Angelus Silesius: Cherubinischer Wandersmann

Angelus Silesius: Cherubinischer Wandersmann. [1657/75] | Quelle: www.zeno.org.

Angelus Silesius (Johannes Scheffler, 1624-1677), war einer der bedeutendsten Mystiker überhaupt. In über eintausend „geistreichen Sinn- und Schlussreimen“ fasste er die Essenz des mystischen Erlebens immer wieder in konzentrierte Worte, die wie Perlen die Zeiten überdauern.

 

1. Buch


8. Gott lebt nicht ohne mich
Ich weiß, daß ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben;
Werd ich zunicht, er muß von Not den Geist aufgeben.

14. Ein Christ so reich als Gott
Ich bin so reich als Gott, es kann kein Stäublein sein,
Das ich (Mensch, glaube mir) mit ihm nicht hab gemein.

23. Die geistliche Maria
Ich muß Maria sein und Gott aus mir gebären,
Soll er mich ewiglich der Seligkeit gewähren.

25. Gott ergreift man nicht
Gott ist ein lauter Nichts, ihn rührt kein Nun noch Hier
Je mehr du nach ihm greifst, je mehr entwird er dir.

39. Die unvollkommne Gelassenheit
Wer in der Hölle nicht kann ohne Hölle leben,
Der hat sich noch nicht ganz dem Höchsten übergeben.

44. Das Etwas muß man lassen
Mensch, so du etwas liebst, so liebst du nichts fürwahr.
Gott ist nicht dies und das, drum laß das Etwas gar.

55. Der Brunnquell ist in uns
Du darfst zu Gott nicht schrein, der Brunnquell ist in dir;
Stopfst du den Ausgang nicht, er fließet für und für.

61. In dir muß Gott geboren werden
Wird Christus tausendmal zu Bethlehem geboren
Und nicht in dir, du bleibst noch ewiglich verloren.

62. Das Äußre hilft dir nicht
Das Kreuz zu Golgatha kann dich nicht von dem Bösen,
Wo es nicht auch in dir wird aufgericht, erlösen.

66. Mein Herz ist Gottes Herd
Wo Gott ein Feuer ist, so ist mein Herz der Herd,
Auf welchem er das Holz der Eitelkeit verzehrt.

71. Man muß das Wesen sein
Lieb üben hat viel Müh: wir sollen nicht allein
Nur lieben, sondern selbst, wie Gott, die Liebe sein.

72. Wie sieht man Gott
Gott wohnt in einem Licht, zu dem die Bahn gebricht;
Wer es nicht selber wird, der sieht ihn ewig nicht.

79. Gott trägt vollkommene Früchte
Wer mir Vollkommenheit, wie Gott hat, ab will sprechen,
Der müßte mich zuvor von seinem Weinstock brechen.

82. Der Himmel ist in dir
Halt an, wo laufst du hin, der Himmel ist in dir;
Suchst du Gott anderswo, du fehlst ihn für und für.

97. Mit Gott vereinigt sein ist gut für ewige Pein
Wer Gott vereinigt ist, den kann er nicht verdammen,
Er stürze sich denn selbst mit ihm in Tod und Flammen.

102. Die geistliche Goldmachung
Dann wird das Blei zu Gold, dann fällt der Zufall hin,
Wenn ich mit Gott durch Gott in Gott verwandelt bin.

104. Noch von ihr
Sobald durch Gottes Feur ich mag geschmelzet sein,
So drückt mir Gott alsbald sein eigen Wesen ein.

107. Es ist noch alles in Gott
Ists, daß die Kreatur aus Gott ist ausgeflossen:
Wie hält er sie dann noch in seiner Schoß beschlossen?

108. Die Rose
Die Rose, welche hier dein äußres Auge sieht,
Die hat von Ewigkeit in Gott also geblüht.

124. Du mußts hinwieder sein
Gott ist dir worden Mensch; wirst du nicht wieder Gott,
So schmähst du die Geburt und höhnest seinen Tod.

129. Das Böse entsteht aus dir
Gott ist ja nichts als gut: Verdammnis, Tod und Pein,
Und was man böse nennt, muß Mensch in dir nur sein.

134. Unvollkommene Gestorbenheit
Wo dich noch dies und das bekümmert und bewegt,
So bist du noch nicht ganz mit Gott ins Grab gelegt.

138. Je mehr du aus, je mehr Gott ein
Je mehr du dich aus dir kannst austun und entgießen,
Je mehr muß Gott in dich mit seiner Gottheit fließen.

140. Der Mensch ist alle Dinge
Der Mensch ist alle Ding; ists, daß ihm eins gebricht,
So kennet er fürwahr sein Reichtum selber nicht.

151. Der Mensch ist Gottes Kindbett
Da Gott das erstemal hat seinen Sohn geborn,
Da hat er mich und dich zum Kindbett auserkorn.

154. Die geheime Jungfrauschaft
Wer lauter wie das Licht, rein wie der Ursprung ist,
Derselbe wird von Gott für Jungfrau auserkiest.

157. Die wunderliche Verwandtnis Gottes
Sag an, o großer Gott, wie bin ich dir verwandt,
Daß du mich Mutter, Braut, Gemahl und Kind genannt?

163. Die Menschheit soll man lieben
Daß du nicht Menschen liebst, das tust du recht und wohl,
Die Menschheit ists, die man im Menschen lieben soll.

167. So viel du in Gott, so viel er in dir
So viel die Seel in Gott, so viel ruht Gott in ihr;
Nichts minder oder mehr, Mensch, glaub es, wird er dir.

173. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein
Das Brot ernährt dich nicht: was dich im Brote speist,
Ist Gottes ewigs Wort, ist Leben und ist Geist.

180. Ein Christ ist Kirch und alles
Was bin ich endlich doch? Ich soll die Kirch und Stein,
Ich soll der Priester Gotts und auch das Opfer sein.

182. Der Löhner ist nicht Sohn
Mensch, dienst du Gott um Gut, um Seligkeit und Lohn,
So dienst du ihm noch nicht aus Liebe wie ein Sohn.

185. Der Ort ist selbst in dir
Nicht du bist in dem Ort, der Ort, der ist in dir;
Wirfst du ihn aus, so steht die Ewigkeit schon hier.

189. Der Mensch, der macht die Zeit
Du selber machst die Zeit, das Uhrwerk sind die Sinnen;
Hemmst du die Unruh nur, so ist die Zeit von hinnen.

191. Wer Gott soll schaun, muß alles sein
Wer selbst nicht alles ist, der ist noch zu geringe,
Daß er dich sehen soll, mein Gott, und alle Dinge.

203. Immer dasselbige
Ich ward das, was ich war, und bin, was ich gewesen,
Und werd es ewig sein, wenn Leib und Seel genesen.

206. Wie heißt der neue Mensch?
Willst du den neuen Mensch und seinen Namen kennen,
So frage Gott zuvor, wie er pflegt sich zu nennen.

211. Das Himmelreich ist der Gewaltsamen
Nicht Gott gibts Himmelreich: du selbst mußts zu dir ziehn
Und dich mit ganzer Macht und Eifer drum bemühn.

218. Das göttliche Sehen
Wer in dem Nächsten nichts als Gott und Christum sieht,
Der siehet mit dem Licht, das aus der Gottheit blüht.

252. Die göttliche Kindschaft
Ist Gottes Gottheit mir nicht inniglich gemein,
Wie kann ich dann sein Kind und er mein Vater sein?

257. Die Dreieinigkeit in der Natur
Daß Gott dreieinig ist, zeigt dir ein jedes Kraut,
Da Schwefel, Salz, Merkur in einem wird geschaut.

274. Der Zufall muß hinweg
Der Zufall muß hinweg und aller falsche Schein;
Du mußt ganz wesentlich und ungefärbet sein.

281. Seine Gebote sind nicht schwer
Mensch, lebest du in Gott und stirbest deinem Willen,
So ist dir nichts so leicht, als sein Gebot erfüllen.

284. Über alle Erkenntnis soll man kommen
Was Cherubin erkennt, das mag mir nicht genügen.
Ich will noch über ihn, wo nichts erkannt wird, fliegen.

285. Das Erkennende muß das Erkannte werden
In Gott wird nichts erkannt: er ist ein einig Ein,
Was man in ihm erkennt, das muß man selber sein.

2. Buch


9. Das Weib auf dem Monde
Was sinnest du so tief? Das Weib im Sonnenschein,
Das auf dem Monden steht, muß deine Seele sein.

22. Erheb dich über dich
Der Mensch, der seinen Geist nicht über sich erhebt,
Der ist nicht wert, daß er im Menschenstande lebt.

30. Zufall und Wesen
Mensch, werde wesentlich; denn wenn die Welt vergeht,
So fällt der Zufall weg, das Wesen, das besteht.

44. Was Menschheit ist
Fragst du, was Menschheit sei? Ich sage dir bereit,
Es ist mit einem Wort die Überengelheit.

53. Es mangelt nur an dir
Ach könnte nur dein Herz zu einer Krippe werden,
Gott würde noch einmal ein Kind auf dieser Erden.

85. Dein Kerker bist du selbst
Die Welt, die hält dich nicht, du selber bist die Welt,
Die dich in dir mit dir so stark gefangen hält.

103. Die geistliche Geburt
Berührt dich Gottes Geist mit seiner Wesenheit,
So wird in dir geborn das Kind der Ewigkeit.

142. Du mußt es selber sein
Frag nicht, was göttlich sei; denn so du es nicht bist,
So weißt du es doch nicht, ob dus gleich hörst, mein Christ.

166. Die Bosheit hat kein Wesen
Mensch, wenn du durch das Blut des Lammes bist genesen,
So bist du ewiglich kein böser Mensch gewesen.

207. Gott ist in dir das Leben
Nicht du bist, der da lebt: denn das Geschöpf ist tot;
Das Leben, das in dir dich leben macht, ist Gott.

215. Man muß sich recht bequemen
Wer sich zum Aufgang kehrt und wart auf seinen Gott,
In dem kommt bald herfür das gnädge Morgenrot.

217. Der achtmal Selige
Sei hungrig, arm und sanft, barmherzig, friedlich, rein,
Betrübt, verfolgt um Gott, so kannst du selig sein.

226. Die Taufe
Ach Sünder trotze nicht, daß du getaufet bist;
Die schönste Lilie wird im Kot zu Kot und Mist.

257. Du auch mußt für ihn sterben
Des Herren Christi Tod hilft dir nicht eh, mein Christ,
Bis auch du selbst für ihn in ihm gestorben bist.

3. Buch


3. An die Jungfrau Maria
Sag an, o werte Frau, hat dich nicht auserkorn
Die Demut, daß du Gott empfangen und geborn?
Sag, obs was anders ist? damit auch ich auf Erden
Kann eine Magd und Braut und Mutter Gottes werden.

6. Die Gottes gewürdigte Einfalt
Denkt doch, was Demut ist! seht doch, was Einfalt kann!
Die Hirten schauen Gott am allerersten an.
Der sieht Gott nimmermehr, noch dort noch hier auf Erden,
Der nicht ganz inniglich begehrt, ein Hirt zu werden.

8. Die selige Nachtstille
Merk, in der stillen Nacht wird Gott, ein Kind, geborn
Und wiederum ersetzt, was Adam hat verlorn.
Ist deine Seele still und dem Geschöpfe Nacht,
So wird Gott in dir Mensch und alles wiederbracht.

26. Der Mensch das Würdigste
Gott, weil er wird ein Mensch, zeigt mir, daß ich allein
Ihm mehr und werter bin, als alle Geister sein.

29. Das Große im Kleinen
Du sprichst, das Große kann nicht in dem Kleinen sein,
Den Himmel schließt man nicht ins Erdenstüpfchen ein.
Komm, schau der Jungfraun Kind, so siehst du in der Wiegen
Den Himmel und die Erd und hundert Welten liegen.

32. Der Himmel wird zur Erden
Der Himmel senket sich, er kommt und wird zur Erden.
Wann steigt die Erd empor und wird zum Himmel werden?

33. Wenn Gott empfangen wird
Alsdann empfängst du Gott, wenn seines Geistes Güte
Beschattet seine Magd, die Jungfrau, dein Gemüte.

53. Was Gott am liebsten ist
Nichts ist, das Gott so sehr als eine Jungfrau liebt,
Daß er auch ihr sich selbst zur Frucht und Kind ergibt.
Willst du sein Liebstes sein noch hier auf dieser Erden,
So darfst du anders nichts als eine Jungfrau werden.

124. Die geistliche Drachenstürzung
Wenn du aus dir verjagst die Sünd und ihr Getümmel,
So wirft St. Michael den Drachen aus dem Himmel.

125. Die Hoffart und Demut
Die Hoffart wird gehaßt, die Demut wird geliebt,
Und doch ist kaum ein Mensch, der sie vor jener übt.

129. Der gerade Weg zum Leben
Wenn du willst grades Wegs ins ewge Leben gehn,
So laß die Welt und dich zur linken Seiten stehn.

136. Mittel zur Heiligkeit
Dein Geist sei aufgespannt, dein Herze leer und rein,
Demütig deine Seel, so wirst du heilig sein.

148. Gott ist mein Punkt und Kreis
Gott ist mein Mittelpunkt, wenn ich ihn in mich schließe;
Mein Umkreis dann, wenn ich aus Lieb in ihn zerfließe.

166. Das Kreuze
Vor Zeiten war das Kreuz die größte Schmach und Hohn;
Nun trägts der Kaiser selbst auf seinem Haupt und Kron.

201. Gott gibt gern große Gaben
Gott, weil er groß ist, gibt am liebsten große Gaben;
Ach, daß wir Arme nur so kleine Herzen haben!

236. Des Teufels, Engels, Menschen und Viehes Kennzeichen
Die Teufel lästern Gott, das Vieh, das acht ihn nicht,
Die Menschen lieben ihn, die Engel schaun sein Licht
Stets unverwendet an. Aus diesen kannst du kennen,
Wen du sollst Engel, Mensch, Vieh oder Teufel nennen.

244. Sei niemals sicher
Ach, Jungfrau, sieh dich vor; denn wenn du Mutter worden,
So suchet stracks der Feind dein Kindlein zu ermorden.

4. Buch


56. Die geheime Himmelfahrt
Wenn du dich über dich erhebst und läßt Gott walten,
So wird in deinem Geist die Himmelfahrt gehalten.

114. Ein Lamm bezwingt den Drachen
Vertraue Gott, der Drach wird leichtlich überwunden,
Hat ihn doch nur ein Lamm gefället und gebunden.

140. Das edelste Gebet
Das edelste Gebet ist, wenn der Beter sich
In das, vor dem er kniet, verwandelt inniglich.

155. Wie Gott im Menschen
Mehr als die Seel im Leib, Verstand in dem Gemüte
Ist Gottes Wesenheit in dir und deiner Hütte.

183. Was du willst, ist alles in dir
Mensch, alles was du willst, ist schon zuvor in dir;
Es lieget nur an dem, daß dus nicht wirkst herfür.

191. Wie man alles auf einmal läßt
Freund, wenn du auf einmal die ganze Welt willst lassen,
So schau nur, daß du kannst die eigne Liebe hassen.

197. Was Gott vom Menschen fordert
Gott fordert nichts von dir, als daß du ihm sollst ruhn;
Tust du dies, so wird er das andre selber tun.

215. Die Zeit begreift nicht die Ewigkeit
Solange dir, mein Freund, im Sinn liegt Ort und Zeit,
So faßt du nicht, was Gott ist und die Ewigkeit.

216. Die empfängliche Seel
Die Seel, die Jungfrau ist und nichts als Gott empfängt,
Kann Gottes schwanger sein, so oft sie dran gedenkt.

5. Buch


8. Die geheime Kronenzahl
Zehn ist die Kronenzahl, sie wird aus eins und nichts.
Wenn Gott und Kreatur zusammen komm'n, geschichts.

62. Des Menschen größter Schatz
Der größte Schatz nach Gott ist guter Will auf Erden;
Ist alles gleich verlorn, durch ihn kanns wieder werden.

64. Wir dienen uns, nicht Gott
Mensch, Gott ist nichts gedient mit Fasten, Beten, Wachen.
Du dienst mehr dir damit, weils dich kann heilig machen.

72. Gott ist allem gleich nahe
Gott ist dem Beelzebub nah wie dem Seraphin,
Nur daß Beelzebub den Rücken dreht auf ihn.

73. Gott kann sich nicht entziehn
Gott kann sich nicht entziehn, er wirket für und für,
Fühlst du nicht seine Kraft, so gib die Schuld nur dir.

77. An den Sünder
Du schreiest auf den Dieb und schiltst ihn unverhohlen.
Schweig, du hast Gott viel mehr als er der Welt gestohlen.

180. Gott kommt nur in keusche Herzen
Den Bräutgam deiner Seel verlanget einzuziehen,
Blüh auf! er kommet nicht, bis daß die Lilien blühen.

201. Die wohlgeordnete Liebe
Liebst du Gott über dich, den Nächsten wie dein Leben,
Was sonst ist unter dir, so liebst du recht und eben.

226. Die Natur der Heiligkeit
Der Heiligkeit Natur ist lauter Lieb, o Christ;
Je lauterer du liebst, je heiliger du bist.

229. Anmaßung ist der Fall
Mensch, ist was Guts in dir, so maße dichs nicht an,
Sobald du dirs schreibst zu, so ist der Fall getan.

230. Das Böse ist deine
Das Gute kommt aus Gott, drum ists auch sein allein;
Das Bös' entsteht aus dir, das laß du deine sein.

235. Die Ewigkeit ist uns angeboren
Die Ewigkeit ist uns so innig und gemein,
Wir wolln gleich oder nicht, wir müssen ewig sein.

259. Gott wird Ich, weil ich vor Er war
Gott wird, was ich jetzt bin, nimmt meine Menschheit an;
Weil ich vor Er gewest, drum hat er es getan.

261. Gott ist in allen Dingen und doch keinem gemein
Das Wesen Gottes macht sich keinem Ding gemein
Und muß notwendig doch auch in den Teufeln sein.

270. Alles Heil von Gott
Aus Liebe wird Gott Ich, ich aus Genaden Er,
So kommt ja all mein Heil nur bloß von ihme her.

271. Wenn du nicht Mensch bist, ist es Gott
Wenn du nicht Mensch mehr bist und dich verleugnet hast,
So ist Gott selber Mensch und träget deine Last.

273. Wo Christus nicht wirkt, da ist er nicht
Freund, wo nicht Christus wirkt, da ist er auch noch nicht,
Obgleich der Mensch von ihm viel singet oder spricht.

277. Der Gerechte hat kein Gesetz
Für Bös' ist das Gesetz; wär kein Gebot geschrieben,
Die Frommen würden doch Gott und den Nächsten lieben.

284. Gott kommt, eh du ihn begehrest
Wenn dich nach Gott verlangt und wünschst sein Kind zu sein,
Ist er schon vor in dir und gibt dir solches ein.

303. Kennzeichen der falschen Liebe
Willst du die falsche Lieb von wahrer unterscheiden,
So schau, sie sucht sich selbst und fället ab in Leiden.

328. Gott betrübt die Sünde nicht
Gott tut die Sünde weh in dir als seinem Sohn,
In seiner Gottheit selbst, da fühlt er nichts davon.

341. Wo die Zeit am längsten
Je weiter man von Gott, je tiefer in der Zeit;
Drum ist den Höllischen ein Tag ein Ewigkeit.

6. Buch


17. Eine Begierde löscht die andere aus
Je mehr ein Mensch sich freut auf zeitlich Ehr und Gut,
Je weniger hat er zu ewgen Dingen Mut.
Je mehr hingegen er wart auf die ewgen Dinge,
Je mehr und mehr wird ihm das Zeitliche geringe.

51. Die schnödste Dirne
Mensch, läßt du dich dein Fleisch beherrschn und nehmen ein,
So muß wohl deine Seel die schnödste Dirne sein.

65. Die zwei wunderlichen Toren
Ach Jammer, jener rennt, daß er in Abgrund kömmt,
Und dieser regt sich kaum, daß er Gotts Burg einnimmt!

119. Das göttliche und ungöttliche Gemüt
Ein göttliches Gemüt steht stets nach Gott gericht;
Nichts Göttlichs ist an dir, verlangt dich nach ihm nicht.

138. Der gröbste Bauer
Du schmückst dich, wenn du sollst nachs Kaisers Hofe gehn,
Und denkst, o gröbster Baur, ohn Schmuck vor Gott zu stehn?

157. Wie man sich zu Gott kehrt
Mit heiliger Begier und nicht mit bloßem Beten,
Mit heilgem Lebenslauf kommt man zu Gott getreten.

165. Gib, wie du begehrst
Mensch, du begehrst von Gott das ganze Himmelreich;
Bitt man von dir ein Brot, so wirst du blaß und bleich.

168. Der Weise hat nichts im Kasten
Ein weiser Mann hat nichts im Kasten oder Schrein;
Was er verlieren kann, schätzt er nicht seine sein.

173. Im Meer ist auch ein Tröpflein Meer
Im Meer ist alles Meer, auchs kleinste Tröpfelein;
Sag, welche heilge Seel in Gott nicht Gott wird sein?

191. Welt verlassen, wenig verlassen
Die ganze Welt ist nichts; du hast nicht viel veracht,
Wenn du gleich hast die Welt aus deinem Sinn gebracht.

192. Sich verlassen ist etwas verlassen
Du selber mußt aus dir. Wenn du dich selbst wirst hassen,
Dann schätz ich dich, daß du erst etwas hast verlassen.

215. Man muß sich von oben herab ansehn
Du dünkst dich viel zu sein. Ach! wärst du über dir
Und schautest dich dann an, du sähst ein schlechtes Tier.

220. Aus dem Beschaun entsteht die Liebe
Die Liebe folgt aufs Schaun, Schau an die ewgen Dinge,
So liebst du sie alsbald und hältst sonst alls geringe.

227. Der Weisen Kränkung
Der Weis' ist stets in Freud, er wird von nichts betrübt;
Dies einzige kränkt ihn nur, daß Gott nicht wird geliebt.

263. Beschluß
Freund, es ist auch genug. Im Fall du mehr willst lesen,
So geh und werde selbst die Schrift und selbst das Wesen.