Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat

aus: H.D. Thoreau: Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat und andere Essays. Diogenes, 1973. | Zwischenüberschriften und Hervorhebungen H.N.

1. Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat (1849)

Ich habe mir den Wahlspruch zu eigen gemacht: „Die beste Regierung ist die, welche am wenigsten regiert“; und ich sähe gerne, wenn schneller und gründlicher nach ihm gehandelt würde. Wenn er verwirklicht wird, dann läuft es auf dies hinaus – und daran glaube ich auch: „Die beste Regierung ist die, welche gar nicht regiert“; und wenn die Menschen einmal reif dafür sein werden, wird dies die Form ihrer Regierung sein. Eine Regierung ist bestenfalls ein nützliches Instrument; aber die meisten Regierungen sind immer – und alle sind manchmal – unnütz. [...]

Was ist die amerikanische Regierung anderes als eine Tradition – und noch dazu eine recht junge –, die danach strebt, sich selbst ohne Machteinbuße für die Nachwelt zu erhalten, die dabei aber in jedem Augenblick mehr von ihrer Glaubwürdigkeit verliert? [...]

Ich will sachlich reden, und nicht wie die Leute, die sich überhaupt gegen jede Regierung erklären. Ich sage nicht: von jetzt an keine Regierung mehr, sondern: von jetzt an eine bessere Regierung. Jedermann soll erklären, vor wel­cher Art von Regierung er Achtung haben könnte, und das wird ein Schritt auf dem Weg zu ihr sein. [...]

Könnte es nicht eine Regierung geben, in der nicht die Mehrheit über Falsch und Richtig befindet, sondern das Gewissen? – in der die Mehrheit nur solche Fragen entscheidet, für die das Gebot der Nützlich­keit gilt? Muß der Bürger auch nur einen Augenblick, auch nur ein wenig, sein Gewissen dem Gesetzgeber überlassen? Wozu hat denn dann jeder Mensch ein Gewissen? Ich finde, wir sollten erst Menschen sein, und danach Untertanen. Man sollte nicht den Respekt vor dem Gesetz pflegen, son­dern vor der Gerechtigkeit. Nur eine einzige Verpflichtung bin ich berechtigt einzugehen, und das ist, jederzeit zu tun, was mir recht erscheint. Man sagt, daß vereinte Masse kein Gewissen hat – und das ist wahr genug; gewissenhafte Menschen aber verbinden sich zu einer Vereinigung mit Gewissen. Das Gesetz hat die Menschen nicht um ein Jota gerechter gemacht; gerade durch ihren Respekt vor ihm werden auch die Wohlgesinnten jeden Tag zu Handlangern des Unrechts. [...]

Die Mehrzahl der Menschen dient also dem Staat mit ihren Körpern nicht als Menschen, sondern als Maschinen. Sie bilden das stehende Heer und die Miliz, die Gefäng­niswärter, die Konstabler, Gendarmen etc. In den meisten Fällen bleibt da kein kaum mehr für Urteil oder morali­sches Gefühl; sie stehen auf derselben Stufe wie Holz und Steine; vielleicht könnte man Holzmänner herstellen, die ebenso zweckdienlich wären. [...] Andere, wie die meisten Gesetzgeber, Politiker, Advokaten, Pfarrer und Würdenträger dienen dem Staat vor allem mit ihren Köpfen; doch weil sie selten moralische Unter­schiede machen, könnten sie – ohne es zu wollen – ebenso­wohl dem Teufel dienen wie Gott. Nur wenige Helden, Patrioten, Märtyrer, wirkliche Reformer und Männer, die­nen dem Staat auch mit dem Gewissen; sie werden gewöhn­lich von ihm als Feinde behandelt. [...]

Von der Bequemlichkeit der eigenen Meinung

Alle Menschen bekennen sich zum Recht auf Revolution; das heißt zu dem Recht, der Regierung die Gefolgschaft zu verweigern und ihr zu widerstehen, wenn ihre Tyrannei oder ihre Untüchtigkeit zu groß und unerträglich wird. Aber fast alle sagen, das sei jetzt nicht der Fall. [...]

Wir sagen gewöhnlich, die Masse der Menschen sei unreif; aber dieser Zustand bessert sich nur deshalb so langsam, weil die ‚Wenigen’ nicht wesent­lich besser oder klüger sind als die ‚Vielen’. Es ist nicht so wichtig, daß die große Menge ebenso gut ist wie ihr, sondern daß es überhaupt irgendwo vollkommene Güte gibt; denn das wird die Masse mitreißen. Es gibt Tausende, die im Prinzip gegen Krieg und Sklaverei sind und die doch praktisch nichts unternehmen, um sie zu beseitigen; die sich auf den Spuren Washingtons oder Franklins glauben und zugleich ruhig sitzen bleiben, die Hände in den Taschen, sagen, sie wüßten nicht, was zu tun sei, und eben auch nichts tun; Menschen, für die die Frage der Freiheit hinter der des Freihandels zurücktritt und die nach dem Essen in aller Ruhe die Tagespreise zugleich mit den letzten Nachrichten aus Mexiko lesen und vielleicht über dieser Lektüre ein­schlafen. Wie hoch steht heute wohl der Tagespreis für einen Ehrenmann oder Patrioten? Sie zögern, sie bedauern, und manchmal unterschreiben sie auch Bittschriften, aber sie tun nichts ernsthaft und wirkungsvoll. Sie warten – wohlsituiert –, daß andere den Übelstand abstellen, damit sie nicht mehr daran Anstoß nehmen müssen. Höchstens geben sie ihre Stimme zur Wahl, das kostet nicht viel, und der Gerechtigkeit geben sie ein schwaches Kopfnicken und die besten Wünsche mit auf den Weg, während sie an ihnen vorübergeht. Es gibt neunhundertneunundneunzig Gönner der Tugend auf einen tugendhaften Mann. [...]

Wie kann sich jemand nur damit zufriedengeben, daß er eine Meinung hat! Was für eine Genugtuung liegt darin, wenn es seine Meinung ist, daß er bedrückt sei? Wenn dein Nachbar dich auch nur um einen Dollar betrügt, dann genügt es dir nicht, zu wissen, daß du betrogen worden bist, auch nicht, ihm eine Bittschrift zuzustellen, er möge dir die Schuld zurückzahlen; vielmehr wirst du wirksame Schritte unternehmen, um sofort die ganze Summe zurückzube­kommen und die Gewähr, daß du nicht wieder betrogen werden wirst. Wer nach Grundsätzen handelt, das Recht wahrnimmt und es in Taten umsetzt, verändert die Dinge und Verhältnisse; dies ist das Wesen des Revolutionären, es gibt sich nicht mit vergangenen Zuständen zufrieden. Es trennt nicht nur Staaten und Kirchen, es spaltet Familien. Ja, es spaltet den Einzelmenschen, indem es das Teuflische in ihm von dem Göttlichen scheidet.

Es gibt ungerechte Gesetze: sollen wir ihnen befriedigt gehorchen, oder sollen wir es auf uns nehmen, sie zu bessern, und ihnen nur so lange gehorchen, bis wir das erreicht haben, oder sollen wir sie vielleicht sofort übertreten? Die Leute glauben im allgemeinen, unter einer Regierung, wie wir sie jetzt haben, sollten sie warten, bis sie die Mehrheit zu den Änderungen überredet haben. Wenn sie Widerstand leisteten, so glauben sie, wäre die Kur schlimmer als die Krankheit. Aber es ist die Regierung, die allein schuld hat, daß die Kur schlimmer als die Krankheit ist. Sie macht sie schlimmer. Warum tut sie nicht mehr dafür, Reformen vor­zusehen und einzuleiten? Warum achtet sie nicht auf ihre verständige Minderheit? Warum muß sie lärmen und sich sträuben, bevor sie noch Schaden gelitten hat? Warum ermutigt sie die Bürger nicht, wachsam zu sein und ihre Fehler anzuzeigen und ihr damit Besseres zu tun, als an ihnen getan wurde? Warum wird Christus immer aufs neue gekreuzigt, Kopernikus und Luther exkommuniziert und Washington und Franklin noch immer zu Rebellen erklärt? [...]

Das ganze Gewicht einer Minderheit

Unter einer Regierung, die irgend jemanden unrecht­mäßig einsperrt, ist das Gefängnis der angemessene Platz für einen gerechten Menschen. Der rechte Platz, der einzige, den Massachusetts seinen freieren und weniger kleinmütigen Geistern anzubieten hat, ist eben das Gefängnis, wo sie von Staates wegen ausgesetzt und ausgeschlossen werden, nachdem sie sich durch ihre Grundsätze schon selbst ausge­schlossen haben. Der entflohene Sklave, der mexikanische Kriegsgefangene auf Parole und der Indianer mit seinen Anklagen gegen das Unrecht, das man seiner Rasse zuge­fügt: nur hier sollen sie ihn finden, im Gefängnis; auf die­sem abgeschiedenen, aber freieren und ehrbareren Boden, wo der Staat jene hinbringt, die nicht mit ihm, sondern gegen ihn sind: es ist das einzige Haus in einem Sklaven­staat, das ein freier Mann in Ehren bewohnen kann.

Viel­leicht glauben manche, daß sie dort ihren Einfluß verlieren, daß ihre Stimme das Ohr des Staates nicht mehr erreicht, sie glauben, daß ihre Feindschaft innerhalb dieser Mauern unwirksam wäre – aber sie wissen nicht, um wieviel die Wahrheit stärker ist als der Irrtum und wieviel ausdrucks­voller und wirksamer sie die Ungerechtigkeit bekämpfen können, wenn sie sie nur ein bißchen an sich selbst erfahren haben. Lege in deine Stimme das ganze Gewicht, wirf nicht nur einen Papierzettel, sondern deinen ganzen Ein­fluß in die Waagschale. Eine Minderheit ist machtlos, wenn sie sich der Mehrheit anpaßt; sie ist dann noch nicht einmal eine Minderheit; unwiderstehlich aber ist sie, wenn sie ihr ganzes Gewicht einsetzt.

Vor der Wahl, ob er alle anständigen Menschen im Gefängnis halten oder Krieg und Sklaverei aufgeben soll, wird der Staat mit seiner Ant­wort nicht zögern. Wenn tausend Menschen dieses Jahr kei­ne Steuern bezahlen würden, so wäre das keine brutale und blutige Maßnahme – das wäre es nur, wenn sie sie zahl­ten und damit dem Staat erlaubten, Brutalitäten zu be­gehen und Blut zu vergießen. Das erstere ist, was wir unter einer friedlichen Revolution verstehen – soweit sie möglich ist. Wenn nun aber – wie es geschehen ist – der Steuer­einnehmer oder irgendein anderer Beamter mich fragt: „Was soll ich aber jetzt tun?“, so ist meine Antwort: „Wenn du wirklich etwas tun willst, dann gib dein Amt auf.“

Wenn einmal der Untertan den Gehorsam verweigert und der Beamte sein Amt niedergelegt hat, dann hat die Revolution ihr Ziel erreicht. Doch nehmt ruhig an, daß dabei auch Blut vergossen werden müßte. Wird denn nicht gewisser­maßen Blut vergossen, wenn das Gewissen verletzt ist? Durch diese Wunde fließt das wahre Menschentum eines Mannes und seine Unsterblichkeit, und er verblutet zu immerwährendem Tod. Heute sehe ich dieses Blut fließen. [...]

2. Leben ohne Prinzipien (1863)

[...] Vielleicht bin ich, was meine Freiheit betrifft, eifersüch­tiger, als es üblich ist. Ich finde, daß meine Beziehungen zur Gesellschaft und meine Verpflichtung gegen sie sehr gering, und flüchtig sind. Die spärlichen Leistungen, die mir den Lebensunterhalt einbringen und durch welche ich bis zu einem gewissen Grade den Mitbürgern dienlich sein kann, sind bisher meistens ein Vergnügen für mich, und ich werde nicht oft daran erinnert, daß sie eine Notwendigkeit sind. Bis jetzt bin ich erfolgreich. Aber ich kann voraussehen, daß, wenn meine Bedürfnisse stark zunehmen würden, die zu ihrer Befriedigung nötige Arbeit eine Plackerei werden würde. Wenn ich der Gesellschaft meine Vormittage und meine Nachmittage verkaufte, wie es offenbar die meisten tun, würde für mich gewiß nichts mehr übrigbleiben, für das es sich lohnt zu leben. Ich hoffe fest, daß ich nie auf diese Weise mein Erstgeburtsrecht gegen ein Linsengericht verkaufen werde. [...]

Wenn ich vorurteilslos reden soll: die besten Menschen, die ich kenne, sind nicht abgeklärt, sie sind nicht: eine Welt für sich. Zum großen Teil gefallen sie sich in Formalien, sie schmeicheln und möchten Eindruck machen – nur tun sie es subtiler als die übrigen. Für die Grundmauern unserer Häuser wählen wir Granit; wir bauen Mauern aus Stein; aber wir selbst ruhen nicht auf Grundsteinen von grani­tener Wahrheit, auf dem tiefsten urtümlichsten Felsen. Un­sere Grundschwellen sind verfault. Aus was für einem Zeug ist der Mensch gemacht, der in unseren Gedanken nicht eins ist mit der reinsten und feinsten Wahrheit? Oft beschuldige ich meine engsten Bekannten einer ungeheuren Frivolität; zwar gibt es Manieren und Höflichkeiten, an die wir uns nicht halten – vor allem aber lehren wir einander nicht die Lektionen der Ehrlichkeit und Ernsthaftigkeit wie einfache Menschen, und nicht diejenigen der Ausdauer und Festigkeit wie die Felsen. [...]

Wir treffen selten einen Menschen, der uns ir­gendwelche Neuigkeiten erzählen könnte, die er nicht in der Zeitung oder vom Nachbarn erfahren hat; und im großen ganzen liegt der ganze Unterschied zwischen uns und unserem Freund darin, daß er die Zeitung gelesen hat oder zum Tee geladen war – und wir nicht. In dem Maß, in dem unser inneres Leben versagt, gehen wir hartnäckiger und verzweifelter zum Postamt. Du kannst dich darauf verlassen: der arme Kerl, der mit dem größten Haufen Briefe abzieht, stolz auf seine ausgedehnte Korrespondenz, der hatte lange keine Nachricht von sich selber.

Ich weiß nicht, aber es ist wohl schon zu viel, eine Zeitung in der Woche zu lesen. Neulich hab ich das ver­sucht, und mir scheint, daß ich seitdem nicht in meiner heimatlichen Gegend gewohnt habe. Die Sonne, die Wolken, der Schnee, die Bäume erzählen mir nicht mehr soviel. Man kann nicht zwei Herren dienen. Man braucht mehr als nur einen Tag der Hingabe, um den Reichtum des Tages zu kennen und zu besitzen. [...]

Von der inneren Leere

Wenn es dir genügt, nur in der dünnen Schicht zu leben, zu gehen und zu existieren, worin die ‚nachrichtenwürdigen’ Ereignisse sich ausschwitzen, dann werden eben diese Dinge für dich die Welt ausfüllen; wenn du dich aber über diese Schicht erhebst oder unter sie tauchst, wirst du nicht mehr an sie denken, noch an sie erinnert werden. Wirklich, wenn man täglich die Sonne auf‑ und untergehen sieht und so an einem kosmischen Er­eignis teilhat, so bleibt die Gesundheit für immer erhal­ten. [...]

Nicht ohne ein leichtes Schaudern vor der Gefahr be­merke ich oft, daß ich nahe daran war, die Details irgend­einer kleinlichen Affäre in meinen Geist einzulassen – Nach­richten von der Straße; und ich bin erstaunt zu sehen, wie gerne die Menschen sich mit solchem Unrat belasten – müßige Gerüchte und Vorkommnisse der unbedeutend­sten Art in ein Gebiet eindringen zu lassen, das ein Heilig­tum des Gedankens sein sollte. Soll der Geist ein öffent­licher Schauplatz sein, wo vornehmlich die Angelegenheiten der Straße und der Teetische erörtert werden? Oder soll er ein Bezirk des Himmels sein, ein offener Tempel, dem Dienst an den Göttern geweiht? Mir fällt es so schwer Tatsachen abzutun, die mir wichtig sind, daß ich zögere, mich mit solchen zu belasten, die unwichtig sind und allen­falls von einem göttlichen Gehirn erleuchtet werden könn­ten. Von der Art sind meistens die Nachrichten der Zeitung und des Gesprächs. Es ist sehr wichtig, in dieser Hinsicht die Unschuld des Geistes zu bewahren. Bedenke nur, du könntest die Details eines einzigen Falles aus einem Straf­gericht in deine Gedanken aufnehmen, sie ganz profan eine Stunde lang durch das Allerheiligste stampfen lassen – oder gar für mehrere Stunden! Aus den innersten Bezirken des Geistes eine Kneipe machen, als ob der Staub der Straße uns so lange beschäftigt hätte – ja die Straße selbst mit ihrem Verkehr, Gehaste, Dreck über den Altar der Ge­danken hinweggegangen wäre! Wäre das nicht geistiger und moralischer Selbstmord? [...]

Ich glaube, der Geist kann endgültig entwürdigt werden durch die Ge­wohnheit, sich um triviale Sachen zu kümmern, so daß alle unsere Gedanken von Gewöhnlichkeit durchtränkt werden. Sogar unser Intellekt soll gewissermaßen noch zum Straßenschotter, sein Fundament soll in Stücke gebrochen werden, damit Räder darüberrollen können; und wenn du wissen willst, was die härtesten Pflaster ergibt – härter noch als Rollkies, Fichtenklötze, Asphalt –, dann brauchst du bloß einmal in einige der Köpfe zu schauen, die lange genug die­ser Behandlung unterzogen worden sind.

Wenn wir uns so entwürdigt haben – und wer hat das noch nicht? –, dann wird Heilung nur aus der Hingabe und dem Willen kommen, diese Würde wiederherzustellen und wieder einen Tempel für unseren Geist aus uns zu machen. Diesen unseren Geist, also uns selbst, sollten wir behandeln wie unschuldige und phantasievolle Kinder, die wir ja auch behüten, und wir sollten aufpassen, welche Ge­genstände und welche Gedanken wir ihnen anempfeh­len. Lies nicht die ‚Times’ (‚Zeit’). Lies die Ewigkeit. Trivialitäten sind auf die Dauer genauso schlimm wie Schmutz.

Sogar die Fakten der Wissenschaft können den Geist verstauben lassen – trocken, wie sie sind –, wenn man ihnen nicht gewissermaßen jeden Morgen das Gesicht abreibt, oder besser, wenn nicht der Tau der frischen, lebendigen Wahrheit sie fruchtbar erhält. Wissen erhalten wir nicht im Detail, sondern als Lichtblitze vom Himmel. [...]

Politik als Gegenteil wahren Menschentums

Man sagt, Amerika sei die Arena, in welcher der Kampf um die Freiheit ausgefochten wird; aber gewiß kann nicht nur die Freiheit im politischen Sinn gemeint sein. Wenn wir auch zugeben, daß der Amerikaner sich von einem poli­tischen Tyrannen befreit hat, so ist er doch immer noch der Sklave eines ökonomischen und eines moralischen Tyran­nen. Nachdem jetzt die Republik – die res publica – auf­gerichtet worden ist, wird es Zeit, daß man sich um die res privata – den Zustand des Einzelnen – kümmert, denn man soll darauf achten, „ne quid res privata de­trimenti caperet“ – wie der römische Senat seine Konsuln beschuldigte –, also, daß „nicht die Sache des Einzelnen Schaden leide“.

Nennen wir dies nicht das Land der Freien? Was be­deutet es, von König Georg frei zu sein, aber weiterhin Sklave von König Vorurteil? Was bedeutet es, frei geboren zu sein, aber nicht frei zu leben? Welchen Wert hat po­litische Freiheit, wenn sie nicht Mittel ist für moralische Freiheit? [...]

Wenn es sich um wahre Kultur und wahres Menschen­tum handelt, sind wir noch immer großenteils Provinzler, nicht urban, sondern nur Tran. Wir sind provinziell, weil wir unsere Maßstäbe nicht bei uns haben; weil wir nicht die Wahrheit verehren, sondern nur ihren Abglanz; weil wir engherzig und verbogen sind, da wir uns ausschließlich mit dem Handel und Geschäft und Produktion und Agri­kultur beschäftigen, welche die Mittel sind, aber nicht der Zweck. [...]

Was man Politik nennt, das ist vergleichsweise etwas so Oberflächliches und Unmenschliches, daß ich praktisch niemals bemerkt habe, daß sie mich überhaupt angeht. Wie ich sehe, widmen die Zeitungen einige Spalten speziell der Politik – gratis; und man könnte sagen: das ist alles, was davon übrigbleibt; da ich aber die Literatur liebe und bis zu einem gewissen Grade auch die Wahrheit, lese ich diese Spalten nie – für keinen Preis. Ich will nicht mei­nen Sinn für das Richtige abstumpfen. [...]

Ich gebe zu, daß diese Dinge, die heute die Aufmerk­samkeit der Menschen zur Hauptsache beanspruchen, wie Politik und die kleinen Alltagsgeschäfte, lebenswichtige Funk­tionen der menschlichen Gesellschaft sind; aber sie sollten automatisch, unbewußt erledigt werden wie die entspre­chenden Funktionen des physischen Körpers. Sie sind untermenschlich, eine Art von Pflanzenwuchs. Manchmal erwache ich, was diese Dinge rings um mich betrifft, zu einem Halb-­Bewußtsein, so wie jemand sich plötzlich der Vorgänge seiner Verdauung bewußt wird, wenn er sehr krank ist und Dyspepsie hat – wie man das nennt.

Es ist, als ob ein Denker sich im großen Magen der Schöpfung zermahlen ließe. Politik ist sozusagen der Magen der Gesellschaft, vol­ler Sand und Kieselsteine, und die beiden politischen Par­teien sind seine gegenüberliegenden Hälften – vielleicht manchmal auch weiter zerteilt in Viertel, von denen eine sich an der anderen reibt. Nicht nur der Einzelne, sondern auch Staaten haben also nachweislich Verdauungsstörungen, die sich, ihr wißt schon durch welche Art von geräuschvoller Sprache äußern. [...]