Vom Wesen der Heiligen

aus: Walter Nigg: Große Heilige. Artemis Verlag, 1966. Einleitung: Die Erscheinung des Heiligen. | Zwischenüberschriften H.N.


Eine unbekannte Welt tut sich auf, wenn man den Heiligen begegnet. Neue Dimensionen setzen einen in maßloses Staunen. Der menschlichen Sprache fehlen die Worte, um deren Größe zu umschreiben. Das unmittelbare Verhältnis zum Göttlichen, die religiöse Tiefe ihrer Weisheit und das hintergründige Seelenverständnis der Heiligen findet in der Geistesgeschichte kaum eine Parallele. [...]

Während das Mittelalter seine Heiligen noch auf dem Gold­grund der Ewigkeit zu malen vermochte, und auf diese Weise dem Betrachter wenigstens eine Vorstellung von ihrer Andersartigkeit vermittelt hat, ging den letzten Jahrhunder­ten diese Ahnung verloren. Die moderne Zeit besitzt kein durch Erfahrung gewonnenes Wissen mehr um die Heiligen. [...]

Der Ausnahmecharakter des Heiligen wird gewöhnlich in sittlichen Reinheit gesehen. Die traditionellen Heiligenbiographien lieben es, ihre Helden von Jugend an als Ausbund von Tugendhaftigkeit auszugeben; als Menschen, die für die Lockungen der Welt nie auch nur das geringste Gehör übrig hatten. Mit dieser Betonung des ethischen Momentes wird der Akzent auf eine falsche Stelle gelegt. Die großen Heiligen haben nichts von dem unwahrscheinlichen Anstrich von Idealmenschen an sich. Das Leben zahlreicher Heiliger zeigt, daß auch sie zuerst den Weg der Sünde gingen und sich durch schwere Kämpfe daraus befreien mußten. Margareta von Cortonas erschütterndes Leben ist eines der eindrucksvollsten Beispiele eines solch reuevollen Büßertums aus der Geschichte des Christentums. Die Überwindung der niederen Sphäre gehört freilich zum des Heiligen. [...]

Das Wesen der Heiligen

Die religiöse Begabung des Heiligen wirkt sich in seinem unermüdlichen Streben nach der Vollkommenheit aus. Jesu Ausspruch in der Bergpredigt: „Ihr sollt vollkommen sein, gleich wie euer Vater im Himmel vollkommen ist“ (Mt. 5,48) umschreibt für ihn das höchste Ziel, um dessen Erreichung er sich mit der ganzen Kraft seiner Seele bemüht. [...]

Mit Aufbietung aller geistigen Energie haben die Heiligen in brennender Weise am Aufstieg zu diesem Ziel gearbeitet, und eine ungeheure seelische Anstrengung vollbrachten sie, um dem neutestamentlichen Wort nachzu­kommen: „Das ist der Wille Gottes, eure Heiligung“ (1. Thess. 4,3). Mit dieser Forderung, welche eine Um­wandlung des Menschen bezweckt, haben die Heiligen in unerbittlicher Weise Ernst gemacht. Das Ringen nach der Heiligung läßt sich bei ihnen durch das ganze Leben verfolgen, und erst zuletzt erlangen sie Anteil an Gottes Heilig­keit. Nie kommt ihr Streben nach Vollkommenheit zum Stillstand. Unablässig arbeiten sie an sich, kämpfen mit sich selbst, versuchen sich zu überwinden und begehren, dem höchsten Ziel näher zu kommen. Heilige sind Menschen, die allezeit getrieben sind, innerlich vorwärts zu schreiten, und die sich nie mit dem Erreichten zufrieden geben, weil es in diesem Leben keine Vollendung gibt. Immer ruft das Ziel der Vollkommenheit sie weiter, und unaufhörlich strengen sie sich an, noch höher hinaufzusteigen, auch wenn sie bereits auf jenen schwindelerregenden Höhen sich be­finden, um die der im Alltagsleben verhaftete Mensch nicht weiß. [...]

Es ist ein Mißverständnis, dieses unablässige Ringen um die Vollkommenheit als Verschiebung der Basis der Gottesgemeinschaft vom gerechtfertigten Sünder zur eigenen Ver­dienstlichkeit zu bewerten. Dieser Argwohn macht auch die neutestamentliche Forderung illusorisch, „der Heiligung nachzujagen, ohne die niemand den Herrn schauen wird“ (Heb. 12, 14). Wahres Streben nach der inneren Form ver­führt den Menschen keineswegs zur Selbstgerechtigkeit. Je ernsthafter die Heiligen nach der Vollkommenheit gestrebt haben, um so mehr ist ihnen ihre eigene Unzulänglichkeit zum Bewußtsein gekommen. Kein Heiliger hat sich selbst als Heiligen betrachtet. Allezeit blieben sie eingedenk, daß Heiligkeit vor allem eine Wesenseigentümlicbkeit Gottes ist, mit der er seine Auserwählten beschenkt, und nie eine selbstherrliche Tat des Menschen. Die Heiligen besaßen infolge ihrer Gewissensverfeinerung ein ausgeprägtes Sün­dengefühl, hinter dem nicht nur vorgegebene Demut steckt. Das Gefühl der Ungenügendheit entspringt vielmehr der Erfahrung, daß der Mensch seine Unheiligkeit um so mehr spürt, je näher er der Heiligkeit Gottes kommt. [...]

Die Nähe Gottes wirkt sich bei den Heiligen in einer brennenden Gottesliebe aus, im Gegensatz zum Leben der gewöhnlichen Christen, welche die Liebe zu Gott oft kaum noch dem Namen nach kennen. Diese Liebe macht den Heiligen heilig, weil er durch sie von Gott mit dem Unaussprechlichen be­gnadigt wird. Aus ihr fließt jene sich aufopfernde Liebe zum Mitmenschen, die im Leben keines Heiligen fehlt. [...]

Verlust und Wiedergewinn des Heiligen

Der innere Ver­fall des Christentums beruht nicht ausschließlich auf der Gottlosigkeit und dem Materialismus der Menschen in der Neuzeit, sondern auf dem Übergewicht des rationalen gegen­über dem symbolischen Denken in religiösen Fragen. Auf dieses Verhängnis muß man aufmerksam werden, will man die tiefer reichenden Gründe des christlichen Zusammen­bruches in der modernen Zeit erfassen.

Rationales Denken wird mit seiner zergliedernden Tendenz auf symbolisches Welt­empfinden anzuwenden, kann nur eine auflösende Wirkung haben. Es ist einer der größten Dienste, welche die Heiligen dem neuzeitlichen Menschen leisten können, daß er durch einen längeren Umgang mit ihnen das verschüttete Denken des Herzens wieder lernen kann, das auch ein Denken ist, aber eines, das am Bild und nicht am Begriff orientiert ist, und welches der gewöhnlichen Logik, die Gegensätze nicht in sich zu vereinigen vermag, überlegen ist. Das Herz schaut gleichsam die Wahrheit, wenn es das intuitive Denken aus­übt, welches auf eine bisher ganz unbekannte Art in die religiöse Wahrheit einzudringen vermag und sie liebend von innen erhellt. Das symbolische Denken ergeht sich keines­wegs in bloßen Bilderreden und ist nicht weniger mit Realität gesättigt als die rationale Beweisführung. Es ist schwer verständlich, wie wenig auf diese Logik des Herzens, welche die verschiedenen Wahrheitsaspekte gleichzeitig zu umfassen imstande ist, geachtet wird, und die doch einzig dem religiösen Verständnis entspricht. [...]

Der Heilige besitzt ein tiefes Wissen sowohl um die Verderbnis des Menschen als auch um das, was er zu seiner Rettung bedarf, denn er lebt nicht, wie eine naive Betrach­tungsweise annimmt, in ahnungsloser Unschuld dahin. Wie wenige weiß er hellsichtig um die Abgründigkeit des menschlichen Daseins, und er ist oft der einzige Sehende unter lauter Blinden. Als der schlechthin positive Mensch ist der Heilige zu bezeichnen, der an Stelle der nieder­reißenden Tendenzen die aufbauende Bestrebung setzt. Er tritt aus seiner religiösen Position heraus mit überlegenen Kräften den unterhöhlenden, zentrifugalen Strömungen seines Zeitalters entgegen. Religiös betrachtet ist er der Vertreter Gottes, der mit den Dienern des Teufels in einem Kampf auf Leben und Tod steht. Diese aufregende Tätig­keit war bereits die Funktion des mittelalterlichen Heiligen. Allerdings wäre es ein Irrtum zu glauben, dieser Kampf gehe auch heute noch in der gleichen Form vor sich wie damals. Dazu hat sich die Bewußtseinslage in der modernen Zeit zu stark geändert.

Unsere Zeit braucht eine neue Heiligkeit, welche die unterminierenden Kräfte der Gegenwart über­winden hilft. Der Heilige der heutigen Zeit hat ein ganz anderes Aussehen als das traditionelle Schema ihn sich vor­zustellen gewohnt ist. In den russischen Revolutionären des 19. Jahrhunderts sind schwache Ansätze einer modernen Heiligkeit sichtbar geworden, die aber infolge des theore­tischen Atheismus seiner Vertreter wieder abdorren mußten. Der neue Typus des Heiligen wird sich inmitten des Stru­dels der Welt bewegen und vor allem an dem blutenden Schmerz der sozialen Not nicht unbeteiligt vorübergehen. Nur von einem Heiligen im modernen Gewand und weder von einer Partei noch Weltanschauung wird die ersehnte Umwandlung des Lebens ausgehen, die in kleinen Kreisen den Ausgang nimmt. [...]

Annäherung an das Heilige

Die magische Welt der Heiligen kann nicht mit jener unbeteiligten Kühle beschrieben werden, wie man von einer Goldschmiedearbeit des 16. Jahrhunderts berichtet. Heiligenschilderung erfordert eine das Göttliche spürende Fähigkeit, die in einem mehr als nur menschlich einfühlenden Verständnis dieser Gestalten bestehen muß. Dem Heili­gen kann allein eine religiöse Erfassung gerecht werden, weil nur sie dem gleichen Erdreich entstammt, aus dem diese heiligen Menschen hervorgegangen sind. Religiöses kann nur durch Religiöses erfaßt werden. Jede andere Darstellung bleibt an der Oberfläche haften. Die Welt der Heiligen kann einzig mit Gott und niemals ohne ihn begriffen werden. jedem anderen Versuch erschließen sie ihr Geheimnis nicht, wenn es auch anderseits eine Übertreibung ist, zu sagen, es bedürfe eines Heiligen, um das Leben eines Heiligen zu schreiben. [...]

Auch Heilige sind Menschen, denen Gebrechen anhaften. Niemand hat dies stärker betont als sie selbst. Die Vertuschung der Schatten, die auch über ihrem Leben liegen, hat mit echter Liebe nichts zu tun, denn man kann eine tiefe Liebe zu einem Menschen empfinden und doch gewisse Handlungen von ihm für nicht richtig halten. Die Erwähnung ihrer Fehler hat nur nicht aus einer hämischen Absicht zu erfolgen, welche mit ihrer Entlarvung dartun will, daß auch die Heiligen nicht anders waren als die übrigen Menschen. Diese armselige Anschauung besteht ohnehin nicht zu Recht. Heilige sind größer als gewöhnliche Menschen. Die Hervor­hebung negativer Seiten hat vielmehr einzig aus Liebe zur Wahrheit und aus einer realistischen Einstellung zu geschehen, welche gerade die oft besonders schwere Bedrohung des Heiligen aufzeigt. Die Überwindung von verwerflichen Eigenschaften, die ihnen in mühsamem Ringen gelungen ist, gereicht ihnen zur größeren Ehre als die unwahrscheinliche Annahme, daß ihnen alle Versuchungen unbekannt geblieben seien. [...]

Statt die Heiligen beständig mit dem eigenen weltanschaulichen Urteil zu schulmeistern, ist die echte Geschichtsschreibung von dem Willen zu neuen Einsichten erfüllt. Sie will sich vom Geschauten zu neuen Erkenntnissen führen lassen, wenn sie dabei auch ungewohnte Wege beschreiten muß. Nur diese seelische Aufgeschlossenheit bringt den Menschen innerlich weiter und verhindert seine Erstarrung im eigenen Gehäuse. In der Welt der Heiligen kommen höchst seltsame und nie gehörte Dinge vor, die einen zu neuem Begreifen veranlassen sollten. Es gilt zu versuchen, die befremdlichsten Ereignisse zu verstehen und auch vor den rätselhaftesten Dingen nicht vorschnell zu kapitulieren. Wie kaum anderswo entscheidet es sich in der Heiligenschilderung, wie weit man mit kühner Bereitschaft in religiöse Wirklichkeiten vorzudringen vermag, oder ob einem die Kraft zu neuen Entdeckungen versagt geblieben ist.

Die Musik der Ewigkeit

Doch wie lange die neue Hagiographie um die Heiligen kreisen mag, deren letztes Geheimnis wird auch sie nie ergründen. Es bleibt unauslotbar. Mit den Heiligen kommt man nie zu Ende, weil deren Tiefstes mit Worten nicht wiederzugeben ist. Wer über Heilige schreibt, wird immer die schmerzliche Erfahrung des Seelsorgers der Angela von Fognilo  machen, der ihre göttlichen Offenbarungen in der lichtvollen Sprache aufzeichnete, deren sie sich bei ihren Mitteilungen bediente, und der dann, als er das Nachgeschriebene ihr nochmals vorlas, die Klage zu hören be­kam: „Ich verstehe nichts mehr davon; ihr schreibt ohne Kraft, es erinnert mich wohl an das Gesagte; allein es ist so dunkel und drückt die Sache lange nicht aus, wie ich sie erkenne; ihr habt eben das Schlechteste aufgeschrieben und das Beste ausgelassen!“ Das ist nur scheinbar ungerecht geurteilt; es zeigt vielmehr auf anschauliche Weise, daß die Erscheinung des Heiligen in theoretischer Weise abschlie­ßend nicht erörtert werden kann. [...]

Die Heiligen sind wie ein Geläute. Jede Glocke hat ihren Klang, aber erst alle zusammen geben die ganze Tonfülle. Auf diese Musik der Ewigkeit muß man hören in einer Zeit, da die Menschen sich vom Evangelium immer offenkundiger abwenden. In dieser Nacht der Selbst­zersetzung des Abendlandes wird das Christentum der Heiligen jenes Licht bedeuten, das dem Einzelnen auf seinem Wege vorausleuchtet und in ihm wieder jenes unstillbare Lechzen nach neuer Heiligkeit weckt, welches bereits Michael Baumgarten in die prophetischen Worte zusam­menfaßte:

„Es gibt Zeiten, in denen Reden und Schriften nicht mehr ausreichen, um die notwendige Wahrheit ge­meinverständlich zu machen. In solchen Zeiten müssen Taten und Leiden der Heiligen ein neues Alphabet schaf­fen, um das Geheimnis der Wahrheit neu zu enthüllen. Unsere Gegenwart ist eine solche Zeit.“