Ludwig Reeg: Von der tiefen Wirklichkeit

aus: Ludwig Reeg: Von der tiefen Wirklichkeit. Beck’sche Verlagsbuchhandlung, 1926.

Ludwig Reeg (1866-1941) war ein sehr unbekannt gebliebener evangelischer Theologe. In seinen Gedanken lebt ein tiefes, von unbewusster Anthroposophie durchdrungenes Zukunftschristentum.


Inhalt
Vom Erleben: Tiefe | Strahlen | Der Starke | Das Nahe.
Vom Werden: Leben | Neu anheben.
Vom Weg: Gebote der Liebe | Unser Weg | Einfach | Der gute Mut.
Vom Getragensein: Ein kleines Licht | Getragen | Warum.
Vom Lieben und Schenken: Armut | Die Wertvollen | Was ich meine.

Vom Erleben


Tiefe

Den schweren Weg muß ich gehen. Denn hier ist mein Weg in dieser Wirklichkeit. Und ja muß ich sagen, wenn sie nach mir greift, mich zu versuchen, wie viel ich an ihr leiden könne. Ich will diese Welt. Und keinem Schrei, der aus der Tiefe kommt, will ich Schweigen gebieten.

Denn nach Leben, nach tiefem, wirklichem Leben schreit meine Seele, meine tolle, wilde, heißbegehrende, meine zarte, scheue ahnende Seele.

Hindurch und nicht vorbei geht mein Weg, und nicht will ich mich fürchten vor meiner Kraft. [...]


Strahlen

Das Licht der Sonne haftet nicht an dieser Erde. Es kommt aus weiter Ferne. Es gibt Leben, Farbe, Bewegung, Wärme, und wir wandeln und schauen in ihm. Wer will sagen, daß es nicht zur Wirklichkeit unserer Erde gehöre, ob es auch braunes Laub in Gold wandelt und Meer und Land verklärt im Abendstrahl: So licht, so aufgelöst, daß der rohe Stoff der steinigen Gebirge in einem kristallnen Himmel körperlos zu schweben scheint.

Es gibt Strahlen, – kommen sie aus großer, unermessener Ferne, kommen sie aus unserm Innern, oder ist beides eines? – die den Dingen erst Farbe, Bewegung, Schönheit, Sinn und Werden geben. Sind sie weniger wirklich als jene Dinge, die sie verklären, weil es auch Menschen gibt, die sie nicht sehen?

Diese Gedanken und Empfindungen geben erst unserm Leben einen Wert oder sie sind sein Wert. Sie sind entscheidend für unser jetziges Glück, für unser Verstehen und Ergreifen der Stunden. Sie sind gestaltend für die Zukunft.

Sie sind so wirklich, daß sie der Schlüssel sind für die tiefe Wirklichkeit.


Der Starke

Wer ist der Starke?

Der die Wirklichkeit will, und auch ihren schweren Hammer liebt, wenn er auf ihn fällt; denn er glaubt an sein Werden, und immer gibt er sein Leben preis.

Wer ist der Schwache?

Der Flüchtling, der Flache, der immer die Tiefe scheut, der die große, heilige, zerbrechende Sprache der Wahrheit haßt, und weint, weil sie ihm weh tut. Ein lähmender Fremdkörper ist sein schwächliches Ich dem auffliegenden Leben. Unwirklich ist sein Ich, und er ist verfangen in die kleinen Dinge; der Starke ist groß und weit, wirklichkeitsvoll. Der Schwache sucht außer sich einen ruhenden Punkt, auf den er sich stützen könnte. Der Starke hat den ruhenden Punkt in sich und sucht ein Werk für seine helfende Hand.

Der Starke ist der Liebende, der Seelenentdecker und der Tröster. Seine eigenen Tränen weint er ungesehen, und seinen eignen Trost sucht er im Verborgnen. Seine Hand ist zart, und er hebt unsere Seele. [...]


Das Nahe

Die Unfähigkeit zum Staunen ist die größte Feindin Gottes und der Seele.

Der Hang zum Gewöhnlichen und das Bedürfnis, in Schachteln und Schablonen einzuordnen, ruht nicht eher, als bis das Ding einen Namen hat und in seinem Namen sein Grab.

Es bedarf einer großen Stille und Armut, bis man den Sinn in den Dingen und Menschen sieht. Und durch viel Hungern und Zerbrechen seiner Götter muß einer gegangen sein, bis er so bedürfnislos und einfach wird, daß er das Leben um sich herum achtet. Das Nahe bedarf des stärksten Erlebens, damit es in die Nähe unserer Seele rückt.

Vom Werden


Leben

Leben ist der Glaube an das Werden und das staunende Sehen. Leben ist Spüren des letzten tiefen Sinnes, der hinfließt wie ein mattleuchtender Strom durch ein dunkles Land.

Einen inneren Selbstwert entdeckte der Lebende, und auch seine Schmerzen müssen ihm Förderung sein.

Sein Auge ist klar, und sein Gewissen ist gut. Seine tat ist gut, weil sie aus Freiheit und Einheit getan ist und aus der guten Hoffnung, aus dem ganzen Ja!

Leben ist die Kunst, das Heute zu gestalten zur Gegenwart der tiefen Dinge; zu entdecken im Heute das lebendrängende Ewige. Leben ist Erleben. Des Kindes Art ist des Lebens Kunst.

Und eine Tiefe hat das Staunen, das Entdecken, das Leben, in der jedes Erleben ein Gotterleben ist.

Aller Werdeschmerzen wert ist die Weisheit des Selbstlebenden, des Lebensfrohen und Werdesicheren, der Gottschauenden. Ein Licht ist der Lebensstarke und ein Baum mit starkem Stamm und breitem Wipfel. Und ein Freund ist er, der in die Seele schaut und starke Arme hat.

Er geht einen gottklaren Weg, – und weil er es dem Tode abrang, hat er das Leben.


Neu anheben

Dem Selbstlebenden, in der Einheit Ruhenden nimmt die untergehende Sonne seinen Tag hinweg, und die morgen aufgehende bringt ihm einen neuen Tag des Lebens. Er breitet ihm die Arme erwartend aus, und seine Augen sind bereit zum Staunen. So lauscht auf das Geschehen der Stunde, wer im Herzen der Dinge lebt. Sein Glauben an das Werden schafft ihm Ehrfurcht vor dem Heute. Er kann nicht im Gestern leben, ein Träumender, weil das Heute zu heilig ist.

Vom Weg


Gebote der Liebe

Habt lieb euren Weg, auch wenn er dunkel und schwer ist, denn er ist der Weg des Lebens, und ihn schilt nur, wer ihn nicht verstand.

Habt lieb eure freie Einsamkeit. Manchen sah ich nach Ehre gehen, und er wurde ein Knecht, nach Menschengefallen, und er verlor sein Selbst und seine Tiefe.

Habt lieb die Jasagenden, die Selbstlebenden und Bauenden; und auch die ehrlichen Selbsthasser, die wunden Seelen, die Nein sagen und dennoch Ja sind.

Habt lieb eure Seele.


Unser Weg

Der Weg unseres Geschickes kann schwer sein, so heiß, daß wir lange auf ihm seufzen und wider ihn klagen; aber einmal muß doch die Stunde kommen, wo wir Schatten unter seinen Bäumen finden und erquickende Brunnen an seinen Rändern entdecken, ja wo sich eine weite Aussicht auf seiner einsamen Höhe öffnet. Das ist die Stunde, wo er unser Weg wird, und wo wir ihn mit allen seinen Schmerzen lieben lernen.

Dabei macht es nichts aus, ob wir mit oder ohne unser Zutun auf diesen Weg gekommen sind. Auch wo es die Folge unserer Fehler zu sein scheint, kann es der rechte Weg sein und werden. Nicht Mauern noch Krankheiten, noch enge kleine Verhältnisse können die Seele hindern, groß zu werden. Denn jeder rechte Weg, den man liebt, führt uns zu uns selbst, zu einer tiefen Einfachheit, zu der Größe, die unsere Größe ist.

Ein anderes ist ein fremder Weg, der nicht unser ist, auf dem wir nicht wir selbst sind oder werden in eigner Wahrheit, der fremde Weg der falschen, eiteln Rücksichten, des Uneignen. Er macht uns klein, flackernd, schwach, verfangen in die fremden Einflüsse.

Und das ist wohl der Sinn der schweren Wege, daß sie uns zum Eigenwerden zwingen wollen.


Einfach

Das ist nicht der Weg zum Leben, daß man jede Spur des Todes und jedes Loch der Verneinung zustopft, sondern daß man ein großes gutes Ja in sich trägt, durch das alle Zweifel und Verneinungen klein werden.

Der gute Mut

Der gute Mut ist die beste Kraft in der Welt, und mit guter Hoffnung vorwärts gehen, das einzig Sinnvolle und Sinngebende.

Der gute Mut ist immer Wahrheit, selbst wenn die Vorstellungen, die ihn uns gaben, und die er uns gab, sich zum größten Teil später als Täuschung erweisen sollten. Er behält doch recht, denn er ist das Gefühl für das Leben selbst und seinen Wert, für den Strom, der, vielen unsichtbar, unter der Oberfläche der Dinge fließt.

Hat man eine Zeit mit glaubendem, bejahendem Sinn durchlebt, so hat man eine Lebenskraft gewonnen und einen wirklichen Wert geschaffen: etwas, das in uns wird, damit es draußen werden könne.

Vom Getragensein


Ein kleines Licht

Ein kleines Licht genügt, um dem Fuß den dunklen Weg zu erhellen.

Nicht die tausend Lichtstrahlen machen das Leben klar, und nicht die tausend klugen Gedanken machen den Geist groß.

Alles Große ist einfach. Wer den einen Weg verfolgt, ist weiser, denn der viele sieht, und wer den einen Gedanken denkt, hat das Leben.

Sicherer ging ich mit der kleinen Laterne in der Hand durch die engen Felsenpfade, als wo in der Stadt die vielen Lichter den Blick verwirrten.

Ein kleines Licht, und ringsum die schweigende wohlige Nacht, die einsame.

Ein kleines Licht geborgen, ganz drinnen, um lieben, um hoffen, um leben zu können.

Und ich liebe das kleine Licht! Ist mir nicht, als ob ein Strom daraus quelle, fließe, manchmal in der Nacht, ganz stille in der Nacht?


Getragen

Kein gotteiniger Mensch hat „Boden unter den Füßen“. Wo die tastende Hand sich fassen wollte, war kein Halt, und wo der unsichere Fuß fußen mochte, schwand ihm der Boden.

Eine kleine Kraft hält ihn, ein kleines Licht leuchtet ihm, und auf weitem, weitem Weg steht er wie ein Kind.

Was kümmert ihn sein Weg, wie weit er ist, wohin er führt? Was der Boden, auf dem er nicht mehr steht, ob er wankt, ob er täuscht?

In den tiefen Himmel ist er gestürzt, getragen, getragen, ganz einig.

Und er tut die Augen auf, ledig der Mühe, sich irgendwo festzuhalten, irgendwo anzukleben, frei!

Seine dunkelste Stunde offenbart ihm seine größte Kraft.


Warum

Es gibt ein kleines Warum; das wächst auf der Seele wie der Schimmel auf den verdorbenen Sachen.

Es ist das Traurige des Trauernden und die Häßlichkeit seiner Leiden. Und alle Leidenden sollten schön sein.

Dieser Klagende will schwach bleiben, nicht werden und wachsen. Benutzen will er die heiligen Geschicke und die großen Dinge für sein kleines Ich. [...]

Ich weiß keine Tröstung für dein kleines Warum.

Und wenn ich dir meine Seele gäbe: du würdest sie nur benutzen, um die deine klein zu erhalten. – – – –

Ich sah einen in der Welttiefe stehen, der war wie ein Kind und war stark wie ein Kind. Er wußte, daß die Fülle um ihn her war, – was jedes Kind weiß! – und daß er nur augenklar sein müsse zum Sehen und geschickt zum Nehmen. Und er wurde überrascht mit Tröstungen, mit neuen, zuvor unbewußten Schätzen und ungekannten Freuden.

Vom Lieben und Schenken


Armut

Nur ein Gebender kann uns arm machen. Nur Liebe kann unsere Seele beugen.

Verbieten, Verneinen, Schelten trifft uns nicht wahrhaft. Dem allen können wir noch etwas entgegensetzen: unsere letzte Sehnsucht, unser Ungelöstes, unsern Anspruch auf Liebe.

Aber zu zitternder, empfangender Verwirrung beugt uns hohe, gebende, aufschließende Liebe.

In süßer, schwerer Armut kniet unsere Seele nieder, füllt die Hände und darf nichts schenken als ihr Nehmen.


Die Wertvollen

Der Wert unseres Lebens liegt nicht in unserem Wirken und Erfolg, sondern in unserm Sei und Werden.

Auch für andere sind wir nicht, was wir bewußt sein wollen, sondern was von uns ausstrahlt.

Das ist unsere tragende, hoffende Kraft, und gibt jene innere Sicherheit eines mühelosen Sichselbstgebens. Sie tut dem anderen so wohl, weil ihr jedes Gefühl der Qual und der Absicht ferne ist.

Das ist unser Adel und unsere Reinheit. Es macht dem zentral Lebenden unmöglich, dauernd in sich zu hegen, was seinem starken Selbst fremd ist. Die Wirkung seiner Persönlichkeit ist stark, weil sie rein ist von Uneignem.

Das sind die lösenden Menschen.


Was ich meine

Ich meine den großen einen Strom, der in dem tiefen Tal der Wirklichkeit dunkel leuchtend fließt.

Ich meine die Weisheit, ohne die alles Wissen Eitelkeit und unweise ist, und die tiefe Ruhe alles unruhigen Sehnens, alles tastenden, fragenden Begehrens, die tiefe Stille, die keine Antwort ist, aber auch keiner Antwort bedarf.

Ich meine die ehrliche Liebe zur Wirklichkeit, die bis anschließend Ende durchdringt, und einsam, ohne Schranken, ohne Zäune die Wahrheit schaut.

Ich meine die hohe Freiheit, die kein Verbot kennt und keines duldet. Die gut ist, weil sie stark ist.

Was dem Unfreien niedre Schwäche und schales Genießen ist, wird ihr zum atmenden Leben, zur Schönheit ohne Reue.

Ich meine die großen, großen Augen, die selig sind im Schauen, weil sie Gott schauen.