Zu Judith von Halle

Es gibt kein gemeinsames „sachliches Feld“ zwischen visionärer Mystik und Geisteswissenschaft.

Auszüge aus: Thomas Meyer: Rudolf Steiner eröffnet in Stockholm die Vorträge über die Wiederkunft Christi im Ätherischen. Der Europäer, Dezember/Januar 2009/2010, S. 3-10.


Am 12. Januar 2010 werden auf den Tag genau hun­dert Jahre verflossen sein, seitdem Rudolf Steiner zum ersten Mal vor Mitgliedern der damaligen Theoso­phischen Gesellschaft auf die Tatsache des baldigen Wiedererscheinens Christi im Ätherischen hingewiesen hatte.
Ort und genauer Zeitpunkt dieser Verkündigung sind bemerkenswert. Sie geschah in Stockholm, wäh­rend einer Vortragsreihe über das Johannes‑Evangelium, war aber offensichtlich nicht, wie dieser inzwischen publizierte Zyklus, vorgesehen. Daher die ungewöhn­liche Zeit: 17 Uhr 30 nachmittags, wie der Chronik zu Steiners Lebensgang von Ch. Lindenberg zu entneh­men ist. [...]

Was lag hier vor, dass Rudolf Steiner, als damaliger Generalsekretär der deutschen Sektion der TG gänzlich überraschend vor dem achten Abendvortrag des Stock­holmer Johannes‑Zyklus, zu einem ganz ungewöhnli­chen Zeitpunkt und wie improvisiert, die Tatsache des Wiedererscheinens Christi in ätherischer Gestalt in die theosophische Hörerschaft stellte?

Eine spirituelle Ausgleichstat

Die Antwort ergibt sich nur indirekt. Um sie zu finden, muss der Blick auf die damalige Situation in der ge­samten Theosophischen Gesellschaft gerichtet werden. Nach anfänglich harmonischem Zusammenwirken mit deren Präsidentin Annie Besant, gingen Besants und Steiners Geisteswege seit 1907 mehr und mehr ausei­nander. Und zwar schieden sich diese Wege an der Fra­ge nach der Wesenheit Christi und der Bedeutung des Mysteriums von Golgatha. [...] Dazu kam die immer stärker werdende Ten­denz, eine physische Wiederverkör­perung dieser auch „Christus“ ge­nannten kommenden Buddhawe­senheit anzunehmen und zu erwarten. Diese Tendenz wurde nach dem Budapester Kongress von 1909 immer stärker. Maßgeb­lich dafür war auch das Wirken von Charles Leadbeater, einer mit okkult‑psychischen Fähigkeiten arbeitenden Persönlichkeit im unmittelbaren Umkreis von Besant. [...]

Im Jahre 1909 entdeckte nun Leadbeater in Indien den Knaben Krishnamurti (*um 1895), an dessen Aura er eine Persönlichkeit von außerordentlicher geistiger Größe zu erkennen meinte. Es dauerte nicht lange, und es stand für ihn fest: Dieser Hinduknabe war vom „Lord Maitreya“ zu seinem irdischen Vehikel ausersehen.

Am 10. Januar 1910 begann die von Leadbeater gelei­tete Einweihung Krishnamurtis. [...] Diese Einweihungs‑Zeremonie dau­erte drei Tage und endete am 12. Ja­nuar. An diesem selben Tage schrieb Besant an Leadbeater, gleichsam als Resumé der von ihr aus der Ferne mitverfolgten Phantasmagorie, denn Einweihung kann so etwas im wahren Sinne natürlich nicht genannt werden*: „Es steht also endgültig fest, dass der Lord Maitreya den Körper die­ses lieben Kindes in Besitz nehmen wird.“

Mit diesem Satz machte die Präsi­dentin der Theosophischen Gesell­schaft die falsche Auffassung einer physischen Wiederkunft des „Mai­treya‑Christus“ zum „endgültigen“ Dogma für die gesamte TG. Das war ein gewisser Tief‑ oder Endpunkt in der bei Steiner jahrelang beobachte­ten spirituellen Fehlentwicklung.

In irgendeiner – wohl okkulten – Form muss Rudolf Steiner von diesem Schlusskommen­tar Besants vom 12. Januar 1910 zur dreitägigen Phan­tasmagorie „benachrichtigt“ worden sein.

Er schritt unverzüglich zur geistigen Ausgleichstat und wies noch am selben Tag die seine Vortragsreihe über das Johannes‑Evangelium besuchenden Theoso­phen in Stockholm auf die Wahrheit von der ätherischen Wiederkunft Christi hin. Rudolf Steiner scheint weder damals noch später auf den indischen Veranlassungs­grund seiner unangekündigten Aufklärung über das ätherische Ereignis aufmerksam gemacht zu haben. Dies hätte wohl sofort zu einer heftigen Polemik innerhalb der Gesellschaft führen müssen.

Bekanntlich folgte dann Ende 1911 die Bildung des diese falsche Christus‑Verkörperung fördernden Ordens des „Sterns des Ostens“, den der deutsche Generalsekre­tär naturgemäß nicht in seiner Sektion anerkennen konnte, was 1912/13 schließlich zum Hinauswurf der von Steiner geleiteten Deutschen Sektion aus der TG führte.

Ein erstaunliches, zunächst rätselhaftes Phänomen ist, welche Persönlichkeiten auf diese geistige Phantas­magorie hereinfielen. Nicht zuletzt der um die Implan­tation des Sternenordens in der Deutschen Sektion be­mühte Wilhelm Hübbe‑Schleiden, einer der frühesten, tatkräftigsten Mitarbeiter Steiners in der Deutschen Sek­tion. In kürzester Zeit vermehrte sich der internationale Mitgliederkreis des Sternenordens. Die Spaltung inner­halb der TG war unaufhaltbar.

Wahre und falsche Imaginationen

Rudolf Steiner erlebte die Trennung von der TG nicht nur als Tragik, sondern auch als eine wahre Befreiung von jahrelang tolerierten Illusionen. Dies geht in ergreifender Art aus den Einleitungswor­ten hervor, die er an den Beginn des Haager Vortragszyklus (GA 145) Welche Bedeutung hat die okkulte Ent­wickelung des Menschen für seine Hül­len (physischer Leib, Ätherleib, Astralleib) und sein Selbst? stellte.

Es war dies der erste Vortragszyklus vor Mitgliedern der neu begründe­ten Anthroposophischen Gesell­schaft. Man muss ihn auf dem Hin­tergrund der in der theosophischen Zeit durchlebten Erfahrungen und gesammelten Erkenntnisse betrach­ten: Er enthält eine grandiose Dia­gnostik spiritueller Illusionen und Abwege und gibt zugleich die geistigen Therapiemittel an, um entspre­chende Fehlentwicklungen innerhalb der Anthropo­sophischen Gesellschaft zu vermeiden. [...] Steiner baut sorgfältig je eine Imagination über die We­senheit und die spirituelle Entwicklungsgeschichte des wahren physischen Leibes, des Ätherleibs, des Astrallei­bes und des Ich auf. Bei dieser Gelegenheit macht er im Kontrast dazu darauf aufmerksam, dass von Persönli­chem durchsetzte Imaginationen zwei Wirkungen ent­falten: 1. Sie wirken ansteckend. 2. Die von Ansteckung Befallenen werden das Opfer einer Paralyse des gesunden Menschenverstandes. Wörtlich sagt Steiner im zweitletzten Vortrag vom 28. März 1913:

„Nehmen wir aber an, es kommt in der hellsichtigen Entwickelung in der geschilderten Weise zu unrichtigen Imaginationen, dann wirken diese unrichtigen Imagi­nationen in einer gewissen Weise seelisch ansteckend.“ Und nun folgt die einschneidende Präzisierung, wie sie ansteckend wirken: „Sie stecken so an, dass sie gerade den gesunden Menschenverstand und die Intellektuali­tät auslöschen. Sie schaden also in einem ganz anderen Maße als die bloß intellektuellen Torheiten. Wenn man daher versucht, alles das, was auf dem Felde des Okkul­tismus gewonnen wird, zu durchdringen mit den For­men des gewöhnlichen Menschenverstandes, so tut man recht. Wenn man die Imaginationen ohne weiteres gibt und sie nicht in dieser Weise zu rechtfertigen sucht (...), dann übertölpelt man gerade dasjenige im anderen, was sich regen sollte zur Zurückweisung solcher Imaginatio­nen.“ (GA 145)

[...]

Geisteswissenschaft und Mystik – ein methodischer Unterschied

Den Unterschied dieser zwei radikal verschiedenen We­ge, die aus dem gewöhnlichen Sinnesbewusstsein he­rausführen, machte Rudolf Steiner im Vortrag vom 8. August 1920 (GA 199) in größter Klarheit deutlich: Die höheren geisteswissenschaftlichen Erkenntnisinstru­mente der Imagination, Inspiration und Intuition kön­nen als Umwandlungsprodukte der vergeistigten Funk­tionen gewisser höherer der insgesamt 12 Sinne des Menschen verstanden werden. Insbesondere kommen hier der Sehsinn (Imagination), der Hörsinn (Inspirati­on), der Begriffs‑ und der Ichsinn (Intuition) in Betracht. Aus der Vergeistigung der „unteren“ Sinne andererseits (deren Spektrum vom Lebenssinn bis zum Geruchssinn reicht) quellen die Erlebnisse der klassischen Mystiker und ihrer modernen Nachfolger. Insbesondere der um­gewandelte Geruchssinn spielt bei Mystikern eine pro­minente Rolle: „Wenn man die Mystik des Tauler, des Meister Eckhart nimmt, dann hat man so etwas von ei­nem Geruch, wie etwa die Rautepflanze riecht, einen herben, aber nicht unsympathischen Geruch.“

Und prinzipiell die beiden Wege (nach außen durch die höheren Sinne und nach innen durch die niederen Sinne) charakterisierend sagt Steiner:

„Kurz, das Frap­pierende (...) besteht darin, dass, wenn man sich durch die Sinne nach außen entfernt, man in eine höhere Welt hineinkommt, in eine objektive geistige Welt. Wenn man hinuntersteigt durch Mystik (...) dann kommt man in Körperlichkeit, in Materialität hinein (...) Beim inne­ren Erleben kommt man (...) immer in niedrigere Regio­nen hinein als diejenigen, die man schon im gewöhnli­chen Leben hat. (...) Die Mystik ist durchaus ein Produkt der materiellen, physischen Welt, sie ist nämlich die Art, wie Menschen in die geistige Welt eindringen wol­len, die eigentlich materialistisch bleiben, indem sie das, was hier ist, erst recht als Materie ansehen.“ [...]


Als Beispiel für auf mystischem Wege Gewonnenes führt u.a. Steiner „die Beschreibungen der höheren Welt in der Esoterik des Islam“ sowie die „Beschreibungen des Devachan vom Herrn Leadbeater“ an, in denen nur „Doubletten der physischen Welt“ geboten werden.

Etwas ganz Ähnliches aber kann gegenwärtig von zahlreichen Schilderungen in den Schriften von Judith von Halle gesagt werden. [...]

Das Böse riechen oder erkennen?

Eine Textprobe
[...] Die drei dunklen Könige brachten ihre Legierungs‑Ingre­dienzien dazu. Daraus wurden die Nägel gegossen. Sie waren dreikantig – gleichsam gegen das Trinitarische gerichtet –, und ihre Kappe war beabsichtigterweise nicht ganz symmetrisch rund. Während des Herstellungsvorganges ließen sie – dies war damals möglich – ihre satanischen Kräfte in das flüssige Erz hi­neinfließen. Es war, als würden die Worte selbst flüssig. Und als diese flüssigen Formeln in das Erz drangen, stieg ein bei­ßender Qualm empor. Man konnte das Böse riechen. So be­fremdlich es klingen mag – es ist doch möglich, das Böse zu riechen mit einem besonderen Organ. Es riecht nicht wie irgend etwas Ma­terielles, da es nicht an einen materiellen Träger gebunden ist. Man riecht – so wie man etwas sehen oder hören kann auf eine differen­zierte Weise – das Böse an sich. Diese übel riechenden Worte wur­den in dem erhärtenden Metall materiell. [...]
Judith von Halle, „Das Christliche aus dem Holz herausschlagen...“ – Rudolf Steiner, Edith Maryon und die Christus‑Plastik, Dornach 2007, S. 48ff. Kursiv durch den Autor.

Alter Wein in neuen Schläuchen?

Auf dem von Judith von Halle beschrittenen mysti­schen Weg kann also auch das Böse, ja sogar das Böse an sich (!) gerochen werden, sogar mit einem „besonderen Organ“. Wie stellt sich der Schüler der Geisteswissen­schaft zum Phänomen des Bösen, mit dem wir die ganze weitere fünfte Kulturepoche konfrontiert bleiben wer­den. Er muss es durch Imagination, Inspiration und In­tuition immer klarer und sicherer erkennen lernen! Dazu hilft ihm kein noch so hervorragend ausgebildetes besonderes Geruchsorgan.

Natürlich kann man sich mit dem mystischen Zu­gang zum Bösen begnügen. Das ist jedem freigestellt. Diesen Zugang aber für einen besonders hohen, ja sogar für einen auf geisteswissenschaftlichem Weg zu finden­den zu postulieren, ist objektiv unhaltbar. Die von J. von Halle mitgeteilten Inhalte unterscheiden sich ihrer Herkunft nach, insofern ihnen die oben charakterisierte subjektiv‑mystische Erlebnisform zugrunde liegt, nur unwesentlich von den Erlebnissen der führenden Theo­sophen, welche den Krishnamurti‑Popanz aufbauten.

Die Bezugnahme auf die Geisteswissenschaft ist nur eine äußerliche. Das Einflechten von geisteswissen­schaftlichen Begriffen in vielen ihrer Schriften kann über den methodisch ganz anderen und ins Subjektiv-­Unsichere führenden Weg, auf dem die Offenbarungs­inhalte gewonnen wurden, nicht hinwegtäuschen.

Wenn Judith von Halle ihre Offenbarungen vor ei­nem interessierten Publikum ausbreitet, dann ist daran natürlich nicht das Geringste auszusetzen.

Wenn aber der Anschein erweckt werden soll, dass ihre „Forschungen“ geisteswissenschaftlichen Charak­ter tragen, wie das vor allem ihre Anhänger versuchen, und die Forschungen Rudolf Steiners zu ergänzen oder gar zu erweitern vermögen, so ist das der Versuch, alten mystisch‑visionären Wein in Schläuchen mit der Auf­schrift „Geisteswissenschaft“ zu präsentieren.

Nicht gegen von Halles Person oder ihr absolutes Recht, die Ergebnisse ihrer mystisch‑visionären Schau­ungen – sie selbst betont sogar, dass es sich bei ihr nicht um „Imaginationen“ handle, die eben nur durch Um­wandlungen eines der höheren Sinne zu gewinnen sind – sind diese Zeilen gerichtet, sondern gegen die Vermen­gung von Geisteswissenschaft und visionärer Mystik der einen oder anderen Spielart.

Renaissance theosophischer Untugenden inner­halb der AAG?

Die um von Halle, ihre Stigmata und Offenbarungen entbrannten Kontroversen erinnern an den damaligen Kampf um die Akzeptanz des „Stern des Ostens“ inner­halb der TG. Mit einem beträchtlichen, bedenklich stimmenden Unterschied. Der Generalsekretär der Deutschen Sektion der TG lehnte die Integration des „Sterns des Ostens“ in die deutsche Sektion der TG ab; die heutige Leitung der AAG nahm die Selbsternen­nung der Halle‑Gruppe zu „einer Gruppe auf sachli­chem Feld innerhalb der Allgemeinen Anthroposo­phischen Gesellschaft“ zur Kenntnis, was einer An­erkennung der mit der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners methodisch vollkommen inkompatiblen Be­wegung gleichkommt.

Würden die beiden Strömungen, ohne sich zu behin­dern, ruhig nebeneinander laufen, wäre alles in bester Ordnung.

Aber die von‑Halle‑Bewegung, zu der ja auch zahl­reiche Mitglieder der AAG gehören, verlangt mit ihren neuen „Hübbe‑Schleidens“ geradezu, mit der anthropo­sophisch‑geisteswissenschaftlichen Bewegung vermischt zu werden. Das ist sachlich einfach nicht möglich. Es mangels Unterscheidungsvermögen dennoch anzustre­ben heißt, Verwirrung, Katastrophen und notwendige neue Spaltungen hervorzurufen. [...]

Es gibt eben kein gemeinsames „sachliches Feld“ zwischen visionärer Mystik und Geisteswissenschaft. [...]