Waldorfpädagogik

Der Verfall der Waldorfpädagogik

Rüdiger Keuler: Die gegenwärtige Situation in der Erziehung. Michaeli 2007. [>> Volltext].


[...] In dem Zyklus „Aus der Akasha-Forschung, das fünfte Evangelium“ GA 148 schildert Rudolf Steiner in dem Vortrag, der am 5. Oktober 1913 in Oslo, damals Kristiania, gehalten wurde, wie Jesus vor der Taufe im Jordan, also zu der Zeit, als man noch nicht von Jesus Christus sprechen konnte, die damaligen noch vorhandenen Opferstätten des Heidentums aufsuchte. Diese alten heidnischen Opferstätten entstanden aus einem großen, aber atavistischen Wissen des Zusammenhangs des Menschen mit dem geistigen Kosmos und der in ihm wirkenden Wesenheiten. Zur Zeit des Mysteriums von Golgatha befand sich dieses Wissen jedoch schon in einem fortgeschrittenen Verfall. [...] 

An die Stelle der alten Gottheiten waren, von den Menschen unbemerkt, vielerorts Dämonen getreten, denen nun geopfert wurde und die man verehrte. Die Menschen, die in der Umgebung dieser Opferstätten lebten, waren Krankheiten und Siechtum ausgesetzt, da die Gesundheit spendenden, dem Menschen wohlwollend gegenüberstehenden göttlichen Wesenheit nicht mehr im Zusammenhang mit ihnen standen. [...]

Die Situation, in der sich die Waldorfpädagogik in der Gegenwart befindet, ist mit dem zu vergleichen, was Rudolf Steiner in diesem Vortrag schildert. Jeder Waldorfleerer meint heute, ohne die geisteswissenschaftliche Erkenntnis der Methode, die er im Unterricht jeden Tag zur Anwendung bringt, oder bringen sollte, auskommen zu können. Damit wird die Waldorfpädagogik dem Zugriff der dämonischen Wesenheiten, die die geistige Substanz nicht selbst schaffen können, aber für ihr eigenes Wirken zum Schaden der Menschheit brauchen, ausgeliefert, da sich die am Fortschritt der Menschheit zum Heil engagierten Wesenheiten zurückziehen müssen. Das Klassenzimmer, welches ein Altar sein sollte, an dem im Namen der Gottheit, aus dem spirituellen Wissen heraus ein Kultus, die Erziehung des Kindes zum Menschsein, sich vollziehen könnte, verwandelt sich dann in einen Raum, in dem sich die Dämonen in der Erziehung tummeln. Wobei wieder einmal betont werden muß, daß die Anthroposophie kein Unterrichtsgegenstand ist, sondern das Kind aus der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis dessen, was dieses Kind für eine gesunde Entwicklung braucht, zu einer Entfaltung der besten Kräfte, die in ihm liegen, gebracht werden kann. Diese Dämonen sind natürlich nicht nur im Unterricht, sondern auch im Kollegium, ja in der ganzen Schule vorhanden. Dadurch wirkt das Medium der Erziehung, der Lehrer, krankmachend auf das Kind.

Das ist jedoch etwas, was sich erst im Laufe der Jahre bei dem betreffenden Menschen herausstellen wird, und dann ist es schwierig, den Bezug herzustellen zu dem, was vor vielen Jahren im Unterricht stattgefunden hat, schon deshalb, weil die wenigsten Menschen heute bereit sind, so weitreichend zu denken. Verantwortung in der Pädagogik geht heute viel weiter, als man sich hinter dem Schreibtisch seiner Bequemlichkeit träumen läßt. Niemand entbindet mich als Pädagoge aus dieser Verantwortung, ob ich das gewußt habe oder nicht. Es besteht ja heute die Möglichkeit dieses Wissen zu erfahren, jeder der sich innerlich mit den ihm anvertrauten Kindern weit genug verbindet, macht sich ihnen zuliebe auf den Weg, um die mit diesen Kindern verbundenen individuellen menschenkundlichen Rätsel zu lösen. Auf diesem Weg jenseits der Bequemlichkeit hätte er die Antwort auf alle seine pädagogischen Fragen finden können. Diese Anforderung muß in der Gegenwart an jeden Pädagogen gestellt werden. [...]

Die Kinder nehmen das wahr, wie [...] wahrhaftig ein Lehrer ist. Die Lehrer, die sich noch einigermaßen um den inneren Zusammenhang der Waldorfpädagogik bemühten, und die, die sich darum nicht scherten und einen zwar dürftig-abstrakten, aber ehrlichen Staatsschulunterricht machten, waren und sind die bei den Kinder beliebten Lehrer. Die Eurythmielehrerin, die Joga machte, wurde gehasst bis aufs Blut von allen meinen fünf Kindern. Die Kinder bäumen sich gegen diese Unwahrhaftigkeit, mit der sie unterrichtet werden, auf. Je mehr sich diese an geistiger Kraft und Stärke aus dem Vorgeburtlichen mitbringen, umso heftiger. [...]

Zustand der Verwaltungspädagogik

Dem gegenüber erhebt sich die Frage, ist der Zustand in der staatlichen Pädagogik denn ein besserer? Aus meiner Erfahrung mit ihr, müßte die Frage anders gestellt werden: gibt es in dieser überhaupt noch etwas, was verfallen kann? Ist eine ungeeignetere Erziehung überhaupt denkbar? Das Wissen um den Menschen und seine Entwicklungsgesetzmäßigkeiten ist dieser Pädagogik völlig abhanden gekommen. Das Menschenbild, das jeder Erziehung bewußt oder unbewußt unterlegt ist, hat sich völlig in die Abstraktion hinein verflüchtigt. Die ganze Pädagogik findet ihren Ausgangspunkt am Schreibtisch, Lichtjahre entfernt von der Realität des Kindes, von der geistig-seelisch-leiblichen Wesenheit Mensch. Das kann man schon daran sehen, daß diese Pädagogik von Ressourcen, von Humanressourcen, von Humankapital spricht. Und je weniger jemand eine Ahnung hat von Pädagogik, umso weiter bringt er es in diesem Schulsystem.

Die Kinder werden ihren Einseitigkeiten überlassen oder diese werden noch verstärkt, ihr Elend wird verwaltet. Informieren, trainieren, reflektieren, ermahnen und belehren, etwas anderes findet nicht mehr statt. Ausfüllen, ausmalen, ausschneiden und einkleben, auf diesen Nenner hat es vor einiger Zeit eine Kinder- und Jugendpsychiaterin gebracht, nachdem sie über einige Jahre hinweg den Unterricht an einer staatlichen Schule begleitet hatte. In den 14 Monaten, in denen ich an einer solchen Schule als Unterrichtsbegleiter arbeitete, habe ich nur erleben können, daß der Unterricht auf Grund eines Formblattes, das einem Lehrcomputerprogramm entnommen war, vollzogen wurde. Über schwierige Kinder wird anhand der Aktenlage von Beamten entschieden, die dieses Kind in der Regel selbst gar nicht kennen und auch gar nicht das Bedürfnis dazu haben, da käme man ja ins Grübeln, wenn einem bewußt werden müßte, daß man da über ein Schicksal entscheidet, aber keine Grundlagen dafür hat.

Wenn in der Erziehung nur der Kopf, nur abstrakt erzogen wird, so veranimalisieren das Gefühl und der Wille immer mehr. Was dabei herauskommt, können Sie überall auf der Straße „bewundern“. Aggressivität, Vandalismus, Animalität, Sexismus, kurz, die Befriedigung der niedersten menschlichen Triebe und Instinkte spielen in der Kultur der Heranwachsenden eine immer größere Rolle, der Fernseher und der Computer tun das ihrige nach Kräften hinzu. (Hören sie sich einmal eine Unterhaltung zwischen Jugendlichen an, die Sätze sind gespickt mit Obszönitäten und Fäkalien, seinen Kameraden als Wichser anzusprechen, gilt in den meisten Kreisen nicht als Beleidigung, sondern als normale Ansprache). Die Vertreter des staatlichen Schulsystems glauben, es mit Problemen zu tun zu haben, die von außen kommen, aber noch nicht einmal das kann von allen Pädagogen eingesehen werden, sie verstehen nicht, daß das System selbst ein Teil, ein großer Teil des Problems ist. [...]

„[...] Und vor allen Dingen schädigen wir das ewige Leben des Kindes, wenn wir nicht Gefühl und Wille ausbilden. Denn das Denken, das wir uns mitbringen durch die Geburt, das findet seinen Abschluß hier in dieser sinnlichen Welt. Das stirbt mit uns. Allein dasjenige, das wir durch Gefühl und Wille ausbilden, was allerdings dann unbewußt sich wiederum mit neuen Gedanken durchsetzt, nehmen wir durch die Pforte des Todes mit. [...]“
Rudolf Steiner, „Nordische und mitteleuropäische Geistimpulse“, GA 209, Seite 50.


[...] Das Krankmachende dieser Pädagogik beschränkt sich nicht nur auf die Kinder, denen das Göttlich-Geistige in ihrem Wesen so gründlich ausgetrieben wird, daß sie dem seelischen Tode anheim fallen müssen, es wirkt auch auf die Pädagogen selbst in dieser Art zurück. Ein großer Teil der Lehrer ist ausgebrannt, leidet an einem latenten Burn-out Syndrom und schleppt sich unter Mühen bis zur Rente hin. Das bringt aber niemand mit dem in Zusammenhang, was er als Gedankengut in sich trägt und als Unterricht an die Kinder heranbringt, das wird mit dem Schwierigsein der Kinder, mit den Anstrengungen des Berufes erklärt. 

Welche Konsequenzen hat das für den Pädagogen?

[...] [D]urch seine Erziehung wirkt der Pädagoge tief in das zukünftige Leben des Kindes hinein. Gestaltet dieser sein Wirken in der richtigen Art, so wird das Kind in seinem Leben ganz andere Fähigkeiten und Früchte erwerben können, als wenn ihm diese Möglichkeiten durch Nachlässigkeit, Bequemlichkeit, Interesselosigkeit des Erziehenden verbaut wird. Und das bedeutet immer Lieblosigkeit, denn aus der Liebe zum Kinde arbeite ich an der Veränderung meiner Möglichkeiten, bin auf der Suche nach der Beantwortung meiner menschenkundlichen Fragen und wenn ich diese tief genug empfinde, führt mich mein Schicksal zur Geisteswissenschaft, die mir diese Fragen beantworten kann. [...]

Die meisten Menschen verschlafen heute diese schon hoffnungslos zu nennende Situation in der Erziehung, dadurch wird sie aber nicht besser. Als Pädagoge begehe ich dann Fehler, die ich mit dem geisteswissenschaftlichen Wissen vermeiden könnte, als Eltern verstricke ich mich selbst in das Geschehen, da ich das unterlasse, was zu einer Verbesserung der Verhältnisse, in denen mein Kind aufwachsen muß, führen könnte und für uns als Gesellschaft muß man sagen, es rollt eine riesige Lawine an animalischem Verhalten der Heranwachsenden auf uns zu. [...] Die Ursache dafür werden wir in der völligen Unfähigkeit der Erziehenden zu suchen haben, die Erziehung so zu gestalten, daß sie der geistigen Wesenheit Mensch und deren Entwicklungsgesetzmäßigkeiten gerecht wird und zu einem menschenwürdigen Dasein führen kann.

Was also ist zu tun, als Eltern, die nach der Schule suchen, die für ihr Kind am besten ist? Wie findet man die Durchfahrt zwischen Skylla und Charybdis? Die Not, für das Kind die richtige Schule zu finden, ist für viele groß. Ich habe mein ganzes bisheriges Berufsleben lang die Waldorfschule empfohlen. Seit ich in den letzten Jahren erlebe, in welch rasantem Tempo sich diese ahnungslos selbst die Grundlagen zerstört, sage ich den Eltern, sie sollen sich selbst ein Bild machen und schauen, wem sie mehr Vertrauen entgegenbringen können. Es handelt sich wirklich nur noch darum, das kleinere Übel zu finden und das ist nicht immer die Waldorfschule. Es blutet mir als ehemaligem Waldorfschüler und überzeugtem anthroposophischen Pädagogen das Herz bei dieser Aussage, aber es ist die Wahrheit. Von dem, was Waldorfpädagogik sein soll und sein kann ist nicht mehr viel übrig. Allzuviele staatliche Pädagogen mit notdürftiger Waldorflasur haben dort ihre Lebensnische gefunden. [...]

Rüdiger Keuler