner Art und meines Blutes.
Wehe! wachst du zagen Mutes
über deinem Lebenslicht,
dessen Flamme gar nichts wert,
wenn sie nicht ihr Wachs – verzehrt.

Brenne durstig himmelan!
Brenne stumm hinab; doch brenne!
Daß dein Los von dem dich trenne,
der sich nicht verschwenden – kann.
Laß ihm seine Angst und Not!
Du verstehe nur – den Tod.


Licht ist Liebe

Licht ist Liebe ... Sonnen-Weben
Liebes-Strahlung einer Welt
schöpferischer Wesenheiten –
die durch unerhörte Zeiten
uns an ihrem Herzen hält,
und die uns zuletzt gegeben
ihren höchsten Geist in eines
Menschen Hülle während dreier
Jahre: da Er kam in Seines
Vaters Erbteil – nun der Erde
innerlichstes Himmelsfeuer:
daß auch sie einst Sonne werde.

Sprüche und Epigramme


Gib, gib...

Gib, gib und immer wieder gib der Welt,
und lass sie, was sie mag, dir wiedergeben;
tu alles für, erwarte nichts vom Leben, –
genug, gibt es sich selbst dir zum Entgelt.

Nur wer den Menschen liebt, wird ihn verstehn,
wer ihn verachtet, ihn nicht einmal – sehn.


Und so hebe dich...

Und so hebe dich denn
aus den Nebeln des Grams
auf des Selbstvertrauens
mächtigen Fittichen
aufwärts,
bis du dir selber
mit all deinem Leide
klein wirst,
groß wirst
über dir selber
und all deinem Leide.


O Freunde...

O Freunde, liebt mich nicht,
niemals den, der ich bin;
doch was ich werden möchte,
das, das liebt an mir!


Zu Russischem und Weiterem

Erfahr' ich, wie Mitchristen sich gebärden,
möcht' ich aus Scham und Ingrimm Jude werden.
Noch mehr! Wie's Jude, Christ und Heide treiben,
verwehrt mir fast, noch länger Mensch zu bleiben.


Was wärst du...

Was wärst du, Wind,
wenn du nicht Bäume hättest
zu durchbrausen;
was wärst du, Geist,
wenn du nicht Leiber hättest,
drin zu hausen!
All Leben will Widerstand.
All Licht will Trübe.
All Wehen will Stamm und Wand,
dass es sich dran übe.


Rückschau

Sieh, darum war der Tod dir erst nach Jahren
gesetzt, damit du, deinen Weg betrachtend,
ihn wie von einem Gipfel liegen sähest.
Ein Duft und Schleier wallt nun, wo du spähest,
verklärend jeden Schritt, den du gefahren,
und jeden falschen Tritt gelind umnachtend.


Verlange nichts...

Verlange nichts von irgendwem,
lass jedermann sein Wesen,
du bist von irgendwelcher Fem
zum Richter nicht erlesen.

Tu still dein Werk und gib der Welt
allein von deinem Frieden,
und hab dein Sach auf nichts gestellt
und niemanden hienieden.

Aphorismen

Stufen


Natur


Darum ist die Natur so tieftröstlich, weil sie schlafende Welt, traumlos schlafende Welt ist. Sie fühlt nicht Freude, nicht Schmerz, und doch lebt sie vor uns und für uns ein Leben voll Weisheit, Schönheit und Güte. So schliefen auch wir einst und solchem Zustand kehren auch wir einst wieder zurück, nur mit dem Unterschiede, daß dann dies ganze Über-Glück, Über-Leid uns bewußt sein wird und daß wir dann auch keine Träume mehr brauchen, weil wir die Himmel selbst offen sehen. [1910]


Der Mensch hat noch immer sehr wenig Sinn für Wirklichkeit. Man erwäge nur etwa den gewöhnlichen Standpunkt der Sonne gegenüber. Heißt das Wirklichkeitsempfinden, von einem solchen Phänomen ein Leben lang nicht anders berührt zu werden, wie es gemeinhin zu geschehen pflegt? Oder schauen nicht vielmehr die Menschen die Sonne noch gar nicht? [1913]


Hast du noch nie empfunden: es muß anders werden! Wenn du z.B. im Walde saßest und die lieben Bäume und Gräser um dich herum sahest, von denen dich doch so ein Weltabgrund der Nichterkenntnis schied! Was waren sie eigentlich, wo war ihre Seele, wo war der Punkt, in dem ihr euch brüderlich treffen konntet, nicht nur in dumpfer Liebe von deiner Seite, sondern euch gleichsam ins gottgeschwisterliche Auge schauend? Wäre es nicht unsinnig, wenn es in einer Welt, so weit und verschwenderisch angelegt, immer so bliebe, nie anders würde? Muß es nicht anders werden? Und löst diese Not und Notwendigkeit nicht etwas in dir, das sagt: Ja, es muß besser werden, und ich will Tag um Tag dem Geist und den Geistern der Dinge entgegengehen, sind sie doch gewiß auch schon längst auf dem Wege zu mir. [1913]

Kunst


Ich betrachte als eine Aufgabe kommender Dichtergeschlechter, neue Mythen zu schaffen, und wir wollen ihnen schon vorarbeiten. [1895]


Schönheit ist empfundener Rhythmus. Rhythmus der Wellen, durch die uns alles Außen vermittelt wird. Oder auch: Schön ist eigentlich alles, was man mit Liebe betrachtet. Je mehr jemand die Welt liebt, desto schöner wird er sie finden. [1895]

Als ein wesentliches Merkmal der Menschen möchte ich ihre ethische und ästhetische Anspruchslosigkeit bezeichnen.

Habt das Leben bis in seine unscheinbarsten Äußerungen hinab lieb und ihr werdet bis in eure unscheinbarsten Bewegungen hinab unbewußt von ihm zeugen. [1909]

Literatur


Tolstoi war ein Protest des höheren Menschen wider den Menschen, wie er gemeinhin heute noch ist. Tolstoi wollte nur ganz einfache, simple Dinge. Dinge, die sich eigentlich von selbst verstehen, – für jeden anständigen Menschen. [1909]

Wieviel wird um Brot und wie wenig als Brot geschrieben.

Man weiß, wie wichtig es ist, Schwangeren harmonische Verhältnisse zu schaffen. Sollte es anders sein mit der Menschheit, die sich fortwährend im Zustande der Mutterschaft befindet? [1912]

Politisches - Soziales


Im Staat der Sozialisten wird einer auf den andern aufpassen. Und Faulenzer werden nicht geduldet, dulden sich selber nicht. Wer aber will vorher wissen, wer ein Faulenzer und wer ein – Schwangerer ist? Man würde den Schwangeren samt dem Faulenzer verurteilen und damit das Beste der Erde: das stille, langsame Reifen neuer Gedanken. [1905]

Für mich begehre ich nicht viel, wenn ich aber Talente sehe, die ein großes Volk in seiner Unwissenheit, Gleichgültigkeit und Kleinlichkeit verkümmern läßt, dann steigt mir der Zorn auf. [1907]

Jede Zeit schweigt zunächst das Größte tot, das in ihrem Schoße ruht; geht dies nicht länger an, so verleumdet sie es, verzerrt es und sucht es auf alle Weise zu vernichten. [1910]

Zeitkritisches


Das Resignieren der heutigen Menschen ist bereits eine Gewohnheit geworden wie Essen, Trinken und Schlafen; und deshalb ist es so gemein. Was für ein träges, ungeistiges Tier ist doch noch der Mensch und wie sehr bedarf es großer und größter Schrecken und Trübsale, damit er nicht immer wieder in Schlaf versinke! [1906]

Also Furcht, wird mancher sagen. Nun ja, auch das. Wie wäre Großes entstanden, ohne dies Ingrediens? Und wäre es etwas Schimpfliches, sich vor dem Fürchterlichen – und ist das Geheimnis der Welt, des Lebens nicht fürchterlich? – zu fürchten? Man führt heute die ‚Entstehung der Religion’ (welch ein Ausdruck!) vielfach auf Furcht zurück. Nun, ihr armseligen Psychologen: nicht diese Furcht war das Trübselige, sondern euer Mangel an Furcht ist es, euer Mangel an Gefühl, Phantasie, Überlegenheit. Jawohl, Überlegenheit. Ich kenne nichts Untergeordneteres als den Menschen, dem Wissenschaft irgend etwas erklärt. Der Wissenschaft nicht bloß als eine gewaltige und fruchtbare Übung des Menschengeistes betrachtet, nein: als etwas, das ihm wirkliche Wesensaufschlüsse über Welt und Leben gibt. Denn dies etwa, daß alles nach denselben gleichen Gesetzen vor sich gehe, ist doch kein Wesensaufschluß! Oder den Bau des Menschen etwa bis auf seinen letzten Zellenbaustein beschrieben haben, ist doch noch kein Wesensaufschluß! Das ist Handwerkerei, eine Sache mit goldenem Boden, ganz gewiß; aber Joseph war Tischler, nicht Jesus. Was weiß Joseph, der Handwerker, vom Geist und Wesen der Dinge? [1907]

Es gibt kaum etwas Empörenderes als die sklavische Furcht, die der Autoritätsglaube dem Menschen einprägt und einbrennt; ein Gefühl, dessen blasse Nachtschatten bis in die späte Reife des Denkenden hineinreichen. Wie lange währt es, bis man diese beschämenden Fußfesseln des freien Gedankens nicht nur ganz abgeschüttelt, nein, auch sich völlig aus den Augen geschafft hat!

Unsere Zeit, welche die interessanten ‚Aberglauben’ früherer Zeitalter selbstbewußt entwertet, ist selbst nur weniger interessant, keineswegs weniger abergläubisch, und wird einst ungleich anderer Nachsicht der Betrachtung bedürfen, wenn spätere Geschlechter eingesehen haben werden, daß dem Menschen, unbeschadet aller begreiflichen und jeweils sogar notwendigen Vordergrundsoptiken, als letzte Hintergrundstimmung doch nur Eines ziemt: Bei Gott kein Ding für unmöglich zu halten. [1908]

Warum nicht alle nur erdenkliche Anerkennung der Fortschritte der Technik? Aber darf man dabei stehenbleiben? Daß die Menschheit zu einer immer höheren Beherrschung der Welt aufsteigt, versteht sich von selbst und bietet an sich noch nicht den geringsten Anlass zur Begeisterung. Ob sie selbst damit aufsteigt, was sie selbst damit macht: Vergängliches oder Unvergängliches, wie sie jene Herrschaft anwendet – darauf kommt es an. [1908]

Ethisches


Die Menschenverachtung ist für den nachdenkenden Geist nur die erste Stufe zur Menschenliebe. [1891]

Was uns allen zumeist fehlt, ist das tiefe, dauernde Bewußtsein des wirklichen Elends auf Erden, sonst würden wir über den Gefühlen einerseits des Mitleids, andrerseits des Dankes ganz der kleinlichen Misere des eigenen Lebens vergessen. [1892]

Und immer wieder komme ich darauf zurück, daß die Bewertung der geschlechtlichen Liebe unter uns Heutigen eine krankhafte Höhe erreicht hat, von der wir durchaus wieder heruntersteigen müssen. [1896]

Es gibt noch eine größere Liebe als die nach dem Besitz des geliebten Gegenstandes sich sehnende: Die die geliebte Seele erlösen wollende. Und diese Liebe ist so göttlich schön, daß es nichts Schöneres auf Erden gibt. [1896]

Glück? Sollst du Glück haben? Wünsche ich dir auch nur eine Spur von Glück – wenn sie nicht deinen Wert erhöhte? Wert wünsche ich dir. [1904]

So spricht die edle Rasse: Ich tue dies und das, weil ich es mir schuldig bin. [1905]

Es gibt keine Einzelschuld, es gibt nur Gesamtschuld. Wir müssen uns durchaus gegenwärtig halten, daß die Bestrafung eines Verbrechers durch unsere Behörden nur den Schein der Gerechtigkeit für sich hat, nicht die Gerechtigkeit selbst; denn wie könnte die wahre Gerechtigkeit sich gegen einen einzelnen wenden, sie, die das ganze Gewebe des Lebens vor sich ausgebreitet sähe. [1905]

Die Mutter der Tiefe heißt: Schuld. [1905]

Ich meine, es müßte einmal ein sehr großer Schmerz über die Menschen kommen, wenn sie erkennen, daß sie sich nicht geliebt haben, wie sie sich hätten lieben können. [1906]

Man muß Erdbeben sein und die festen Städte der Menschen immer wieder zu Fall bringen. Man muß ihre Mauern wanken machen, sonst stockt das Leben in ihnen. Aber es kann auch Zeiten geben, da man Urgestein sein muß, dahinauf sich ein namenlos geängstigtes Geschlecht retten kann. Wo man um der Liebe willen, um des nackten Lebens willen die verwerfen und verleumden muß, die den Erdboden zur schwankenden Welle machten, die den Abgrund predigten und die Schauder der Ewigkeit. Man wird aus Himmel und Sternen wieder ein Bild machen, man wird die Spinnweben alter Märchen auf offene Wunden legen müssen und all das bunte Spielzeug wieder hervorholen, das die Kulturen bisher hervorbrachten. [1906]

Der Mensch hat die Liebe als Lösung der Menschheitsfrage einstweilen zurückgestellt und versucht es augenblicklich zunächst mit der Sachlichkeit. [1906]

Es können nur einigermaßen gleiche Naturen in ihrem ganzen Umfang einander erklären und abschätzen. Heut aber will jedermann interpretieren, wenn er nur schreiben gelernt hat. [1907]

O helfen, helfen können – es gibt nichts Größeres für menschliche Art!
Und nicht helfen können, nicht helfen dürfen, es hat gewiß nicht minder bittere Tränen erpreßt als: wo man's vermocht und sollte, nicht geholfen haben. [1909]

Wer den Einzelnen als einen Wanderer betrachtet, der immer wiederkehrt, wird aufhören, ihm entgegenzuarbeiten. Er sieht sich Schulter an Schulter mit ihm gehn und erkennt die Sinnlosigkeit jeglicher Feindschaft zwischen ihm und sich. Mag der Andre noch sein Feind sein wollen, er selber empfindet ihn nicht mehr als Feind; für ihn fällt er, wenn er sich und ihn sub specie aeterni anschaut, mit ihm selber beinahe zusammen. Mag der Andre ihn noch hassen, ja verachten, er selber wird nichts begehren, als ihm zu helfen, zu nützen, zu dienen. Er weiß, wie alles zusammenhängt. Nicht fabelt er unbestimmt von Zusammenhang, sondern der Zusammenhang liegt klar vor ihm. [1909]

Wir sollten immer nur charakterisieren wollen, nie kritisieren. [1909]

Die Bestimmung des Menschen ist nicht nur, daß er als ruhiger Bürger seinem Tagewerk nachgehe, sie ist noch etwas darüber: daß er sich mehr und mehr verinnerliche, sich, und soviel an ihm liegt, seine Umwelt mehr und mehr verchristliche. [...]
Erziehen soll man zuerst sich selbst und dann erst den, der mitten im Schoße von uns Tugendhaften als Lasterhafter emporblühen konnte. Wahrlich, es kann mit der allgemeinen Tugend nicht soweit her sein, wenn der Räuber und Mörder so üppig gedeiht, wahrlich, es ist nicht gut, wenn solch ein Unkrautboden wie unsere Gesellschaft auch noch nach Schutz und besonderer Fürsorge verlangt. Sie möge erst die sieben Todsünden in sich bekämpfen und im Verbrechertum zunächst vor allem das vergrößerte Spiegelbild ihrer selbst sehen, den immerwährenden Vorwurf ihrer selbst. Sie möge im Verbrechertum zunächst erst einmal ihr – Schuld-Konto erblicken. [...] [1911]

Wer ‚für Güte Dank’ erwartet, macht sich schon allein dadurch, daß er sich selbst als ‚gütig’ empfindet, der feinsten Berechtigung Dank zu ernten verlustig, indem er sich im Gefühl und Bewußtsein seiner Güte als ein besonderer Wohltäter andrer vorkommt, sich also über sie erhebt und überhebt. Eine solche Erwartung, so natürlich und allgemein sie sein mag, verdient nicht nur keinen Dank, sondern gerade das, womit ihr gewöhnlich vergolten wird: eine gewisse Gleichgültigkeit, ja beinahe einen gewissen (zurückschlagenden) Hochmut. Wer Gutes tun und dabei nicht in die Brüche geraten will, muß es soweit bringen, daß er sich nie anders denn als einen Diener des andern empfindet, dem eine glücklichere Fügung gestattet – Schuld abzutragen. Er muß, fern davon, von dem andern Dank zu erwarten, vielmehr das Gefühl der Dankbarkeit gegen diesen andern entwickeln, weil er ihm Gelegenheit gibt, ihm zu helfen, gleichviel, wie solche Hilfe nachträglich ‚gelohnt’ wird. Dies mag für uns freilich mehr oder minder immer ein Ideal bleiben; die erste Stufe ist jedenfalls, dem Satze von der Dank verdienenden Güte in uns und außer uns zu Leibe zu gehen. [1912]

Wer wollte den Gutartigen, den Begabten, den Wunderlichen nicht lieben. Aber den Böswilligen, den Ungeistigen, den Langweiligen zu lieben gilt es. Nicht so sehr ein jovialer Wirt sein allen, die ihre Zeche mehr oder minder bezahlen, als der barmherzige Samariter derer, die nichts haben als ihr schmerzliches Schicksal. [1912]

Der Selbstlose, der aus ganzer Seele den Menschen dienen will, übersieht zu leicht, daß sein Selbst in ein niedrigeres und in ein höheres Selbst zerfällt, und daß er daher nicht nur selbstlos im einen Sinne, sondern in eben dem Maße selbstvoll im andern Sinne werden sollte. Sein Selbst verlieren, heißt sich läutern, seine Seele bereiten, wie einen Acker, welcher der Saat wartet. Sein Selbst gewinnen aber heißt, Frucht tragen wollen, Saat herbeisehnen, aufnehmen, hegen, reifen. [1912]

Lebensweisheit


Das von selbst Verständliche wird gemeinhin am gründlichsten vergessen und am seltensten getan. [1912]

In me ipsum


Mein Hang zu philosophischem Nachdenken beruht auf der einfachen Grundlage, daß ich in jedem Augenblick über das kleinste Stück Natur irgendwelcher Art in höchste Verwunderung geraten kann. [1897]

Für mich gibt es nur Ein Mittel, um die Achtung vor mir selbst nicht einzubüßen: fortwährende Kritik. [1906]

Wenn ich unter Menschen bin, bin ich wie auf Ferien. – Und deshalb sollte ich eigentlich nicht mehr unter Menschen und am wenigsten unter Freunde gehen: denn sie wissen alle nicht, daß ich nur gastweise bei ihnen bin und ihnen zuhöre, daß mir für vieles von ihrem Leben und Treiben die letzte leidenschaftliche Aufmerksamkeit verloren gegangen ist, als wäre ich ein Mann, der etwa in einem Saal einer feinen und großen Musik zuhört – aber draußen vor der Türe steht heimlich sein Weib und wartet auf ihn und vor lauter innerer Unruhe hört er nur mit halbem Ohre zu und verbirgt kaum seine Zerstreutheit und mag manchem schärferen Beobachter mit Recht als kein sehr fachmännisch engagierter Zuhörer gelten. [1907]

Man wird mich einst in manchem meiner Sätze zu einem Eklektiker degradieren wollen, aber wenn ich auch in nichts Bisheriges überschritten haben sollte: Eklektiker war ich nie. Nie zeichnete ich etwas auf, wozu ich nicht durch meine ganze Natur und Entwickelung gekommen wäre und vieles fand ich und finde ich zu meinem Erstaunen wieder, was ich für mich allein zuvor besaß.
Da lese ich soeben am 7. August 1908 von Schleiermacher: ‚Darum lebt das ganze Universum, das Göttliche, in jeder Individualität, als jede Individualität’. Ist dies nicht mein Gedanke? und habe ich Schleiermacher je zuvor näher kennen gelernt? [1908]

Ich weiß mich merkwürdig frei von jeder ‚romantischen Sehnsucht’, ich fühle im Durchschnitt meines Wesens brüderlich zum Leben als etwas, dem ich nichts hinzuzufügen brauche und das mir nichts hinzuzufügen braucht. Darum vermag ich mich auch rein an ihm zu freuen, wo es Freude erweckt, darum wendet sich mein Schmerz über das Leid der Welt gleich bis in seinen Grund zurück. [1909]

Erziehung - Selbsterziehung


Wer sich selbst treu bleiben will, kann nicht immer anderen treu bleiben.

Sei mit dir nie zufrieden, außer etwa episodisch, so daß deine Zufriedenheit nur dazu dient, dich zu neuer Unzufriedenheit zu stärken. [1906]

Es ist hart, aber es gibt nur einen Weg, als Kämpfer für das Echte zuletzt den Erfolg an sich zu fesseln: So lange zu schweigen, Geduld zu haben, Menschen und Dinge gehen zu lassen, bis man durch die Treue gegen sich selbst und die äußeren Umstände eines Tages ein Faktor geworden ist, mit dem gerechnet werden muß. Dann endlich mag man dem Zorn und der Liebe in sich nachgeben, wann und wo es auch sei. Dann erst hat es, sie rückhaltlos zu äußern, Sinn und Wert: Für einen selbst, für den Getroffenen, für den Verteidigten, für alle andern. [1907]

Gute Erziehung – ein zweischneidig Schwert. Mancher wird nie ein wirklicher Mensch, ein Mensch von Umfang, infolge seiner guten Erziehung. [1908]

A. Sie sollten gerade da, wo Sie besondere Antipathie empfinden, doppelt streng gegen sich selbst vorgehen, nicht aber Ihrer Antipathie nachlaufen, wie der Student seiner Flamme.
B. Wie? Ich sollte mich auf meine Instinkte nicht mehr verlassen dürfen?
A. Ja und nein. Schauen Sie Ihren Instinkten zu wie Ihren Hunden, mit denen Sie über Land gehen. Aber behalten Sie sich stets vor, sie zurückzupfeifen, und pfeifen Sie gelegentlich auch einmal ohne Grund, einfach weil Sie der Herr sind und die Instinkte Ihre Diener. [1911]

Wer am Menschen nicht scheitern will, trage den unerschütterlichen Entschluß des Durch-ihn-lernen-Wollens wie einen Schild vor sich her. [1912]

Habe die Gabe der Unbestechlichkeit. So sehr auch Liebe für dich Partei ergreifen mag: dein Sein gilt, nicht dein Schein. [1912]

Psychologisches


Nicht da ist man daheim, wo man seinen Wohnsitz hat, sondern wo man verstanden wird. [1891]


Es gibt Menschen, deren einmalige Berührung mit uns für immer den Stachel in uns zurückläßt, ihrer Achtung und Freundschaft wert zu bleiben.

Es gibt Menschen, die sich immer angegriffen wähnen, wenn jemand eine Meinung ausspricht. [1905]

Man verliebt sich oft nur in einen Zustand des andern, in seine Heiterkeit oder in seine Schwermut. Schwindet dieser Zustand dann, so ist damit auch der feine besondere Reiz jenes Menschen geschwunden. Daher die vielen Enttäuschungen. [1906]

Wir sind alle hart und äußerlich zueinander, auch wenn wir noch so sehr aufeinander einzugehen trachten; aber wenn wir getrennt in unsern Zimmern liegen und nachts der Regen herniederfließt, dann suchen wir uns im Geiste mit zärtlicher, bereuender Teilnahme, dann drängen wir uns aneinander wie unwissende und zusammenschauernde Preisgegebne auf dunklem Meer, dann liebkosen und trösten sich unsere Seelen, die der erkältende Tag wieder verstocken und verhärten wird, dann lieben wir wirklich einander mit einer tiefen, schwermütigen, unbezwinglichen Liebe. [1906]

Wie macht das Gefühl bloßen Sichnaheseins Liebende schon glücklich. [1907]

Im Grunde spricht sich wohl in allen Forderungen, die der Mensch an seine Gattung stellt, nur der Wunsch des Menschen nach größerer und feinerer Behaglichkeit des persönlichen wie sozialen Lebens aus: Der Mensch will wohl endlich soweit kommen wie die Blumen und die Bäume: ruhig leben und sterben zu dürfen. Zweifellos wünschen sich die meisten Menschen nichts Besseres. [1907]

Je tiefer einer wird, desto einsamer wird er; aber nicht nur das: desto mehr lassen ihn selbst seine treusten Freunde allein – aus Zartgefühl, Schamgefühl, Liebe, Ehrfurcht, Verlegenheit, Hochachtung, Scheu, kurz, aus den allerbesten Gründen und mit dem unanfechtbarsten Takt des Herzens. [1907]

Ein Mädchen gefällt uns nicht so sehr etwa um ihrer Augen willen, als ihre Augen um seinetwillen, das heißt um seiner ganzen imponderablen Persönlichkeit willen. [1908]

Überschätzt zu werden, zumal von einem Wesen, das einen liebt, kann in manchen einen Eifer entzünden, jene geglaubte Höhe wirklich zu erreichen.

Es gibt nichts Schwereres, als einen Menschen, den man liebt, einen Weg gehen lassen zu müssen, der zur nächsten Stadt führt, statt auf den nächsten Gipfel. [1910]

Takt erfordert vor allem Phantasie. Man muß viele Möglichkeiten der fremden Seele überschauen, viele Empfangsmöglichkeiten und danach, was man geben kann, einrichten. [1913]

Erkennen


Welche Vorstellung wäre zuletzt nicht anthropomorph! Anthropomorph, sagt man, sei die Vorstellung eines persönlichen Gottes. Aber der Naturforscher, der sich die Welt unpersönlich, nämlich als Natur, als Wirklichkeit, als einen unendlichen Knäuel von Wirkungen denkt – hat ja auch von sich selbst kein anderes Bild; er sieht sich, interpretiert sich ‚naturwissenschaftlich’ als ‚Natur’ und projiziert sich (in seiner neuen Weltinterpretation) nur ebenso unvermeidlich ins ‚Universum’ hinein wie früher. Oder vielmehr: Universum ist bereits Selbstprojektion. Anthropomorph ist und muß ‚alles’ bleiben. [1907]

Alle Geheimnisse liegen in vollkommener Offenheit vor uns. Nur wir stufen uns gegen sie ab, vom Stein bis zum Seher. Es gibt kein Geheimnis an sich, es gibt nur Uneingeweihte aller Grade. [1909]

Weltbild


Was ist Religion? Sich in alle Ewigkeit weiter und höher entwickeln wollen.


‚Gott’ ist das einfache Ergebnis eines Subtraktionsexempels: ziehe alles von dir ab, was abzuziehen ist, und der Rest ist – Mysterium. [1907]

Frage dich nur bei allem: ‚Hätte Christus das getan?’ Das ist genug. [1908]

Demut ist Wärme. Alle Dinge ‚reden’ und erschließen sich gleich ganz anders, wo ihr milder Himmel aufglänzt. Vor dem Demütigen wird die Welt sicher und vertrauend, den Demütigen empfangen, lieben und beschenken alle Dinge.


Humorvolles

Kinderlieder


Die drei Spatzen

In einem leeren Haselstrauch
da sitzen drei Spatzen, Bauch an Bauch.

Der Erich rechts und links der Franz
und mitten drin der freche Hans.

Sie haben die Augen zu, ganz zu,
und obendrüber da schneit es, hu!

Sie rücken zusammen dicht an dicht.
So warm wie der Hans hats niemand nicht.

Sie hören alle drei ihrer Herzlein Gepoch
Und wenn sie nicht weg sind, so sitzen sie noch.           


Lied der Sonne

Ich bin die Mutter Sonne und trage
die Erde bei Nacht, die Erde bei Tage.
Ich halte sie fest und strahle sie an,
daß alles auf ihr wachsen kann.
Stein und Blume, Mensch und Tier,
alles empfängt sein Licht von mir.
Tu auf dein Herz wie ein Becherlein,
denn ich will leuchten auch dort hinein!
Tu auf dein Herzlein, liebes Kind,
daß wir ein Licht zusammen sind!


Das Weihnachtsbäumlein

Es war einmal ein Tännelein
mit braunen Kuchenherzlein
und Glitzergold und Äpflein fein
und vielen bunten Kerzlein:
Das war am Weihnachtsfest so grün
als fing es eben an zu blühn.

Doch nach nicht gar zu langer Zeit,
da stands im Garten unten,
und seine ganze Herrlichkeit
war, ach, dahingeschwunden.
die grünen Nadeln war'n verdorrt,
die Herzlein und die Kerzlein fort.

Bis eines Tags der Gärtner kam,
den fror zu Haus im Dunkeln,
und es in seinen Ofen nahm –
Hei! Tats da sprühn und funkeln!
Und flammte jubelnd himmelwärts
in hundert Flämmlein an Gottes Herz.

Galgenlieder

Morgenstern über die Galgenlieder: „...Nun wohl: ein Galgenbruder ist die beneidenswerte Zwischenstufe zwischen Mensch und Universum. Nichts weiter. Man sieht vom Galgenberg die Welt anders an, und man sieht andre Dinge als Andre.“


Das ästhetische Wiesel

Ein Wiesel
saß auf einem Kiesel
inmitten Bachgeriesel.

Wißt ihr
weshalb?

Das Mondkalb
verriet es mir
im Stillen:

Das raffinier-
te Tier
tat's um des Reimes willen.


Die beiden Esel

Ein finstrer Esel sprach einmal
zu seinem ehlichen Gemahl:

"Ich bin so dumm, du bist so dumm,
wir wollen sterben gehen, kumm!"

Doch wie es kommt so öfter eben:
Die beiden blieben fröhlich leben.


Das Nasobēm

Auf seinen Nasen schreitet
einher das Nasobēm,
von seinem Kind begleitet.
Es steht noch nicht im Brehm.

Es steht noch nicht im Meyer.
Und auch im Brockhaus nicht.
Es trat aus meiner Leyer
zum ersten Mal ans Licht.

Auf seinen Nasen schreitet
(wie schon gesagt) seitdem,
von seinem Kind begleitet,
einher das Nasobēm.


Der Lattenzaun

Es war einmal ein Lattenzaun,
mit Zwischenraum, hindurchzuschaun.

Ein Architekt, der dieses sah,
stand eines Abends plötzlich da –

und nahm den Zwischenraum heraus
und baute draus ein großes Haus.

Der Zaun indessen stand ganz dumm,
mit Latten ohne was herum,

Ein Anblick gräßlich und gemein.
Drum zog ihn der Senat auch ein.

Der Architekt jedoch entfloh
nach Afri-od-Ameriko.


Der Würfel

Ein Würfel sprach zu sich: Ich bin
mir selbst nicht völlig zum Gewinn!

Denn meines Wesens sechste Seite,
und sei es auch ein Auge bloß

sieht immerdar, statt in die Weite,
der Erde ewig dunklen Schoß.

Als dies die Erde, drauf er ruhte,
vernommen, ward ihr schlimm zu Mute.

Du Esel, sprach sie, ich bin dunkel,
weil dein Gesäß mich just bedeckt!
Ich bin so licht wie ein Karfunkel,
sobald du dich hinweggefleckt.

Der Würfel, innerlichst beleidigt,
hat sich nicht weiter drauf verteidigt.

Palmström und Palma Kunkel


Palmström


Palmström

Palmström steht an einem Teiche
und entfaltet groß ein rotes Taschentuch:
Auf dem Tuch ist eine Eiche
dargestellt sowie ein Mensch mit einem Buch.

Palmström wagt nicht, sich hineinzuschneuzen.
Er gehört zu jenen Käuzen,
die oft unvermittelt-nackt
Ehrfurcht vor dem Schönen packt.

Zärtlich faltet er zusammen,
was er eben erst entbreitet.
Und kein Fühlender wird ihn verdammen,
weil er ungeschneuzt entschreitet.


Die Brillen

Korf liest gerne schnell und viel,
darum widert ihn das Spiel
all des zwölfmal Unerbetnen,
Ausgewalzten, Breitgetretnen.

Meistes ist in sechs bis acht
Silben völlig klargemacht,
und in ebensoviel Sätzen
läßt sich Bandwurmweisheit schwätzen.

Es erfindet drum sein Geist
etwas, was ihn dem entreißt:
Brillen, deren Energien
ihm den Text zusammenziehen!

Beispielsweise dies Gedicht
läse, so bebrillt, man – nicht!
Dreiundsechzig seinesgleichen
gäben erst – ein – – Fragezeichen!!


Die unmögliche Tatsache

Palmström, etwas schon an Jahren,
wird an einer Straßenbeuge
und von einem Kraftfahrzeuge
überfahren.

"Wie war" (spricht er, sich erhebend
und entschlossen weiterlebend)
"möglich, wie dies Unglück, ja –:
daß es überhaupt geschah?

Ist die Staatskunst anzuklagen
in bezug auf Kraftfahrwagen?
Gab die Polizeivorschrift
hier dem Fahrer freie Trift?

Oder war vielmehr verboten,
hier Lebendige zu Toten
umzuwandeln, – kurz und schlicht:
Durfte hier der Kutscher nicht –?"

Eingehüllt in feuchte Tücher,
prüft er die Gesetzesbücher
und ist alsobald im klaren:
Wagen durften dort nicht fahren!

Und er kommt zu dem Ergebnis:
"Nur ein Traum war das Erlebnis.
Weil", so schließt er messerscharf,
"nicht sein kann, was nicht sein darf! "


Die beiden Feste

Korf und Palmström geben je ein Fest.

Dieser lädt die ganze Welt zu Gaste:
doch allein zum Zwecke, daß sie – faste!
einen Tag lang sich mit nichts belaste!
Und ein – Antihungersnotfonds ist der Rest.

Korf hingegen wandert zu den Armen,
zu den Krüppeln und den leider Schlimmen
und versucht sie alle so zu stimmen,
daß sie einen Tag lang nicht ergrimmen,
daß in ihnen anhebt aufzuglimmen
ein jedweden "Feind" umfassendes – Erbarmen.

Beide lassen so die Menschen schenken
statt genießen, und sie meinen: freuen
könnten Wesen (die nun einmal – denken)
sich allein an solchen gänzlich neuen
Festen.


Palmströms Verhaftung

Palmström weigert sich (ganz selbstverständlich)
irgendwelchen Heeresdienst zu tun.
Doch wer immer schilt dies feig und schändlich.

Denn man ist noch rings um ihn katholisch
oder protestantisch usw.
und da gilt es noch als diabolisch

einen Christenmenschen nicht zu morden,
heischen dies Gott, König, Vaterland.
Palmström ist hierauf verhaftet worden.


Im Gefängnis

Im Gefängnis sitzt der Brave.
Doch er sagt sich: ins Gefängnis
sollte jeder, der kein Sklave.

Alle wahrhaft freien Seelen
sollten diese ihrer einzig
werte Stätte nicht verfehlen.

Ohne Murren, ohne Zucken
sollten sich der Freien Nacken
unter der Gewalt Joch ducken.

Bis das Volk der breiten Fährte
erst durch Staunen, dann durch Denken
gleichfalls sich zur Freiheit klärte.


Ein Interview

Palmström wird gefragt, wie er sich zu der Todesstrafe stelle.

Er erwidert: "Lieber Herr und Bruder,
giebts denn da noch wirklich ein sich Stellen
innert einer Welt
christlicher Geschwister und Gesellen?

Lieber Herr, was wollen Sie den Armen
mit Gewehr und Beil?
Ist der Mensch so bar noch an Erbarmen?

Oder lassen Sie mich anders sprechen:
Ist man ohne Teil
an dem, sei's auch traurigsten Verbrechen?

Wer es ist, der trete vor und hebe
seine Hand zum Licht.
Oder aber unser Bruder – lebe!

Palma Kunkel


Der Meilenstein

Tief im dunklen Walde steht er
und auf ihm mit schwarzer Farbe,
daß des Wandrers Geist nicht darbe:
Dreiundzwanzig Kilometer.

Seltsam ist und schier zum Lachen,
daß es diesen Text nicht gibt,
wenn es keinem Blick beliebt,
ihn durch sich zu Text zu machen.

Und noch weiter vorgestellt:
was wohl ist er – ungesehen?
Ein uns völlig fremd Geschehen.
Erst das Auge schafft die Welt.


Die Elster

Ein Bach, mit Namen Elster, rinnt
durch Nacht und Nebel und besinnt
inmitten dieser stillen Handlung
sich seiner einstigen Verwandlung,
die ihm vor mehr als tausend Jahren
von einem Magier widerfahren.

Und wie so Nacht und Nebel weben,
erwacht in ihm das alte Leben.
Er fährt in eine in der Nähe
zufällig eingeschlafne Krähe
und fliegt, dieweil sein Bett verdorrt,
wie dermaleinst als Vogel fort. 


Das Butterbrotpapier

Ein Butterbrotpapier im Wald, –
da es beschneit wird, fühlt sich kalt ...

In seiner Angst, wiewohl es nie
an Denken vorher irgendwie

gedacht, natürlich, als ein Ding
aus Lumpen usw., fing,

aus Angst, so sagte ich, fing an
zu denken, fing, hob an, begann,

zu denken, denkt euch, was das heißt,
bekam (aus Angst, so sagt ich) – Geist,

und zwar, versteht sich, nicht bloß so
vom Himmel droben irgendwo,

vielmehr infolge einer ganz
exakt entstandnen Hirnsubstanz –

die aus Holz, Eiweiß, Mehl und Schmer,
(durch Angst) mit Überspringen der

sonst üblichen Weltalter, an
ihm Boden und Gefäß gewann –

[(mit Überspringung) in und an
ihm Boden und Gefäß gewann].

Mit Hilfe dieser Hilfe nun
entschloß sich das Papier zum Tun, –

zum Leben, zum – gleichviel, es fing
zu gehn an – wie ein Schmetterling ...

zu kriechen erst, zu fliegen drauf,
bis übers Unterholz hinauf,

dann über die Chaussee und quer
und kreuz und links und hin und her –

wie eben solch ein Tier zur Welt
(je nach dem Wind) (und sonst) sich stellt.

Doch, Freunde! werdet bleich gleich mir! –
Ein Vogel, dick und ganz voll Gier,

erblickts (wir sind im Januar ...) –
und schickt sich an, mit Haut und Haar –

und schickt sich an, mit Haar und Haut –
(wer mag da endigen!) (mir graut) –

(Bedenkt, was alles nötig war!) –
und schickt sich an, mit Haut und Haar – –

Ein Butterbrotpapier im Wald
gewinnt – aus Angst – Naturgestalt ...

Genug!! Der wilde Specht verschluckt
das unersetzliche Produkt ...


Das Grab des Hunds

Gestern war ich in dem Tal
wo der Hund begraben liegt.
Trat erst durch ein Felsportal
und dann wo nach links es biegt.

Vorwärts drang ich ungestört
noch um ein Erkleckliches –
ist auch niemand da, der hört?
Denn nun tat ich Schreckliches:

Hob den Stein, auf welchem steht,
welchem steht: Hier liegt der Hund –
hob den Stein auf, hob ihn – und –
sah – oh, die ihr da seid, geht!

Sah – sah die Idee des Hunds,
sah den Hund, den Hund an sich.
Reichen wir die Hände uns;
dies ist wirklich fürchterlich.

Wie sie aussah, die Idee?
Bitte, bändigt euren Mund.
Denn ich kann nicht sagen meh,
als daß sie aussah wie ein – Hund.


Der Sperling und das Känguruh

In seinem Zaun das Känguruh –
es hockt und guckt dem Sperling zu.

Der Sperling sitzt auf dem Gebäude –
doch ohne sonderliche Freude.

Vielmehr, er fühlt, den Kopf geduckt,
wie ihn das Känguruh beguckt.

Der Sperling sträubt den Federflaus –
die Sache ist auch gar zu kraus.

Ihm ist, als ob er kaum noch säße ...
Wenn nun das Känguruh ihn fräße?!

Doch dieses dreht nach einer Stunde
den Kopf aus irgend einem Grunde,

vielleicht auch ohne tiefern Sinn,
nach einer andern Richtung hin.


Die zwei Parallelen

Es gingen zwei Parallelen
ins Endlose hinaus,
zwei kerzengerade Seelen
und aus solidem Haus.

Sie wollten sich nicht schneiden
bis an ihr seliges Grab:
Das war nun einmal der beiden
geheimer Stolz und Stab.

Doch als sie zehn Lichtjahre
gewandert neben sich hin,
da wards dem einsamen Paare
nicht irdisch mehr zu Sinn.

Warn sie noch Parallelen?
Sie wußtens selber nicht, –
sie flossen nur wie zwei Seelen
zusammen durch ewiges Licht.

Das ewige Licht durchdrang sie,
da wurden sie eins in ihm;
die Ewigkeit verschlang sie
als wie zwei Seraphim.

Grotesken und Parodien


Der Spielgeist

Man weiß, wie gern die Geister mit Löffeln, Messern und ähnlichen klappernden Dingen spielen, sei es, daß sie uns damit in unserer Einsamkeit zu erschrecken suchen, sei es, daß sie der Spielteufel solange reitet, bis sie eine Ungeschicklichkeit begehen und sich so verraten.
Das Seltsamste aber geschah mir einmal, als ich in meiner stillen Dachstube beim Nachtmahl saß und ein Geist sich an das steife Ölpapier machte, darin meine Butter eingewickelt gewesen war, und das ich zu einem Knäuel geballt in die Ecke geschleudert hatte.
Kaum daß ich das erste Brötchen gegessen, traf mich ein leises Knistern, wie wenn jemand mit feinen Fingern Papier auseinander zu falten trachtet. Ich tat, als hörte ich nichts.
Der Geist hatte vielleicht Hunger und wollte sich das bißchen Fett, das noch an dem Boden klebte, zu Gemüte führen. Am Ende war es auch bloße Neugier, die ihn trieb. Inzwischen knisterte und knitterte es immer weiter. Der Knäuel rollte sogar vernehmlich um sich selbst; dem Geist schien meine Anwesenheit durchaus gleichgültig zu sein.
Ich räusperte mich.
Totenstille.
Ich habe dich wohl bemerkt! sagte ich lächelnd, – habt ihr so wenig zu tun, daß ihr wie Katzen und Kinder mit allem spielen müßt? Aber laß dich nicht stören; nur mach nicht zuviel Lärm!
Der Geist schien sich mit gekreuzten Armen vor mir zu verneigen.
Dann war mir, als ginge er auf Zehenspitzen zur Tür. Aber die Lockung mochte zu stark sein. Der geheimnisvolle Papierknäuel zwang ihn zur Umkehr.
Bald hörte ich ihn wieder rascheln und erschrocken innehalten, wenn ich den Kopf hob.
Es mußte ein weiblicher Geist sein, es war gar nicht anders möglich.
Zuletzt war er eingeschlafen.
Nun sah ich ihn ganz deutlich.
Er saß am Boden wie ein Türke und lehnte mit der rechten Schläfe an der Wand. Sein Körper war der eines Mädchens und vollkommen durchsichtig. Lange zarte Flechten hüllten wie Spinnweben die schmächtigen Glieder ein.
Ich erhob mich vom Sessel.
Ein Streifen Mondlicht, nichts weiter. Und in diesem Streifen Mondlicht still und glänzend wie ein schlummernder Weltkörper voll Kratern, Zacken und Schneeflächen das geheimnisvolle Geisterspielzeug, mein Papierknäuel.


Gespräch einer Hausschnecke mit sich selbst

Soll i aus meim Hause raus?
Soll i aus meim Hause nit raus?
Einen Schritt raus?
Lieber nit raus?
Hausenitraus –
Hauseraus
Hauseritraus
Hausenaus
Rauserauserauserause ... 

(Die Schnecke verfängt sich in ihren eigenen Gedanken oder vielmehr diese gehen mit ihr dermaßen durch, daß sie die weitere Entscheidung der Frage verschieben muß.)

Der vergessene Donner

Ein Gewitter, im Vergehn,
ließ einst einen Donner stehn.
Schwarz in einer Felsenscharte
stand der Donner da und harrte –
scharrte dumpf mit Hals und Hufe,
daß man ihn nach Hause rufe.

Doch das dunkle Donnerfohlen –
niemand kam's nach Haus zu holen.
Sein Gewölk, im Arm des Windes,
dachte nimmer seines Kindes –
flog dahin zum Erdensaum
und verschwand dort wie ein Traum.

Grollend und ins Herz getroffen,
läßt der Donner Wunsch und Hoffen,
richtet sich im Felsgestein
wie ein Bergzentaure ein.
Als die nächste Frühe blaut,
ist sein pechschwarz Fell ergraut.

Traurig sieht er sich im See
fahl, wie alten Gletscherschnee.
Stumm verkriecht er sich, verhärmt;
nur wenn Menschheit kommt und lärmt,
äfft er schaurig ihren Schall,
bringt Geröll und Schutt zu Fall...

Mancher Hirt und mancher Hund
schläft zu Füßen ihm im Schrund. 


Die Schwestern

Die Kanone sprach zur Glocke:
"Immer locke, immer locke!

Hast dein Reich, wo ich es habe,
hart am Leben, hart am Grabe.

Strebst umsonst, mein Reich zu schmälern,
bist du ehern, bin ich stählern.

Heute sind sie dein und beten
morgen sind sie mein und – töten.

Klingt mein Ruf auch unwillkommen,
keiner fehlt von deinen Frommen.

Beste, statt uns zu verlästern,
laß uns einig sein wie Schwestern!"

Drauf der Glocke dumpfe Kehle:
"Ausgeburt der Teufels-Seele,

wird mich erst der Rechte läuten,
wird es deinen Tod bedeuten."