Ernst Wiechert: Wälder und Menschen

aus: Ernst Wiechert: Wälder und Menschen. Eine Jugend. Ullstein, 1970.


Inhalt

Ursprung und Lebensraum | Ahnung und Anfang
Von Büchern und Buchgelehrten | Feste und Spiele
Steine und Brot | Die Wälder rauschen | „Freundchen“
„Du holde Kunst“
Erste Liebe | Und noch einmal die Wälder...
Die zweite Stufe 


Ursprung und Lebensraum

[...] Von den Eltern meiner Mutter habe ich nur ihren Vater ge­kannt. [...] Er lebte in Cruttinnen, einem kleinen Dorf zwischen unendlichen Wäldern und am Ufer des durch seine Schönheit berühmten Crut­tinnenflusses, und durch viele Jahre meines Lebens ist dieser Ort mir als der Inbegriff des Herrlichen, des Abenteuers und der zauberischen Verschlossenheit erschienen.

Wahrscheinlich enthielt er von allen diesen Dingen nicht mehr als andre Walddörfer meiner Heimat, aber nirgends auf der Welt gab es so viele Seen und Moore, so viele Reiher und Adler, so viele Jäger mit wunderbar schimmernden Büchsen, so viele uralte Eichen und so viele süße Himbeeren wie auf der zweistündigen Wagen­fahrt von unsrem Forsthaus nach dem großelterlichen Hause. Da zog hoch über unsrem Wagen der Fischadler zu seinem Horst, der aus unsrem See die Hechte holte und bei dessen schwermüti­gem Schrei in meiner Brust vielleicht zum erstenmal sich das rührte, was ich das „Unnennbare“ hieß. Da lag zur Linken das dunkle Waldgewässer, dessen Tiefe nicht zu messen sein sollte und dessen Fischnutzung uns gehörte. Dort horstete der Schreiadler und dort standen auf unbetretbaren Wiesen die ersten Kraniche, die ich jemals sah. Da schimmerte dann aus finsteren Wäldern der See, bei dessen Anblick ich jedesmal mit klopfendem Herzen lauschte, ob ich nicht die Glocken hören würde, die in ihm versunken sein sollten. Und dann neigte der Weg sich zur Morawa, einer Gras­lichtung unter alten Eichen, wo die dunkle Seenkette begann, die bis zum riesigen Muckersee lief, und wo aus dem schwarzen Moor­wasser der Seen wie ein Wunder die klare, bewegte und durchsich­tige Flut des Cruttinnenflusses entsprang, lautlos strömend, von grauen Holzsteigen überspannt, vom schimmernden Blitz des Eis­vogels durchzuckt, von hängenden Wäldern überdacht, aus denen der Ruf der Adler sich klagend hob. [...]

Ahnung und Anfang

[...] Auch das Räumliche meiner Kinderwelt bleibt lange in Dunkel gehüllt, das Haus, der Garten, der Hof, der Wald. Und nur eines taucht am frühesten aus dem Verhüllten‑ das Feuer im Küchen­herd und darüber der riesige „Mantel“. Das war eine Art von Rauchfang, der in der ganzen Größe des Herdes etwa meterhoch über diesem begann und sich langsam zu der Öffnung des Schorn­steins verengte. Er war schwarz und glänzend von Ruß und Rauch, und wenn die Flamme einmal höher hinaufschlug, funkelten rote Lichter in seiner feuchten Schwärze, und einzelne Funken stoben hinauf und verschwanden im bereits Überweltlichen.

Dort habe ich, wenn nicht die ersten, so doch die eindringlichsten Märchen in mich aufgenommen. Immer war das Bild des ersterben­den Feuers etwas Zauberhaftes für mich, und der klagende und singende Laut verglühenden Holzes war mir vom ersten Bewußt­sein an der „Gesang des Feuermannes“. Ging aber der Blick dar­über hinaus, in den schwarzen Mantelschlund, in dem der Wind mit schauerlicher Klage stöhnte, so hatten die Teufel, Hexen und Zauberer einen kurzen Weg zu meiner zitternden Seele, und ich glaube, daß die Mächte der Unterwelt früh Besitz von mir er­griffen und an meiner Seele geformt haben. [...] 

Die erste Beseligung durch die Kunst habe ich von der Musik und, etwas später, glaube ich, von der Zeichen­kunst erfahren, während die Dichtung erst in mein Leben trat, als mit der ersten Erzieherin auch die ersten Werke der Dichtkunst in unser an Büchern sehr armes Haus kamen.

Es ist mir immer seltsam erschienen, daß der Mensch, aus dessen Flötenspiel ich eine bis zu Tränen reichende Erschütterung gewann, ein schlechter Mensch war. Es war ein Schwager meines Vaters, ein Zollbeamter von der russischen Grenze, verschuldet und dem Trunk ergeben, und ich erinnere mich, daß er später versucht ha­ben muß, meinen Vater zu einem unehrlichen Handel zu bereden, vielleicht zu einer falschen Angabe in einem Erbschaftsstreit, der unsrem Verwandten zu einem unredlichen Gewinn verholfen haben würde. Er hat unser Haus dann, als mein Vater sich weigerte, mit einem tiefen Haß bedacht, und es muß sich ein Prozeß daran geschlossen haben, den mein Vater zuerst gewann und dann verlor und dessen Folgen als ein finsterer Schatten lange über unsrem Hause gelegen haben.

Ob er sehr schön gespielt hat, weiß ich nicht. Aber ich weiß, wie unvergeßlich es war, als er in einer Dämmerstunde zum erstenmal die Flöte in den Händen hielt, ein Instrument, das schon in seinem Äußeren mit dunklem Holz und silbernen Klappen von seligen Geheimnissen erfüllt war. Und als dann die erste Melodie unter seinen Händen geboren wurde und sich aufhob und den ganzen Raum mit ihrer dunklen Schönheit erfüllte, erbebte etwas in mir, das ich bis dahin nicht gekannt hatte und vor dem es eine Rettung nur in dem geben konnte, was ich die ersten „seligen Tränen“ nennen möchte.

Ich glaube nicht daß man mich verstand, ja ich erinnere mich, daß man mich tadelte und verspottete, weil meine träumerische und weiche Art meine Eltern mit früher Sorge erfüllen mochte. Und doch war etwas Großes geschehen: eine neue Welt hatte zum erstenmal ihre Tore vor mir aufgetan, und niemand wußte, daß ich ihr verfallen bleiben würde. [...] 

Von Büchern und Buchgelehrten

Ich glaube, daß über meiner Kindheit eine große Stunde an­bricht, als ich zum erstenmal an einem Tisch sitze, dessen feier­liche Zurüstung mir bedeutet, daß hier kein Spiel, sondern die Arbeit beginnt; als nicht die Gestalt der Mutter mir gegenüber­sitzt, sondern ein fremder Mensch, dessen Hände Tafeln und Hefte und Bücher sorgfältig zurechtrücken und dessen Augen mit einer Mischung von Strenge, Nachsicht und Stolz in diejenigen Augen blicken, die nun die Enthüllung aller Wunder der Erde und des Himmels gläubig und ahnungsvoll erwarten.

Ich glaube, daß unsre erste Erzieherin weder vom kategorischen Imperativ noch von den Herbartschen Formalstufen etwas wußte, und ich nehme an, daß das nur zu unsrem Besten gedient hat. Denn es hatte weder die Einfachheit ihres Denkens noch die Güte ihres Herzens verkümmert, und es ließ ihr die schöne Freiheit, mit drei gläubigen und auf eine innerliche Weise neugierigen Kindern in ein Land hineinzuwandern, das ihr zwar wohlbekannt sein mochte, das aber für die Geführten bei jedem Schritt voller Wun­der war, so daß ein Teil des Glanzes, der unsre Augen erfüllte, auch auf sie wieder zurückfiel und ihr armseliges und einsames Leben verschönte. Und da hinter der Tür der Oberstube weder die majestätische Gestalt eines Direktors noch gar die gottväter­liche eines Schulrates bereitstand, unvermutet einzutreten, um nachzuprüfen, ob die heiligen Gesetze der Pädagogik auch geachtet und bewahrt würden, da vielmehr von draußen nur die Töne und Geräusche eines ländlichen Lebens hereindrangen und vor dem offenen Fenster die hohen Fichten wie immer rauschten: so be­gannen wir in einer schönen Freiheit die erste Wanderung in das Reich des Geistes, bereit, jedes Wort aus dem Munde der Führerin als ein Evangelium zu betrachten, und gewillt, jeden Buchstaben, den wir malen sollten, zu einem Kunstwerk zu gestalten.

Dieser mein Eintritt in eine Welt, in der ich später zu Hause sein sollte, die Welt des Verstandes und der Phantasie, der ersten Wissenschaft und der ersten Kunst, ist mir in der Erinnerung von einem unvergänglichen Schimmer der Glückseligkeit umgeben. [...] Wohl war ich in der Welt der Märchen und auch ein wenig in der der Bibel bereits kein Fremd­ling mehr, aber was sich mir nun eröffnete, schien mir das ganze Weltall zu umfassen, und zu den kühleren Fertigkeien, des Schrei­bens, des Lesens und 'des Rechnens etwa, trat nun der lange Zug der Gestalten aus Sage und Geschichte, aus den beiden Testamen­ten und aus dem unermeßlichen Reich, das die Dichter aus dem Nichts geschaffen hatten. [...]

Feste und Spiele

[...] Ja, diese Feste der Landschaft, ein oder zwei im Jahr, weshalb ist ihr Glanz noch immer so groß, daß alles, was inzwischen gewesen ist, davor verblaßt? Liegt es daran, daß ich ein Kind war, immer bereit, Wunder zu sehen, oder waren sie wirklich inniger, froher, heller als heute? Es will mir scheinen, als seien sie in der Armut damaliger Zeit und Landschaft wirklich „Feste“ gewesen, nicht verblaßt und müde geworden durch alltägliche Wiederholung, und als seien die Menschen, die sie feierten, auch mit dem Willen hingefahren, festlich zu sein und alles dazu zu tun, was in ihren Kräften stand. Es gab ein Lehrerfest und ein Frauenvereinsfest. Es gab keine „Exklusivität“, und Bauern, Dienstmädchen und „Herrschaften“ saßen mit den gleichen kindlichen Augen vor dem Vorhang der Bühne und drehten sich mit der gleichen Leidenschaft im Tanz. War nicht die Fahrt schon ein Märchen, durch den tief verschneiten Wald, über dem der Mond und die Sterne so standen, daß man es glauben mußte, dort sei eine andere Welt; Und wie herrlich war der Saal, wie froh die Gesichter, wie glän­zend und voller Geheimnisse die Instrumente der Kapelle und ihre zerknitterten Notenblätter mit ihren schwarzen Zauberzeichen! Gibt es noch ein Geigensolo wie das des „dritten Lehrers“ mit den schwarzen Locken? Ein bißchen falsch vielleicht, aber voll un­beschreiblicher Süße? Gibt es noch ein Lied, dem zu vergleichen, das der erste Lehrer singt, wenn die Mitternacht schon da ist und der ganze Saal ihn darum bestürmt: „Denn die Gedanken zer­brechen alle Schranken ... die Gedanken sind frei“? Klingt es mir nicht nach vierzig Jahren noch immer so im Ohr wie damals, als mir die Tränen aus den Augen stürzten, jedesmal, wenn seine Melodie mich überfiel? [...] 

Steine und Brot

Ich habe erst von der Obersekunda ab geistig zu leben be­gonnen, und bis dahin habe ich nur meine Pflicht getan und oft auch dieses nicht. Zu Anfang zwar stürzte ich mich mit einem brennenden Ehrgeiz auf das vor mir Liegende, und die Erziehung, die ich von meiner Mutter empfangen hatte, ließ mich nicht rechts noch links blicken, wenn es galt, meine Pflicht zu tun. Aber die Schule versäumte, mich darin zu bewahren. Wir haben einen Leh­rer für Botanik und Zoologie, der zu fast jeder Stunde betrunken erscheint und vergeblich versucht, seinen Hut auf den dazu be­stimmten Haken zu hängen. Er schwatzt, singt und lärmt, und wenn er unterrichtet, löst das lebendige Bild der Natur sich in tote Namen und Systeme auf. [...]

Wir haben einen Zeichenlehrer, den wir mit freundlichem Hohn „Professor“ nennen. Wir zeichnen alte Töpfe, Würfel, Pyramiden. Manche von uns brennen vor Sehnsucht, hinter das Geheimnis der Kunst zu kommen, der Landschaftsskizze, der Farbe, der Perspektive. „Weshalb muß das so sein, Herr Professor?“ „Das moß so sein, du schweinsdommes Rend!“

Noch heute sehe ich mich mit Sorge an, wie ich durch diese toten Jahre gehe. Lücken, die nie mehr zu schließen sind. Neigung zu Lärm, zu Grausamkeit, zum Untergang in einer formlosen Masse. Betrug, um Nichtgewußtes vorzutäuschen, und als Schlimmstes: langsames Zerbröckeln der Achtung vor der Autorität. Unver­geßlich die Stunde, in der meine Mutter mich hart straft, weil ich vor einem alten Waldarbeiter nicht die Mütze gezogen habe, und unvergeßlich ihre erhobene Hand, während sie das Bibelwort aus­spricht: „Vor einem grauen Haupte sollst du aufstehen!“ Und nun diese grauen Häupter, die wir betrügen, quälen und verhöh­nen. Nicht weil wir schlecht sind, sondern weil sie unzulänglich und ungeschickt in ihrem Menschentum sind.

Die ersten Flecken in meinem Charakter erscheinen. Man be­handelt uns grausam, und wir zahlen mit der gleichen Münze. Probekandidaten erscheinen, gutmütige und unglückliche Wesen, und die Tyrannei einer geballten Masse von vierzig Jungen über­flutet und begräbt sie. Wir stellen ein Schwein aus Seife auf ihr Pult und setzen ihm eine Brille auf. Wir tragen Kneifer ohne Glä­ser und behaupten, wir seien plötzlich taub geworden. Wir schie­ßen Papierkugeln in das gequälte Gesicht vor uns. Wir sind ohne Mitleid, ohne Erbarmen, ohne alles, was ein frommes Elternhaus in unsre kindlichen Seelen gepflanzt hat. Wir sind wie die Masse aller Zeiten und allen Alters: roh, blutdürstig, bereit, uns von den Bösesten widerstandslos führen zu lassen.

Es ist mir, als hätten diese vier ersten Jahre bereits den trüben Bodensatz, den jedes Leben besitzt, bis zu seiner Tiefe aufgerührt. Ich habe keinen Führer, niemanden, zu dem ich voller Verehrung aufblicke und dessen Leben ich nachzuleben versuche. Die Eltern sind weit, die Lehrer sind fremd, und Gleichgültiges, Komisches und Abstoßendes erfüllt ihr Bild. [...] 

Die Wälder rauschen

Aber ich vergesse eines, während ich mich der Erinnerung an diese trüben Jahre hingebe: daß dies alles ja nicht mein Leben war. Daß ich zwar dort sein mußte, in schule, Pension und Stadt, daß ich lärmte und mich verleugnete, aber daß mein Herz zu allem die­sem klopfte, wie es zu unsrem Atmen klopft, fast unbewußt und fast außer uns. Denn dieses war ja nicht meine Heimat. Ich konnte vieles verleugnen, aber nicht meinen Ursprung. Und wenn auch die Schule oder die Kirche mich nicht davor bewahren konnte, mit­zulärmen in der Rotte, so haben die Wälder mich doch davor be­wahrt, unterzugehen in ihr und in ihr mich zu Hause zu fühlen. Das Schicksal hat mir in allen jenen Jahren etwas Großes ge­schenkt: daß ich viermal im Jahr mich reinwaschen konnte von dem Schmutz, mit dem das Leben mich nicht verschonte.

Denn mit dem Augenblick, in dem der dunkle und ernste Strei­fen unsrer Wälder am Horizont erschien, war das andre alles ver­sunken, ausgelöscht und nie gewesen. Ich kehrte heim, als sei ich niemals fortgewesen. Ich fand mich wieder, das Kind, wie ich es verlassen hatte. Es fragte nichts, es machte keine Vorwürfe, es dachte an keine Zukunft. Es wartete nur, wie im Märchen ge­wartet wird, still und ohne Frage, und nahm mich wieder bei der Hand, und bei dieser Berührung war alles, wie es immer gewesen war. [...]

Ja, die Ferien aller dieser Jahre und noch weit darüber hinaus stehen wie ein Paradies in meiner Erinnerung, ein wiedergewon­nenes, das ja um vieles kostbarer war als das nie verlorene. Ich kann es nicht beschreiben, wie es war, wenn wir in den hohen Kiefernwald einfuhren, wenn der erste Raubvogelschrei über die Wipfel fiel, unser Roggenfeld in der Sonne wogte, das rote Dach hinter der Esche erschien. Vielleicht war es im Krieg so, als ich zum erstenmal in der Morgenfrühe aus Rußland über die Grenze kam, und am Memelstrom schlugen tausend Nachtigallen; vielleicht ist es so, daß nur die Musik das darzustellen vermag, wenn eine Dissonanz sich löst und aus dem zerrissenen Abgrund hebt eine Cellomelodie sich ruhig und ihrer Ewigkeit gewiß immer leuch­tender in die Höhe. Dann vermag das Herz noch ebenso zu er­beben wie damals, wenn die Heimat sich aufhob und ich am ersten Abend am Waldrand stand und das großartige Schweigen der ländlichen Erde sich bis zu den Sternen hob. [...]

Und außerdem besaßen wir das Recht der Waldweide, ein sehr kostbares Recht, weil der Milchertrag davon abhing und von die­sem ein Teil unsres Lebens in der Stadt. Aber der Wald war groß, und erst wenn man bei Sonnenaufgang auszog, einen Stock in der Hand, einen Sack mit Brot über der Schulter, erkannte man er­zitternden Herzens, wie ungeheuer groß er war. Und an schwülen Tagen hob eine Wolke von Bremsen und Stechfliegen sich aus den feuchten Brüchen und stürzte sich auf die Herde. Dann begann es immer so, daß endlich die erste Kuh den Schwanz hob und mit einem Schmerzensgebrüll davonstürmte, und nach dem ostpreußi­schen Sprichwort „Wenn eine Kuh den Zagel hebt, so heben sie ihn alle“ ist leicht vorzustellen, wie ich weinend und voller Verzweiflung kilometerweit die Abtrünnige verfolgen mußte und wie manchmal damit endete, daß ich allein und verlassen dastand, wie das Männlein im Walde, aber nicht „still und stumm“, und Kühe, Hirtenamt und Wald verfluchte. Und kam ich dann manch­mal nach Hause geschlichen, ohne Herde, ein pflichtvergessener Hirte, so konnte es sein, daß die Tiere, klüger als ihr Wächter, schon friedlich an dem Tränktrog neben der Pumpe standen, und somit war die ganze Tragödie umsonst gewesen.

Und doch hat auch dies wohl seinen Anteil an dem „Haushalt meiner Natur“ gehabt. Nicht nur war das frühe Amt ein guter Erzieher, sondern an solchen Tagen tat das Geheimnis des Waldes sich auch tiefer auf als sonst. Nicht nur die Horste der Raubvögel und die Wechsel des Wildes, die Stille, in der das Harz zu Boden tropfte, die große und gestaltlose Sehnsucht, die mich überfiel, wenn über dem Hochwald der hohe Himmel stand und zwischen den Stämmen lautlos das zurückwich, was ich niemals erreichte.

Gut war es mir, barfuß meinen Lebensweg zu beginnen und die Kühe zu hüten. Weil ich in der Stille anfing, konnte ich dem Lau­ten nie ganz verfallen. Weil ich als Kind die Wälder schweigen und wachsen sah, konnte ich immer ein stilles Lächeln für das auf­geregte Treiben haben, mit dem die Menschen ihre vergänglichen Häuser bauten. Es war, als trüge ich andre Gesetze und Maßstäbe in mir, größere und strengere. Ich konnte nie mehr ganz aus dem Kreis der Natur herausfallen, und immer hielt ein letztes Band mich noch am Willen der Schöpfung fest, wenn auch rings um mich die Menschen schon längst vergessen hatten, daß auch sie Geschöpfe und nicht Schöpfer waren und an ihren babylonischen Türmen bauten, als sei es ihnen und nur ihnen allein vorbehalten, die Achse der Welt in sich zu tragen. [...] 

Auch war es nicht der Sommer allein, der mich so verzaubernd umfing. Denn da ich als Fremdgebliebener aus den Städten kam, so war ich jeder Jahreszeit geöffnet, und der Schrei der Wildgans oder der Kranichruf, der im Frühling und Herbst über unsre Fel­der ging, war nicht geringer als der Falkenschrei, der über den Sommerwäldern stand. Und waren die Straßen tief verschneit, so baute ich Marderfallen im Wald und ging den Fährten nach, und manchmal stand ich damals schon um die Zeit des Abendrots auf den Lichtungen der bewaldeten Hügel und blickte lange nach Westen, wo hinter den Wäldern eine fremde Welt begann, und wußte nicht, weshalb auf das Glück der kindlichen Tage ein Schat­ten fiel, weshalb es so schmerzte, in den brennenden Himmel zu sehen, weshalb bei aller Fülle das Herz so bitter leer war und die Träne immer so nahe. Wußte es nicht, weil ich nicht wissen konnte, daß schon eine ferne Stimme mir rief, als ich am glücklichsten war; daß ich unter meinen ersten Versen schon erzitterte, lange bevor ich wußte, was ein Vers ist; und daß die Sonne mir schon schmerz­lich unterging, als doch eben erst mein Leben begann ...

Und wieder fühle ich, wie vergeblich es ist, dies alles beschreiben zu wollen. „Die Wälder rauschen ...“ Wieviel müßte gesagt wer­den, damit diese Überschrift Wahrheit würde, und wie wenig kann ich doch dazu sagen. Und es fällt mir ein, daß es vielleicht besser wäre, statt dessen von dem Kranich zu erzählen, den ich besaß, den ich wie einen Bruder liebte und vielleicht mehr als einen sol­chen. Und daß aus der Erinnerung an ihn das Bild meines Lebens klarer sich erhebt als aus allen Überschriften und dem, was man zu ihnen sagen kann.

Ein Waldarbeiter hatte ihn gefangen, am Rand der Moore, von denen ich erzählt habe. Er war nicht höher als meine Hand, als ich ihn bekam, und ebenso groß wie ich, als ich ihn wieder verlor. Er lebte in unsrem Garten, und auch im Garten Eden konnten Mensch 'und Tier nicht zärtlicher zueinander ge­wesen sein als wir beide. jeden Morgen und Abend brachte ich ihm kleine Fische vom See, und er nahm seine Speise aus meiner Hand. Wir erwachten, wenn die Sonne aufging, und begrüßten einander, wie zwei Geliebte einander begrüßen. Scheint nicht der Lauf jener Tage und jener Liebe mir wie der Lauf eines goldenen Rades? Wir legten die Hände spielend in seine Speichen, und leuch­tend rollte es vom Aufgang zum Niedergang. Ich rief nach mei­nem Vogel, und mit ausgebreiteten Schwingen kam er zu meinen Knien. Ich ging vom Hof, und er stand am Zaun und klagte seine Einsamkeit. Ich kam wieder, und seine herrlichen blaugrauen Schwingen schienen mich umarmen zu wollen.

Aber um die Mittagsstunde waren wir der großen Einheit am nächsten. Ich lag auf dem Rasen und rief nach ihm. Er kam und blieb zu meinen Füßen stehen. Er spielte mit meinen Schuhen, mei­nen Knöpfen, meinen Händen. Und dann trat er zwischen meinen linken Arm und meine Brust. Er blickte sich noch einmal um, mit seinen wundervollen Augen, denen nichts entging. Dann ließ er sich in die Knie sinken. Noch einmal hob sich sein schlanker Hals, als liege er auf dem Moor und müsse nach seinen Feinden sehen. Dann legte er sich nieder, so daß Sein Leib zwischen meinem Arm und meinem Herzen lag, und verbarg seinen Kopf an meiner Brust. Ein leise träumender Ton kaum unaufhörlich aus seiner Kehle, un­säglich geborgen und glückselig. Meine Hand strich über sein bläu­liches Gefieder wie über die Wangen eines Kindes. Sein Auge öff­nete sich noch zuweilen und blickte mich an, und dann schliefen wir ein, während die Bienen über uns summten und der Pirol vom Walde rief.

Mir aber ist, als wäre ich dem Herzen Gottes niemals näher ge­wesen als in den Stunden, in denen meine Hand über das Gefieder des Kranichs glitt und er an meinem Herzen lag, als hätte dieselbe Mutter uns geboren. [...] 

„Freundchen“

[...] Viel mehr, als ich mir zugeben mochte, bedurfte ich damals eines Vorbildes wahrer und männlicher Haltung. An „Idealen“ war bei unsrer Erziehung kein Mangel, gleichviel, ob sie aus dem grie­chischen Altertum oder aus der preußischen Geschichte stammten. Aber an einer anschaulichen Bestätigung dieser Ideale, an einer greifbaren Verkörperung blasser Theorien hatten wir keinen Über­fluß. Wir hatten keinen Religionslehrer, der, von seinem Katheder fort, Christi jünger hätte werden können; keinen Historiker, der die Soldaten‑ und Staatsmannstugenden hätte verwirklichen kön­nen, die er mit soviel Begeisterung pries; niemanden, hinter dem „in wesenlosem Scheine“ alles Gemeine zurückblieb, gegen das Schiller sich empört hatte: sie alle waren als Theoretiker des Edlen vorhanden. Aber in der Wirklichkeit hatten wir Religionslehrer, die unlustig zur Stunde kamen, Historiker, die vor dem Schulrat zitterten, Germanisten, bei denen das Allzumenschliche nicht nur ein wesenloser Schein war. Unverkennbar war die Kluft zwischen Lehre und Leben, und die Augen einer Klasse ‑ die schärfsten Augen, die es auf dieser Erde gibt ‑ erkannten sehr bald, was sie doch niemals hätten erkennen dürfen, und verdunkelten sich immer mehr, wo sie doch immer heller hätten leuchten müssen, je weiter man sie in das Reich des Geistes führte. [...] 

[D]es Lehrers, der uns die beiden letzten Jahre im Deutschen unterrichtete und den wir „Freundchen“ nannten, weil er uns so zu nennen liebte, muß ich hier mit der Dankbarkeit gedenken, die ich den ganz wenigen entscheidenden Führern meiner so unruhigen und so wirren Jugend bewahre. [...]

Die zweite unvergeßliche Einwirkung fand nach Jahren statt, als ich schon Oberprimaner war. Ich war damals, in meiner welt­schmerzlichen Periode, von der noch die Rede sein wird, bei den Skeptikern der Philosophie und des Lebens zu Hause, bemühte mich ‑ mit wenig Erfolg ‑, Ideale, Pathos und dergleichen zu verachten, hielt Schiller für einen bengalisch leuchtenden Komödianten und befand mich somit auf der harmlosen Stufe jenes jugendlichen Nihilismus, die wir alle bestiegen und überschritten haben, aus denen etwas Ordentliches geworden ist. Nun hatten wir damals einen Aufsatz mit einem Thema nach freier Wahl zu schreiben, etwas Unerhörtes in damaliger Zeit, und ich hatte mich in geradezu vernichtender Weise über die „Braut von Messina“ ausgelassen, die wir eben gelesen hatten, und wobei mir Hebbels hartes Urteil über dieses Werk gerade zur rechten Zeit unter die Hände gekommen war. Und wenn schon die Rück­gabe eines Aufsatzes im allgemeinen bei diesem Lehrer für uns alle etwas Besonderes war, durch die Art und Weise, wie er sie vornahm, so saß ich in diesem Falle mit besonders gemischten Gefüh­len auf meinem Platz, halb wie ein Held, der seinen ersten Lorbeer­kranz erwartet, und halb wie ein Fanatiker, der einen Dianatem­pel in Brand gesteckt hatte.

Freundchen kam herein wie sonst, nur etwas ernster als üblich, die Hefte unter dem linken Arm, und wie sonst setzte er sich auf die vorderste leere Bank, bequem und nachlässig, als einer, der auf keine besondere Haltung zu achten nötig hat. Und dann gingen hinter seinem goldgeränderten Kneifer seine Augen langsam ein­mal von Gesicht zu Gesicht, mit dem durchdringenden Blick, den wir so liebten und fürchteten. Und in der atemlosen Stille, die die­ser Blick erzeugte, begann er, wie abwesend vor sich hinsprechend, das zu sagen, was mir noch heute fast wörtlich in der Erinnerung ist:

„In dem schmalen, engen Schlafzimmer seines Hauses zu Wei­mar liegt Friedrich Schiller auf seinem dürftigen Lager. Eben ist ein Anfall seiner furchtbaren Atemnot vorübergegangen, noch steht der Schweiß auf seiner blassen Stirn, und seine Hände tasten unruhig über die zerwühlte Bettdecke. Da wird ihm ein Heft im blauen Umschlag gebracht. Er schlägt es auf, und seine Augen lesen den folgenden Satz: ‚So bleibt von der ganzen Braut von Messina nichts übrig als eine blutige, schauerliche Historie, mit Gewaltsamkeit und Roheit gestaltet, auf den Effekt hin gearbeitet, von einer Wirkung, der die Rohen verfallen, von der aber die Edlen sich schaudernd abwenden.’ Er läßt das Heft sinken und schließt die Augen, und um seine Lippen werden zwei dünne scharfe Linien des Grames sichtbar, als hätte dieses Urteil sie in das edle Gesicht einge­graben ...“

Nichts weiter. Der Lehrer schweigt. Wir schweigen. Nur mein Herz schlägt, und ganz heimlich wenden ein paar Augen aus der Klasse sich mir zu. Nicht lange dauert das, dann zieht Freundchen seine schmalen Zettel heraus und beginnt, das Allgemeine über die Arbeiten zu sagen. Aber in diesen wenigen Sekunden ist mehr in mir vorgegangen als sonst in Monaten und Jahren: die tiefe und segensvolle Beschämung eines Menschen, der vergessen hatte, was noch den Geringsten unter uns adeln und bewahren kann: die Pie­tät.

Der Aufsatz war mit „gut“ zensiert, und als Freundchen ihn mir zurückgab, nickte er mir zu. Es ist weiter nicht darüber gespro­chen worden. Alles Nötige war gesagt worden, und er wußte, daß jedes Wort zuviel alles zerstört haben würde.

Dieser Lehrer war auch der einzige, den wir mitunter in seinem Hause besuchten und zu dem wir Nöte und Schmerzen tragen durften, über die man zu unsrer Zeit nicht zu sprechen pflegte, am wenigsten aber zu einem unsrer Erzieher.

Seine Petroleumlampe aus blankem Messing mit dem grünen Schirm beschien ein Heim der Ordnung, der Arbeit, der Kunst und des Friedens, und bei ihrem sanften Licht haben viele von uns die beste Hilfe erfahren, die das Leben ihnen jemals beschert hat. Ihr Licht ist auf meine ersten Bekenntnisse und auf meine ersten Manu­skriptblätter gefallen, und immer in meinem Leben, wenn Trost­suchende und Verzweifelte bei mir gesessen haben ‑ und es sind nicht wenige gewesen ‑, hat dieses Licht vor meinen Augen ge­standen, eine sanfte und eindringliche Mahnung, und kann es wohl eine schönere Unsterblichkeit für einen Erzieher geben als eine solche? 

„Du holde Kunst“

[...] Und es mag wohl ein Meilen­stein in meinem Dasein gewesen sein, als ich den ersten Liederabend einer großen Sängerin in dem nüchternen Saal der Börse hörte. Wie klein wurden alle Bemühungen unsrer „eleganten Periode“ vor den Tönen, die damals meine Seele erfüllten, wie weit ver­schwanden Armut, Alltag und Heimweh vor der „Winterreise“ oder der „Verborgenheit“! Die „holde Kunst“ stieg zum ersten­mal ohne Verhüllung in die arme Kammer dessen, der noch nicht wußte, wozu Leben und Schmerzen da sind. Sie nahm keinen An­stoß, weder an seiner Armut noch an seiner Unfertigkeit, noch an dem Unbedeutenden seiner jugendlichen Existenz. Sondern wie die Fee aus dem Märchen trat sie vor die Dürftigkeit seines Bettlerklei­des, legte die Hand auf seine Stirn und verwandelte die arme Welt des Seins in einen himmlischen Raum. Sie allein besaß die Kraft, dem Armen zu zeigen, daß diese Welt nicht alles ist, was wir be­sitzen, sondern daß hinter ihr eine zweite Welt vorhanden ist, in der immer noch mit unsren Worten gesprochen, mit unsren Tönen gesungen, mit unsren Farben gesehen wird, aber so, daß diese Worte, Töne und Farben nicht nur bis zu unsren Sinnen und zu unsrem Verstande reichen, sondern daß sie weit hinter diese Ober­fläche greifen und die Wurzeln unsrer Seele da berühren, wo Gott sie schon in seinen Händen hält.

So habe ich die ersten Liederabende von Julia Culp und Lula Mysz‑Gmeiner gehört, so den ersten Schubert‑Sonatenabend, so zum erstenmal die Appassionata. Ach, wer gibt sie wieder, die Heimkehr von solchen Stunden, durch die finstere Stadt, unter dem leuchtenden Sternenhimmel unsrer Winternächte! Der Körper frie­rend in einem ärmlichen Mantel, das Zimmer dunkel und leer, in das ich heimkehre, aber die Seele so glühend und außer sich wie in den Zeiten erster versunkener Liebe. Nun zum erstenmal erkenne ich, wozu ein Menschenleben da sein kann, wenn es begnadet ist. Daß es nach hundert Jahren noch lebendig und glühend ist, wenn es die Herzen der Nachgeborenen erschüttern und das Gesetz in sie legen kann, so zu werden, wie sie gewesen sind, leidend, aber beseligend, arm, aber Kronen verstreuend, die wahren Könige der Menschheit, auch wenn sie einen Bettlermantel trugen. [...] 

Erste Liebe

[...] Ich bin leider ‑ oder glücklicherweise ‑ immer ein schüchter­ner Mensch auf diesen Wegen gewesen, und nüchternere Freunde haben mich später oft mit harten Worten getadelt, daß ich in der Frau Gnaden erblicke, die sie gar nicht besäße, daß ich eine sehr unvollkommene Bildung der Natur auf eine schwärmerische Weise entstellte und daß ich mich so mitschuldig daran mache, der Frau eine engelhafte Stellung in dieser Welt zu verleihen, die ihr gar nicht zukomme und die nur geeignet sei, die dem Manne bestimmte Überlegenheit zu gefährden. Aber da ich leider in vielen Dingen dieser Welt zeitlebens ein unbelehrbarer Mensch gewesen bin [...], so hat eine heimliche Stimme in meiner Brust sich auch gegen diese klugen Beweisführungen immer zur Wehr gesetzt, und auf der Höhe meines Lebens bin ich noch immer bereit, in der Frau, die reinen Herzens ist, etwas zu erblicken, was Gott aus dem Paradiese auszustoßen vergessen hat und das er uns geschenkt hat, damit die trübe Dunkelheit dieser Welt für eine kurze Spanne beglänzt und erwärmt werde.

Die Überschrift zu diesem Kapitel nun gewinnt ihre Berechti­gung daraus, daß dies meine erste Liebe war, von der ich sagen kann, daß sie erwidert wurde [...]. Doch habe ich zu dieser Erkenntnis als ein früh zweifelnder Mensch anderthalb Jahre gebraucht, denselben Zeitraum, den ich brauchte, um von dem ersten heimlich getauschten Blick bis zu dem ersten gesprochenen oder geschriebenen Wort zu gelangen. Und wenn mir später manchmal scheinen wollte, als hätte ich damit andert­halb Jahre des Glückes verloren, so wie Parzifal einen Teil seines Lebens dadurch verlor, daß er die ihm bestimmte Frage nicht stellte, so erkannte ich doch bald, daß es eine Täuschung war, nicht nur, weil meine Natur es mir so vorschrieb, sondern auch, weil die Zeit des Bangens und der Sehnsucht das Kostbarste war, was mir damals geschenkt werden konnte. [...]

Es mag dem Erwachsenen, der auf seine Jugend spöttisch als auf einen unfertigen Zustand zurückblickt, komisch, ja einfältig erscheinen, daß während einer Zeit von anderthalb Jahren nichts anderes geschah, als daß wir beide unsre Schritte verlangsamten, wenn wir einander auf uns zukommen sahen, um den ersehnten Anblick doch für ein paar Herzschläge länger ge­nießen zu können, und daß dann unsre Augen aneinanderhingen, bis wir vorüber waren, mit der stummen Frage, die zu allen Zeiten bei bedeutenden wie bei unbedeutenden Menschen dieselbe ist, eben eine Frage von Leben oder Tod. Und nur in der letzten Zeit geschah es mitunter, daß ein leises Lächeln über ihre Züge glitt, als ahnte sie, daß ohne dieses wir vielleicht noch in weißem Haar so stumm und geisterhaft uns begegnen würden.

Aber nur dieser Art von Erwachsenen wird das komisch er­scheinen. Denn wer seiner Jugend nicht mit Spott gedenkt, wird auch diese Scheu vor dem ersten Wort als etwas achten, das an die Heiligkeit eines ersten Gefühls gebunden war. Die auf der Furcht beruhte, ein Menschenbild, das bis unter die Sterne erhoben war, möchte vielleicht mit denselben menschlichen Worten sprechen, die auch wir benutzen, um Dinge des Alltags zu be­schreiben oder zu begehren, und seine Hand möchte sich ebenso anfühlen wie unsre auch, statt doch die Hand eines Engels zu sein, unvorstellbar in ihrer zart geäderten Färbung oder Kühle.

Ach, gesegnete Zeiten, in denen die andere Welt hinter einem Schleier lag, ihre Arbeit, ihre Pflicht, ihre schalen Freuden! In denen jedes Buch und jedes Blatt sich mit Versen bedeckte, die den Stempel der Unsterblichkeit für den Schreibenden untrüglich trugen. In denen der Mond nicht der Mond war, sondern eine Ampel Gottes, die er über uns hielt, damit das harte Licht der Sonne nicht unsre Träume störe. In denen alles Gute und Edle meiner noch gärenden Natur aus dem Dunkel sich aufhebt und mich verwandelt, damit ich der Geliebten zwar nicht gleich, aber doch nicht allzu unwürdig werde. [...]

Auch der Wald ist mir nun verwandelt in den ersten Sommer­ferien dieser Liebe, die Eltern, die Heimat, die ganze Welt. Noch immer bin ich ein Fischer und Jäger, aber länger als früher kann ich auf dem Bootsrand sitzen, die Netze gedankenlos in der Hand, und in die dunkle Tiefe blicken, wo die Fische stehen mögen, wo aber nun das Bild der Geliebten wie auf einem Spiegel ruht. Noch immer streife ich hinter dem Adler her, ganze Tage, aber da­zwischen kann ich an einem Waldrand sitzen, hoch über den Schonungen, das Gewehr über den Knien, und hinausblicken über das sonnige Land, das so schrecklich leer und tot ist ohne die Gestalt, die allein es lebendig machen könnte. Wohl erlöst das Herz sich manchmal durch Tränen und Verse, aber eine dunkle Schwermut hängt über Feld und Wald, und der „kleine traurige Vogel“ gewinnt zum erstenmal Gewalt über mich. Es ist ein kleiner grauer Sänger, der in den dunklen Fichtenwäldern lebt, wo die Fliegenpilze im Moos leuchten und nur ab und zu ein Sonnenstrahl durch die Wipfel fällt. Sein Lied besteht nur aus einem einzigen Ton, aber der klagende und hoffnungslos eintönige Fall dieses Tones ist wie die Seele dieses großen, finsteren, schwei­genden Waldes, durch den das Einhorn schreiten könnte, die fremden, kalten Augen auf den erschauernden Menschen ge­richtet.

Aber dann, bevor ich vergehe in meiner Sehnsucht, beginne ich Briefe an die Geliebte zu schreiben, die Briefe Abälards an Heloise, die Briefe aller Liebenden aller Zeiten. Endlose, glühende, verzehrende Briefe. In ihnen sage ich, was bei unsren Begegnungen verschwiegen wird und auch in aller Zukunft verschwiegen bleiben muß, weil es eine letzte Keuschheit des gesprochenen Wortes gibt, die nicht verletzt werden darf, wenn der Zauber nicht sterben soll.

Ich schreibe sie im Walde. Das Tintenfaß liegt unter dem Moos, und ich trage es von Ort zu Ort, immer dahin, wo ich glaube, daß der Wald mich am besten bewahrt und am tiefsten zu meinen Worten rauscht. Ich kann keines dieser Worte mehr nennen, denn ich habe sie später verbrannt, und auch wenn ich sie noch hätte, würde ich sie nicht nennen, weil sie nicht der Welt angehören, sondern mir allein. [...]

Bald darauf muß es mir gelungen sein, den Namen meiner Geliebten zu erfahren, und zu Anfang des Winters, als wir ein­ander täglich auf dem Eise sahen, habe ich wohl den Mut ge­funden, an sie zu schreiben. Denn ich erinnere mich mit aller Deutlichkeit des Abends, an dem sie mich bei der Heimkehr in einer menschenleeren Straße erwartete. Da war es nun also, daß ich ihre Hand halten, ihre Züge betrachten durfte und daß ich wahrscheinlich dieselben törichten Worte sprach, die junge Men­schen in solch einer Stunde zu sprechen pflegen. Der eisige Wind meiner Heimat ging durch die Straßen, die trüben Laternen klapperten, und die Menschen gingen wie Scheinen an uns vor­über. Für uns aber blühte diese karge und winterliche Erde, für uns hingen die Sterne dicht über unsrem Scheitel, für uns war das verlorene Paradies aus seiner Verfluchung wieder aufer­standen, und wir beide allein gingen durch seine verzauberten Wege, ohne allen Zweifel gewiß, daß es niemandem gelingen würde, auch Gott und allen Engeln nicht, uns aus diesem Garten Eden jemals zu vertreiben. [...] 

Und noch einmal die Wälder...

[...] Leuchtend steht der Herbst dieses Jahres, des letzten kindlichen, wie mir scheint, in meiner Erinnerung. Der Dohnenstieg ist fertig, und die Drosseln sind da, bevor sie südwärts ziehen. Beim Sternenlicht schon bin ich unterwegs nach einer weit entfernten Feldmark, um einen Hasen bei der Rückkehr von der Saat zu schießen. Reif liegt schon auf der Erde, und im Walde riecht es bitter nach Pilzen und welkem Laub. Ich sehe, wie der Nebel fällt und der rote Tag über den Feldern aufgeht. Der Bussard fliegt zu seiner Jagd, und ein Fuchs trabt den Grenzgraben ent­lang. Die Vögel erwachen, die Brombeeren leuchten in der Hecke vor mir, und manchmal zerbricht der Donner meines Schusses

das Schweigen der Frühe. Heimkehr durch den aufleuchtenden Wald, in dem die Nüsse reifen und die Häher lärmen. Eine kurze Rast, ein Frühstück im Garten, über den die Kraniche in Ge­schwadern nach der südlichen Sonne ziehen.

Und dann, ohne Müdigkeit, das Hauptwerk des Tages: der Dohnenstieg. Eine Jagdtasche voller Vogelbeeren, die Doppelflinte, Pfeife und Tabak und ein Stück trockenes Schwarzbrot. Der Reif ist zu Tau geworden, und Tausende von Spinngeweben schimmern in der Sonne. An den Waldrändern brennt der wilde Birnbaum in glühendem Rot, und die Ahornbäume leuchten in ihrem herr­lichen Gold. Niemals ist der Wald wunderbarer als im Herbst, in seinen Farben, seinem Geruch, seiner fast atemlosen Stille. [...]

Vier, fünf Stunden dauert der Bogen, den ich durch die Wälder mache, und bevor die Sonne sinkt, sitze ich zwischen Hochwald und Torfbruch, im Grenzgraben, wo der Blick weit hinausgeht und über den gelben Birken die roten Abendwol­ken stehen. Hier ist mein stillster und geliebtester Platz. Zwischen den Torfhaufen steigt der frühe Nebel auf, und durch die stille Luft kann ich hören, wie der Pumpenschwengel auf unsrem Hof auf und nieder geht. Finster und gewaltig steht hinter mir der Wald, aber hell und rötlich bestrahlt liegt der ganze Himmelsraum vor meinen Augen. Da zieht alles vorüber, was ich war und einmal werden möchte. Goldene Tore sind aufgebaut, und wie ein Traum­vogel~schwebt der Reiher über Säulen und Dach. Schmerz erfüllt mich und das tröstliche Gefühl des lebendigen Seins. Noch weiß die junge Seele nicht, wohin sie fliegen wird, aber sie fühlt die Kraft ihrer Schwingen, und ein glühendes Verlangen erfüllt sie, gut und groß zu werden, wie alle diejenigen, mit deren Bildern man von Kindheit an ihren Raum erfüllt hat. Manchmal schreibe ich hier einen Vers auf ein zerknittertes Blatt, aber nicht die Verse sind die Frucht dieser stillen Stunde, sondern die Bereitschaft, die aus ihr strömt, das Stillesein, das uferlose Erfülltwerden mit etwas, das ich nicht kenne und nicht nennen kann.

Die zweite Stufe

[...] Da­mals erschienen in billigen Volksausgaben zwei entscheidende und für uns verhängnisvolle Bücher, „Der alte und der neue Glaube“ von David Friedrich Strauß und die „Welträtsel“ von Haeckel. Und es ist keine Übertreibung, wenn ich sage, daß für viele von uns dieses letzte Buch an die Stelle der Bibel rückte. Alle Popular­-Philosophie hat etwas Gefährliches und sogar Gewöhnliches an sich. [...] Das Jahrhundert der Naturwissenschaften, in das wir hineingeboren waren, so groß und bewundernswert in seinen Versuchen, die Gestalt des Erd­geistes zu beschwören, prostituierte sich in diesem bekanntesten und berüchtigsten seiner Werke auf eine verhängnisvolle Weise, indem nun für jeden von uns die Göttin der Wissenschaft an jeder Straßenecke käuflich zu haben schien, während sich doch hinter der dünnen Schminke ihres Gesichtes nur die gewöhnlichen Züge des nackten Materialismus und einer frechen Gottesleugnung ver­bargen, die uns in den Stand setzten, mit billigen Witzen wie dem vom „gasförmigen Wirbeltier“ sich von allem Heiligen und Pie­tätvollen zu entblößen, das wir doch von Kindesbeinen an noch wider Willen im Blute trugen. [...]

Es ist nicht verwunderlich, daß in den so bereiteten Raum die damaligen Erschütterungen der Weltliteratur mit einer ungeheuren Gewalt einbrachen und daß etwa Dostojewskij, Strindberg oder Zola uns als die Offenbarungen einer neuen Apokalypse erschie­nen. [...]

Auch lebten wir ja noch in den Zeiten glücklicher Aufgeschlossenh­eit, in denen wir Raabe und Dickens mit derselben Inbrunst in uns aufnahmen wie jene erbarmungslosen Sezierer der Men­schenseele, und neben der düsteren Gestalt des Raskolnikow stand mit derselben Bedeutung für unsre Entwicklung die des Grünen Heinrich. Und wenn uns auch mancher Name getäuscht hat, so hat uns doch kein Dogma beschränkt. Wir hatten das Glück, keine Weltanschauung zu haben, was in diesem Alter immer nur eine angelesene oder eine angeredete sein kann, sondern nach einer solchen zu suchen, und es schadet nichts, daß viele von uns sehr spät und manche noch heute nicht damit fertig geworden sind. [...]

Die Sehnsucht, zu verehren, war eines der tiefsten Geschenke, die Natur auch uns verliehen hatte, und wenn auch Irrtum und Überschätzung des Idealbildes der Wirklichkeit nicht immer gerecht wurden, so lag in dieser Sehnsucht doch eine unsrer edelsten Kräfte eingeschlossen: der Trieb, aus dem Staub des Weges immer wieder aufzustehen und die Arme zu den Sternen auf­zuheben, die immer gleich fern und unerreichbar erschienen. Aber das Entscheidende an dieser Sehnsucht, zu verehren, war, daß sie eine freiwillige Sehnsucht war, indem sie das Bild des zu Ver­ehrenden selbst aussuchen wollte, und daß sie in Mißtrauen, Ab­lehnung und Verachtung umschlug, wenn sie zu einer Verehrung gezwungen werden sollte. [...]