Waldorfpädagogik

Waldorfpädagogik ohne Anthroposophie?

Rüdiger Keuler: Waldorfpädagogik ohne Anthroposophie? Zum Niedergang der anthroposophischen Pädagogik. Schriftliche Wiedergabe eines Vortrags vom 22.11.2003 in Pforzheim. [>> Volltext].


In diesem Vortrag möchte ich über den Zustand der anthroposophischen Pädagogik sprechen, wie ich ihn aus meiner Situation heraus wahrnehme. Wenn ich den Begriff anthroposophische Pädagogik gebrauche, meine ich nicht nur die Waldorfschulen, sondern auch die Waldorfkindergärten, die heilpädagogischen Schulen und Heime und die Internatseinrichtungen. Ich gebrauche dieses Wort also als Sammelbegriff. 

Der Standort, von dem aus ich diesen Zustand betrachte, ist der des anthroposophisch ausgebildeten Heilpädagogen, der in einer eigenen, ambulanten Praxis arbeitet. In meiner Praxis werden Kinder vorgestellt, die Verhaltensauffälligkeiten zeigen wie z. B. Aggressionen, Unruhe, provokatives, störendes Verhalten, aber auch Kinder, die Schwierigkeiten im Lernvermögen haben oder andere Entwicklungsrückstände aufweisen. Ich bin dann derjenige, der eine heilpädagogische Diagnose erstellen muss und die Therapie durchführt. Dazu gehören viele Gespräche, die ich mit Eltern, Erzieherinnen, Lehrern und anderen Pädagogen führe, um die Entwicklungssituation des Kindes so weit erklärbar zu machen, dass aus dem Verständnis dieser Situation die Möglichkeit erwächst, in der Umgebung des Kindes Veränderungen in der Erziehungshaltung der Erwachsenen zu bewirken und damit fördernd auf die Entwicklung des Kindes zu wirken.

Ich betrachte den Zustand der anthroposophischen Pädagogik auch aus der Sicht des ehemaligen Lehrers einer heilpädagogischen Waldorfschule und aus der Sicht des Vaters von fünf Kindern, die alle an eine Waldorfschule gingen oder noch gehen. Nicht zuletzt betrachte ich diesen Zustand auch als ehemaliger Waldorfschüler, also eine 40 jährige Wahrnehmung der anthroposophischen Pädagogik. [...]

Ist die Anthroposophie Voraussetzung der anthroposophischen Pädagogik?

Ich möchte mit einem Zitat von Rudolf Steiner beginnen:

"Das ist es aber, um was es sich handelt: Dass doch alle die einzelnen Unternehmungen herausgewachsen sind aus dem Mutterboden der Anthroposophie und man dessen eingedenk bleiben muss, dass man vor allen Dingen wirklich Anthroposoph bleiben muss, dass man dieses Zentrum nicht verleugnen darf, nicht verleugnen darf als Waldorfschul-Lehrer [...], nicht verleugnen darf als Mediziner, dass man niemals auch nur im Entferntesten auf die Gesinnung kommen soll, zu sagen: Ich habe für die allgemeinen anthroposophischen Angelegenheiten keine Zeit. Sonst könnte zwar eine Zeitlang in jeder dieser Unternehmungen Leben sein, weil die Anthroposophie als solche wirklich Leben enthält und geben kann, aber es könnte dieses Leben nicht auf die Dauer unterhalten werden. Es würde versiegen, auch für die einzelnen Unternehmungen." GA 257 Seite 84. [...]


1.  So wie jeder Handwerker, jeder Arbeiter, ein Instrument, ein Werkzeug braucht, sei es Zange, Hammer oder Hobel, so braucht auch der Pädagoge ein Instrument und das ist er selbst, seine ganze Wesenheit, seine Persönlichkeit.
[...] Das Erziehungsprinzip des zweiten Jahrsiebt z. B. ist die Autorität. [...] Wie macht er sich zu der geliebten, zu dieser würdigen Autorität? Zu der Autorität, der das Kind nachfolgen will, von der es sich etwas sagen lässt? Indem er sich mit der Anthroposophie so verbindet, dass sie wesensverändernd auf ihn wirken kann! 

2.  Das geistige Band zwischen Kind und Pädagogen muss gegeben sein, wenn Erziehung gesundend wirksam sein soll und nicht nur eine wesensfremde Wissensabfüllung, ein geistloses Trainieren von Funktionen. Rudolf Steiner nennt dieses Band die Imponderabilien. "Dasjenige, was wir heute gewinnen als unseren Vorstellungsinhalt, das ist im Grunde genommen etwas sehr, sehr Abstraktes. Durch diesen Vorstellungsinhalt können wir uns als Lehrer, als Pädagogen, als Erzieher auch dem werdenden Menschen nicht nähern. [...] Da bekommt man eine ganz andere Stellung zum Geiste, wenn man sich an dasjenige hält, was Geistwissenschaft geben kann." GA 301 Seite 61. Im weiteren Verlauf des Vortrags wird immer deutlicher, wie es die Geisteswissenschaft ist, die uns zur Realität führt und uns dadurch dem Kinde näher bringt, dazu beiträgt, die "Scheidewände" verschwinden zu lassen.

3.  Durch die Vertiefung der geisteswissenschaftlichen Menschenkunde, können wir immer besser die Entwicklungsgesetzmäßigkeiten des werdenden Menschen kennen lernen. Dadurch kommen wir nach und nach dazu, die Veränderungen im Wesensgliedergefüge des Kindes, zuerst ahnend, zunehmend deutlicher, wahrzunehmen. Das ist die Voraussetzung dafür, dass wir mit unseren Erziehungsmaßnahmen adäquat auf diese Entwicklung einwirken und dadurch zur Entfaltung der Wesenheit des Kindes wesentlich beitragen.

Im Heilpädagogischen Kurs geht Rudolf Steiner genauer darauf ein. Er schildert im zweiten Vortrag, wie der Pädagoge mit seinem höheren Wesensglied auf das darunterliegende des Kindes wirkt. Der Pädagoge wirkt mit seinem Ätherleib auf den physischen Leib, mit seinem Astralleib auf den Ätherleib, mit seinem Ich auf den Astralleib und mit seinem Geistselbst auf das Ich des Kindes. Ausdrücklich betont er, dass auch der allerschlechteste Erzieher mit seinem Geistselbst auf das Ich des Kindes wirkt. In dieser Hinsicht haben wir auch die Möglichkeit, uns der Hilfe der geistiger Wesenheiten zu versichern, die dieses Geistselbst nicht nur so keimhaft ausgebildet haben wie wir, die uns in der Sprache als der darin wirkende Sprachgenius zur Hilfe kommen. Wir lesen an dieser Stelle, wie wir unsere Wesensglieder so ausbilden, so gestalten müssen, dass sie ein instinktives Verhältnis zu dem entwickeln, was an Hemmungen in den Wesensgliedern des Kindes vorgeht, aber auch Wirkungen von diesen Wesensgliedern des Pädagogen ausgehen müssen, die gesundend und harmonisierend sind. [...]

Walter Holtzapfel hat ein kleines Büchlein über dieses pädagogische Gesetz geschrieben mit dem Titel "Wie wirkt der Erzieher". In dieser Broschüre sagt er, dieses pädagogische Gesetz wäre in der anthroposophischen Pädagogik von den Pädagogen zu wenig beachtet worden, weil es im Heilpädagogischen Kurs stand und von den Heilpädagogen, weil es das pädagogische Gesetz heißt.

Zu wenig beachtet, das kann man vom ganzen Werk Rudolf Steiners im Verhältnis zu uns Anthroposophen sagen.

Welche Entwicklung vollzog sich stattdessen?

Die oben beschriebenen Wirksamkeiten stellen die Voraussetzungen und den verbindlichen Kern der anthroposophischen Pädagogik und ihrer Wirksamkeit dar. Verbindlich im Sinne von verpflichtend. Natürlich habe ich die Freiheit, ob ich das will oder nicht. Diese Freiheit hört aber mit dem Eintritt in eine Einrichtung der anthroposophischen Pädagogik auf. Ob ich mich mit der Anthroposophie verbinden will oder nicht, diese Entscheidung, die muss ich fällen, bevor ich in eine solche eintrete.

Diese Wirksamkeiten setzen ein Verhältnis zur Anthroposophie voraus, das so intensiv und lebendig ist, dass es auf meine Wesensglieder verändernd wirken kann. Ein Verhältnis, welches mir so zum Bedürfnis werden muss wie die tägliche Nahrung. Ich gehe abends auch nicht ins Bett, ohne an diesem Tag physische Nahrung zu mir genommen zu haben. So kann ich mich als Pädagoge abends auch nicht schlafen legen, ohne an diesem Tag geistige Nahrung zu mir genommen zu haben, ohne mein Verhältnis zum Geistigen aufs Neue lebendig, gegenwärtig gemacht zu haben.

Ohne dieses Verhältnis ist anthroposophische Pädagogik, ist z.B. der Begriff Waldorfschule, ein Etikettenschwindel und damit eine Form des Betruges. Betrug am Kind, das aus seinem Karma heraus mit der Erwartung zu uns kommt, dass wir an der Entfaltung seines geistig-seelischen Wesens gesundend mitwirken, Betrug an den Eltern, die eher instinktiv, unbewusst, dieselbe Erwartung haben, Betrug an der Menschheit, deren Entwicklung das Ferment des geistgemäß erzogenen Menschen gar sehr nötig hätte. Betrug aber auch an unserem höherem Geistwesen selbst, denn wir laden ohne die Erfüllung dieser Verpflichtung schwere karmische Schuld auf uns.

Dieses Verhältnis zur Anthroposophie ist unbequem, anstrengend und mühsam. Immer wieder muss man feststellen, was man noch nicht kann, was man nicht versteht, was man nicht ist und immer wieder muss man es mit viel Geduld und Ausdauer von neuem versuchen. Hinfallen, aufstehen, weitergehen, dass ist das, was an der Geisteswissenschaft erlebt werden muss. Die Freude, die Erbauung und die Lust ist demgegenüber ein Arbeitsergebnis, das sich erst nach und nach einstellt. Dieses Verhältnis setzt auch voraus, dass ich meinen Egoismus und mein niederes Selbst immer mehr überwinden kann.

"Jeder Mensch weiß, wie ihm zunächst das als wahr gilt, was er in seinen Empfindungen und so weiter vorzieht. Erst diejenige Wahrheit aber ist die bleibende, die sich losgelöst hat von allem Beigeschmack solcher Sympathien und Antipathien der Empfindungen und so weiter. Die Wahrheit ist wahr, auch wenn sich alle persönlichen Gefühle gegen sie auflehnen. Derjenige Teil der Seele, in dem diese Wahrheit lebt, soll Bewußtseinsseele genannt werden." GA 9, Seite 46.


Nur durch die Bewußtseinsseele bin ich aber imstande, zu einem lebendigen Verhältnis zur Anthroposophie zu kommen.
Wenn wir Bücher von Rudolf Steiner so lesen wie man ein Kochbuch liest, nämlich mit der Verstandesseele, wäre es besser wir würden tatsächlich ein Kochbuch lesen. An mehreren Stellen weist uns Rudolf Steiner darauf hin. 

Was uns auch verhindert, zu diesem Verhältnis der Geisteswissenschaft gegenüber zu gelangen, dass ist die Eitelkeit. Darauf weist uns Rudolf Steiner im Heilpädagogischen Kurs im 10. Vortrag hin. Dort schildert er, wie mit dem Entdecken der geistigen Fähigkeiten Eitelkeiten heraufsprießen, die uns daran hindern, die richtigen Intuitionen zu haben und dadurch auf unsere weitere Entwicklung blockierend wirken, da sie uns zu einer Beute der Widersachermächte machen. [...]

Dazu kommt noch, den Menschen im Zeitalter des Materialismus ist ein passives Denken gegeben, ein Denken, das sich am äußeren Schein entwickeln will. Das aktive, selbstständige Denken, das Begriffe unabhängig vom Äußeren in einem rein geistigen Ausgestalten entwickelt, fällt dem heutigen Menschen sehr schwer. Dies umso mehr, da ihm über die modernen Medien schon in der Kindheit die Keime zu diesem aktiven Denken, durch eine Deformierung der Gehirnsubstanz ausgetrieben werden.

Aus dem Scheuen vor diesen Anstrengungen, dieser Mühsal und Geduld, die mit der Anthroposophie verbunden ist, nicht zuletzt aus der Unfähigkeit, den eigenen Egoismus überwinden zu können, ging im Laufe der Zeit die Anthroposophie aus der anthroposophischen Pädagogik immer mehr verloren. Das ist eine Entkernung, ein Unwirksammachen dieser Pädagogik. Als Eltern erlebten wir das wiederholt, dass auf Elternabenden von den Lehrern ausgesprochen wurde, ein Waldorflehrer müsse kein Anthroposoph sein. In der Waldorfkindergartenbewegung war das schon viele Jahre zuvor kein Thema mehr. Es genügte dort, eine anthroposophische Ausbildung zu haben. Mit der Zeit wurde auch das nicht mehr erwartet, eine staatlich anerkannte Ausbildung und das Vorhandensein äußerer Formen, z.B. Jahreszeitentische, Naturmaterialien zum Spielen, Jahresfeste etc., genügte, was darüber hinaus ging, war immer weniger von Interesse.

Damit verkommt die Waldorfschule zu einer Methodenpädagogik, was sie absolut nicht ist. Als Heilpädagoge musste und muss ich zunehmend erleben, wie ich bei anderen Pädagogen, die in sogenannten anthroposophischen Einrichtungen arbeiteten, auf Erstaunen und Unverständnis stieß, wenn ich in meinen Ausführungen von den Grundlagen der anthroposophischen Menschenkunde ausging. Die Wirksamkeit dieser Pädagogik ging damit zugrunde. Es wurde erlebt, wie diese, zuvor entkernte Pädagogik, den Problemen der Schüler immer weniger gerecht wurde. Viele Pädagogen bemerkten den Verlust nicht einmal. Man war der Meinung, wenn man eine anthroposophische Ausbildung hinter sich hatte, einige Werke von Rudolf Steiner im Regal standen, auf die jeden Tag der Blick, meist unbewusst, fiel, einmal in der Woche alibimäßig ein Abschnitt aus der Allgemeinen Menschenkunde in der Konferenz vorgelesen wurde, dass das ein ausreichendes Verhältnis zur Anthroposophie darstellte. Man vermied es sowieso, allzu oft den Namen Rudolf Steiner oder das Wort Anthroposophie in den Mund zu nehmen, da man sonst schnell als ewig gestriger Dogmatiker galt. [...]

Nachdem man diese Pädagogik so erfolgreich unwirksam gemacht hatte, glaubt man, die Ursache dafür, den Problemen der Kinder nicht mehr gerecht zu werden, in dieser Pädagogik selbst zu finden, die eben nicht mehr modern wäre, die man weiterentwickeln müsste, die den heutigen, ganz anderen Kindern, nicht mehr entsprechen würde. [...]

So entstand in der anthroposophischen Pädagogik ein Vakuum!

Was finden wir inzwischen in dieser Pädagogik?

Aus der Physik wissen wir, haben es vielleicht im Versuch selbst erlebt, dass ein Vakuum aus der Umgebung die Dinge anzieht. [...] Auch das Vakuum in der anthroposophischen Pädagogik hat aus der Umgebung die Dinge angezogen. Wir finden heute in der Anthroposophie, in der anthroposophischen Pädagogik und deren Umfeld, Weltanschauungen, Therapien, Erziehungskonzepte und esoterische Schulungswege, die von den Grundlagen der anthroposophischen Menschenkunde ausgeschlossen werden, diesen konträr gegenüberstehen. Auf der einen Seite Weltanschauungen, Schulungswege und Therapien, denen sich die Erwachsenen, die Erziehenden aussetzen, um sich dadurch ihre pädagogische Wirksamkeit noch mehr zu nehmen, auf der anderen Seite das, was wir den Kindern als Erziehungskonzepte "angedeihen" lassen.

Als Beispiel der ersten Art kann man auf Yoga verweisen. An vielen Waldorfschulen finden wir heute den Hinweis auf Yogakurse am schwarzen Brett angeschlagen. Rudolf Steiner hat die Anthroposophie, vom ersten Tag ihres Auftretens an, deutlich gegen alle medialen und atavistischen, vergangenheitsbezogenen Geisterkenntniswege abgegrenzt, weil diese der Menschheit der Gegenwart nicht mehr angemessen sind. Wer sein Werk daraufhin durchsucht, findet die Hinweise, dass ein solcher atavistischer Erkenntnisweg auf die leibliche, wie auch die seelische Gesundheit des Mitteleuropäers krankmachend wirkt. Seit Jahren habe ich in meiner Praxis immer wieder mit sogenannten Problemkindern zu tun, deren Verhalten damit in Zusammenhang steht, dass die Eltern oder ein Elternteil langjährig Yoga machen, das schwächt das Ich des Erwachsenen, so dass sie ihren Kindern immer weniger Halt geben können und es dadurch zu Entwicklungsstörungen und Spannungen kommt. [...]

Die andere Seite stellen die Dinge dar, die im Rahmen der anthroposophischen Pädagogik den Kindern angetan werden. Da finden wir zum Beispiel die Davis-Methode, die an zunehmend mehr Waldorfschulen Anwendung findet. Diese "Therapie" findet Anwendung bei der Legasthenie. Auch da wird den Widersachermächten der Zugriff auf das Ich durch das Unterbewusste gestattet. Es kommt zu erstaunlich schnellen Wirkungen, Wirkungen, die auf das Wesensgliedergefüge ausgeübt werden und auch in die zukünftigen Entwicklungsmöglichkeiten hineinwirken. [...]

Wir erleben, wie viele Waldorfschulen den sogenannten Frontalunterricht abgeschafft haben, weil man ihn für veraltet hält. Die Kenntnis der Waldorfpädagogik zeigt uns demgegenüber, wie zentral der Lehrer in dieser Pädagogik steht, wie viele Inhalte das Kind aufnimmt aus Zuneigung und Liebe zum Lehrer, wie viel an Lebensorientierung dem Kinde über die Person des Lehrers übermittelt wird. Ja, Rudolf Steiner bezeichnet den Lehrer als das Heilmittel gegen die Einseitigkeiten des Unterrichtes, vorausgesetzt er unterrichtet aus der Anthroposophie heraus. Diese Stelle finden wir in GA 304, Seite 82. [...]

Aber nicht nur von außen dringen diese pädagogischen Irrläufer in die Waldorfpädagogik ein, auch unter dem Deckmantel "anthroposophisch" finden Erziehungskonzepte in die Waldorfpädagogik Einzug, die deren Grundlagen gegensätzlich gegenüberstehen.

Indigokinder?

Aus Amerika erreicht uns der Lockruf des pädagogischen Goldes. Die sogenannten Indigo-Kinder sollen uns in ein spirituelles Zeitalter führen und das goldene Zeitalter einleiten. Sie sollen diese Aufgabe haben, wo bleibt da die Idee von der Freiheit der Individualität. Wir können also getrost die Füße hochlegen, diese Kinder werden das Weltenschiff schon schaukeln. Es sind alte, reife Seelen, Eingeweihte, die mündig geboren werden, mit denen wir alle unsere Erziehungsmaßnahmen besprechen, deren Einverständnis wir diesbezüglich einholen müssen. [...]

In die Waldorfpädagogik hat diese abstruse Idee von den Indigo-Kindern unter dem Pseudonym Sternkinder Einzug genommen. In dem gleichnamigen Buch von Georg Kühlewind lesen wir auf Seite 70: "..sie Sternkinder zu nennen ist mein Vorschlag; in den USA nennt man sie meistens Indigo-Kinder." Auf Seite 71 lesen wir: "Man muss alles mit ihnen besprechen, wenn man sie anhält, etwas zu tun. Die Besprechung ist auch dann angebracht, wenn sie vom Alter her das Besprochene noch gar nicht verstehen könne, denn sie fühlen sich auch in diesem Fall geschätzt und gewürdigt." [...]

Auf Seite 111 des Buches "Sternkinder" lesen wir dann noch dies: "Respekt bedeutet, dass wir dem Kind nichts, keine Gewohnheit, keine Maßnahmen aufdrängen, ohne sie ihm zu erklären oder - wenn sie umfassender Art ist - seine Zustimmung zu gewinnen." Wenn ich ein Kind so erziehe, wie es dort empfohlen wird, so erziehe ich es zu schweren Verhaltensstörungen. Ich zerstöre ihm die Möglichkeit der Nachahmung, siehe meinen Artikel: "Hat die Nachahmung als Erziehungsprinzip ihre Bedeutung verloren?", Pelagius-Heft I. Ferner führe ich es zu früh an ein eigenes Urteil heran. Das Urteil vollzieht sich aus dem Astralleib heraus, dieser arbeitet bis zum 14. Lebensjahr, wo die Geburt des Astralleibes stattfindet, im physischen Leib. Erziehe ich das Kind davor zum eigenen Urteil, so ziehe ich den physischen Leib zur Urteilsbildung heran. Das bleibt ein ganzes Leben so. Der Mensch bleibt dadurch abhängig im Urteil von Lust und Unlust, Wünschen und Begierden, siehe meinen Artikel: "Erziehung ohne Autorität", Pelagius-Heft I. Er findet dadurch niemals zu seinem Karmaimpuls, ist unzufrieden mit seinem Leben und dadurch anfällig für psychische und physische Erkrankungen und für den Drogenmißbrauch.

Anfang des Jahres wurde in meiner Praxis ein lernbehindertes Kind vorgestellt. Das Kind ging in die 3. Klasse, zeigte aber das Lernverhalten eines Vorschulkindes. Sollte es etwas wiederholen oder üben, versuchte es immer zu etwas anderem überzugehen. Der Mutter musste ich sagen, dass dieses Kind einen schulisch verwilderten Eindruck machte. Da die Situation des Kindes sich in der Schule immer schwieriger gestaltete, wurde ich zur Hospitation eingeladen. Es handelt sich um eine integrative Waldorfschule, dass heißt, 20 sogenannte normale Kinder werden mit 5 Kindern gemeinsam unterrichtet, die in irgendeiner Form ein Entwicklungsdefizit zeigen. Es unterrichten jeweils zwei Lehrer in einer Klasse. [...] Allgemein war ein undiszipliniertes und freches Verhalten den Erwachsen, aber auch den anderen Kindern gegenüber zu bemerken und es war zu erleben, dass sich je höher die Klassenstufen gingen die Schüler immer mehr gegen Regeln und Autorität auflehnten. Als ich nach Hause fuhr war mir übel von den Erlebnissen und ich kam zu dem Schluß, wenn das eine Waldorfschule wäre, so würde ich meine Kinder lieber auf eine staatliche Schule geben, da gibt es wenigstens noch Form und verbindliche Regeln. Selbst in Schulen für Schwererziehbare, in denen ich schon hospitiert habe, war kein solches Chaos zu erleben.

Am anderen Tag fand ich dann des Rätsels Lösung. Im Buchhandel stieß ich auf die Zeitschrift "Mensch". Auf der ersten Seite stand ein Artikel von einem Jörg Undeutsch, in dem er mitteilte, dass diese Schule nach dem Erziehungskonzept von Georg Kühlewind arbeitet und sie auch in den höchsten Tönen lobte. Wenn man an den Mythos "Sternkinder" glaubt, so kann man sich geehrt fühlen, so viele alte, weise Seelen, die die Zukunft der Welt zum Spirituellen lenken werden, in dieser Schule anwesend zu wissen. Tut man das nicht, nimmt man Kinder mit Entwicklungsstörungen bis hin zu schweren Verhaltensauffälligkeiten wahr, und eine Lehrerschaft, die die Kinder dazu erzieht.

Man könnte sich gelassen zurücklehnen und zuschauen, wie sich solche pädagogischen Irrwege von selbst korrigieren, wenn nicht für die Kinder so viel Leid damit verbunden wäre und wenn nicht die Öffentlichkeit diese Irrwege mit Waldorfpädagogik und Anthroposophie verwechseln würde. So entsteht von beiden ein völlig falsches, gefährlich falsches Bild in der Gesellschaft.


Es hat mich die Suche nach den Ursachen sehr beschäftigt. Entsteht so etwas aus der Erkenntnisbequemlichkeit, aus Dummheit, aus dem Egoismus, aus der Eitelkeit etwas besonderes sein zu wollen, oder steht noch etwas anderes dahinter?

Fündig wurde ich dann im Buch von Henning Köhler "War Michel aus Lönneberga aufmerksamkeitsgestört?" Dazu muss man wissen, dass Herr Köhler ein enger Mitstreiter von Georg Kühlewind ist. Beide treten häufig zusammen in der Öffentlichkeit auf und unterstützen sich und ihre Theorien gegenseitig, wie man leicht aus ihren Veröffentlichungen entnehmen kann. In besagtem Buch finden wir auf Seite 261 über Georg Kühlewind folgende Aussage: "In seinen zahlreichen Büchern werden Elemente aus der Anthroposophie, dem spirituellen Christentum, dem Zen-Buddhismus und eigener Geistesforschung auf spürbar erfahrungsgesättigte Weise verschmolzen, dies mit einem gedanklichen Anspruch, der die Grenze zur Fast-Food-Esoterik dankenswert deutlich markiert." Aktuell finden wir den Zusammenhang Georg Kühlenwinds mit dem Zen-Buddhismus auch in "Anthroposophie weltweit" Nr. 10 aus 2003, Seite 8, in dem Artikel "Können sich anthroposophischer Schulungsweg und buddhistische Praxis ergänzen?". [...]

Dann besuchte ich einen Vortrag von Georg Kühlewind. In diesem Vortrag sagte Herr Kühlewind, es bedürfe einer neuen Menschenkunde, die von Rudolf Steiner wäre überholt, da er von diesen Kindern nicht gesprochen hätte. Das ist nicht wahr. Rudolf Steiner spricht von diesen Phänomenen z. B. in GA 296 auf Seite 94 oder in GA 143 auf Seite 179. Er nennt diese Kinder aber nicht Indigo-Kinder, er spricht auch nicht aus einem New Age Geschwafel heraus, sondern stellt diese Phänomene in eine sachgemäße Menschenkunde hinein.

Ferner sagte Herr Kühlewind, die Waldorfpädagogik müsste bis auf zwei oder drei Grundsäulen vollständig erneuert werden. Er implizierte dabei, dass er derjenige wäre, der dies könnte, und er nannte den Frontalunterricht einen typologischen Ansatz und deshalb veraltet. Wer sich mit den "Sternkinder/Indigo-Kinder" beschäftigt, findet eine deutliche Typologie vor, was man aber von der Waldorfpädagogik nur behaupten kann, wenn man sie nicht verstanden hat und zwar schon in den Ansätzen nicht verstanden hat.

Diese Vorstellung "Sternkinder" schiebt sich als ein unwahres, unrichtiges Bild vor die geistige Welt und verwehrt dadurch den Menschen, die daran glauben, den Blick auf das wirkliche Spirituelle und dessen Verständnis. Da es durch seine Unwahrheit, oder besser gesagt Halbwahrheit, gedanklich nicht zu bewältigen ist, wenn man diesen Sachverhalt nicht durchschaut, wenn man nicht die Kraft hat, durch den Nebel, den dieses Bild verbreitet, hindurch zu finden, erzeugt es Abhängigkeit von dem, der diese Vorstellung verbreitet. Es entsteht ein Guru-Anhängerschaftsverhältnis. Deswegen braucht man den Anhängern auch nicht mit Argumenten zu kommen, sie wollen sich nicht mit den Widersprüchen auseinandersetzen und werden ärgerlich, wenn man sie aus ihrem Schlaf wecken will. [...]

Zurück zum Buch von Henning Köhler "War Michel von Lönneberga aufmerksamkeitsgestört." Henning Köhlers Ansichten, die der Erkenntnisbequemlichkeit entgegenkommen, finden an Waldorfschulen immer mehr Zuspruch. Es ist ja großartig, wenn Eltern, die ein schwieriges Kind haben und danach schauen müssten, was sie bei sich und in ihrer Erziehung zu verändern haben, stattdessen zu hören bekommen, ihr Kind habe ein "unzeitgemäßes Begabungsprofil". Also die Gesellschaft ist noch nicht so weit, mit dieser alten, weisen, spirituellen Seele zurechtzukommen. Da können sich die Eltern geadelt fühlen ein solches Kind zu haben. Wem ist damit geholfen? Es verkauft sich gut, die Auflagen steigen! Gefährlich ist das deshalb, weil es keine Unwahrheiten, sondern Halbwahrheiten sind und deswegen viel schwerer zu durchschauen. [...]

Zusammenfassung und Zukunftsperspektiven

Eine kritische Auseinandersetzung mit der Situation, in der sich die anthroposophische Pädagogik und nicht nur sie, sondern die gesamte Anthroposophie in ihren offiziellen Erscheinungsformen, befindet, ist immer weniger gefragt. Seit Jahren werden meine Artikel, und nicht nur die von mir, in anthroposophischen Zeitschriften nicht mehr veröffentlicht. Herr Riethmüller, Redakteur von "Erziehungskunst", hat seine Ablehnung so zum Ausdruck gebracht: "Sie bevorzugen eine programmatische Auseinandersetzung mit dem Gewährsmann Rudolf Steiner im Hintergrund", dem weiteren Brief ist dann zu entnehmen, dass er Rudolf Steiner für überholt hält. Letzteres äußert auch Jens Heisterkamp (Info 3) in aller Öffentlichkeit. Aus diesem Grund habe ich im September 2003 eine eigene Zeitschrift gegründet. Im "Pelagius-Heft" können alle die zu Wort kommen, die einen kritischen Blick auf die anthroposophische Pädagogik und die Anthroposophie werfen und Rudolf Steiner immer noch als einen modernen und gültigen Maßstab betrachten.

Wenn wir als anthroposophische Pädagogen ein Bewusstsein von der Verantwortung haben, die wir Rudolf Steiner und der Anthroposophie schuldig sind, so müssen wir große Anstrengungen leisten, um dieses Vakuum, dass entstanden ist, mit anthroposophischem Inhalt zu füllen, nicht mit Pseudo-Anthroposophie. Die grandiosen Möglichkeiten, die wir in der Anthroposophie vorfinden und für die Pädagogik nutzbar machen könnten, sind bisher nur in bescheidenen Spurenelementen vorhanden, sie hoffen immer noch auf die Verwirklichung. Sie sind bisher nur als Potential gegeben, aber nicht zur irdischen Wirksamkeit gebracht worden. Ich möchte nicht in Abrede stellen, dass es da oder dort einzelne Persönlichkeiten oder kleinere Gruppen gibt, die sich redlich um die Anthroposophie Rudolf Steiners bemühen, zum Tragen kommen diese Bemühungen nicht, sie hemmen höchstens örtlich den rapiden Niedergang. [...]

Eine Erneuerung des anthroposophischen Impulses und Wirkens auf Erden, ist meiner Meinung nach ohne die Erneuerung ihrer Pädagogik nicht möglich.

Rüdiger Keuler, Heilpädagoge