10.05.2011

„Heute ahne ich, dass es diese Brücke gar nicht gibt“

Im März erschien ein kleines Büchlein von Irene Diet: „Das Geheimnis der Sprache Rudolf Steiners. Vom ungelösten Rätsel des Verstehens.“ Diet beginnt mit einer Vorbemerkung:

Einem Außenstehenden müssen die großen und zahlrei­chen Differenzen, die es zwischen denjenigen gibt, die sich doch alle als „Anthroposophen“ bezeichnen, sehr fragwür­dig und unverständlich erscheinen. Und ich selbst, die ich diese Differenzen ganz besonders stark erlebe, habe mich immer wieder gefragt: Wie kommt es, dass ein und das­selbe Werk – das Werk Rudolf Steiners – so verschiedenar­tige Interpretationen und Lebens‑Ansätze in sich trägt? Wo liegt das, was uns voneinander unterscheidet? Und vor allem: Wie finde ich das, was uns verbindet? Wie kann ich eine Brücke zu dem anderen „Anthroposophen“ finden, mit dem ich ganz und gar nicht einverstanden bin?
Heute ahne ich, dass es diese Brücke gar nicht gibt. Dass ich mich damit abfinden muss, einen unüberbrückbaren Unterschied zwischen mir und vielen der anderen, die sich mit Rudolf Steiner beschäftigen, anzunehmen und zu akzeptieren. [...] Denn dieser Unterschied betrifft die Art und Weise, wie die Anthroposophie Rudolf Steiners erlebt wird. [7]


Es ist interessant, dass Irene Diet dies sagt, denn sie selbst bekämpfte Mieke Mosmuller in der Weihnachtsausgabe der „Anthroposophie“ und einem weiteren im Lochmann-Verlag veröffentlichten Aufsatz in wüster und haltloser Weise. Nun aber bekämpft sie sie auch in ihrem Büchlein. An dieser Stelle werde ich auf diesen Teil nicht eingehen, weil noch zahlreiche andere Fragwürdigkeiten aufzuzeigen sind.

Fortwährend geht es Irene Diet um den exakten Wortlaut Rudolf Steiners etwa in seiner „Philosophie der Freiheit“, an den man mit dem eigenen ehrlichen Nicht-Verstehen anstoßen müsse. Das beginne schon da, wo Steiner nicht „ich/man“ schreibt, sondern „Das Ich“. Einen Beispielsatz betrachtend, schreibt sie, vielleicht stelle sich nun das Erlebnis ein, dass man den Satz, so wie er ist, nicht verstehen könne, dass er einem fremd bleibe, dass man ihn in voller Ehrlichkeit nicht selbst aussprechen könnte – denn dann müsste man außerhalb dieses „Ich“ stehen, man sei aber identisch mit ihm.

Das ist, möchte man sagen, sinnlose Extrem-Wortklauberei. Bleibt mir der Satz fremd? Kann ich ihn nicht selbst aussprechen? Oder kann ich ihn nicht verstehen? Drei völlig unterschiedliche Realitäten – Diet wirft sie jedoch alle in eins. Rudolf Steiner selbst hat sogar für die Ergebnisse der höheren Geistesforschung betont, dass man sie mit dem „gesunden Menschenverstand“ verstehen könne. Um wie viel mehr muss dann ein Verstehen von Rudolf Steiner erwartet worden sein, wenn es noch gar nicht um diese höhere Geistesforschung geht?

Das Ich“ ist ein Hinweis auf eine in jedem Menschen aufzufindende Realität. Rudolf Steiner will den Leser ja gerade auf dessen eigenes Ich verweisen, welches in der Aufmerksamkeit auf die beschriebenen Sachverhalte erweckt werden soll!

Denken als Tastorgan – was stößt wo an?

Im Kapitel „Denken als seelisches Tastorgan“ schreibt sie, dass Rudolf Steiner Sätze gebiert, „die nicht nur Gedanken sind, sondern Wesenheiten.“ Diese träten als „unmittelbare Form“ auf,

[...] an die wir, indem wir sie zu denken versuchen, „anstoßen“. Und zwar so, dass wir denkend erleben, wie wir sie auf unsere gewohnte Art und Weise „nicht denken“ können. Oder anders ausgedrückt: Es ist diese „unmittelbare Form“ der Sätze Rudolf Steiners, die uns „abstößt“. [...]
Gedanken werden im Allgemeinen so erlebt, dass der Denker mit ihnen verschmilzt und sich daher im Denken selbst vergisst. Stoße ich aber mit meinem Denken am Nicht‑Verstehen, Nicht‑Denken‑Können an, werde ich mir als Denkender selbst bewusst. Und so erleben wir an den Sätzen Rudolf Steiners nicht nur deren Formen, sondern vor allem – uns selbst. [45]


Direkt im Anschluss bringt sie ein längeres Steiner-Zitat:

Man lernt ein Denken kennen, in dem man sich fühlt als in einem Kraftträger des eigenen menschlichen Wesens. [...] Und wie man weiß, man kann mit dem Finger nicht überall durch, so weiß man mit dem realen Denken, in das man da hineinkommt, man kann mit ihm nicht überall durch. Das ist der erste Schritt. Diesen ersten Schritt muss man machen, das eigene Denken durch Aktivierung zu einem seelischen Tastorgan zu machen [...]
19.8.1923, GA 227, S. 41.


Wie kommt es, dass Diet nicht einmal ansatzweise die Unstimmigkeit ihrer eigenen Gedanken bemerkt hat? Sie spricht von einem Anstoßen an den Gedankenformen Rudolf Steiners, die wir nicht denken können, mit denen wir nicht verschmelzen können, wodurch wir uns selbst erleben. Rudolf Steiner dagegen spricht in vollkommener Umkehrung von einem Denken, in dem man lebt, sich in ihm als in einem Kraftträger fühlt, und mit dem man, weil es Tastorgan geworden ist, an anderes anstoßen kann.

Rudolf Steiner hat die „Philosophie der Freiheit“ nicht geschrieben, damit wir ratlos davor stehen und im Anstoßen an das Nicht-Verstandene uns selbst als Denker zu spüren beginnen, sondern damit wir – das Verstehen vorausgesetzt – das Geschriebene nicht nur intellektuell konsumieren, sondern innerlich mittun. Daran erwacht der innere Mensch, nicht am Kult des Nicht-Verstehens.

Unverstandene Willensentfaltung und lautes Lesen

An anderer Stelle schreibt Diet:

Denn nun lese ich genau. Was kann der Mensch? Er „kann in das gewöhnliche bewusste Denken eine stärkere Willensentfaltung einführen, als in diesem im gewöhnlichen Erleben der physischen Welt vorhanden ist.“ Was aber ist das „gewöhnliche bewusste Denken“? [...] Verfüge ich über dieses Denken?
Lese ich weiter, so kommen mir Zweifel. Denn in dieses „gewöhnliche bewusste Denken“ soll eine stärkere Willensentfaltung „eingeführt“ werden, als im „gewöhnlichen Erleben der physischen Welt“ vorhanden ist. [...] Wie geht das: eine „Willensentfaltung einführen“? [...] Was ist das, eine Willensentfaltung? [...]
Spätestens jetzt erkenne ich dasselbe, was ich schon im hörenden Lesen erfühlt und erahnt habe, diesmal aller­dings von der anderen, von der verstandesmäßigen Seite: „Der Mensch“ – das bin nicht ich! [53f]


Diet scheitert immer wieder an Worten – meint, bereits an den Worten scheitern zu müssen. Es mag ehrenhaft sein, davon auszugehen, dass „den Willen betätigen“ und „eine stärkere Willensentfaltung in das Denken einführen“ ein Unterschied sei. Verharrt man aber in diesem angeblich wort-ge-treuen Nicht-Verstehen, wird man den anthroposophischen Weg mit Sicherheit verfehlen.  

Würde Diet wirklich zumindest den „Willen betätigen“, würde sie unweigerlich zu dem Erleben kommen, dass sie, wenn sie versucht, den Willen im Denken zu betätigen, etwas tut, was sonst niemals getan wird. Dann aber wird auch das Erleben nicht ausbleiben, dass sich dieser erstmals in dieser Weise betätigte Wille allmählich zu entfalten beginnt. Von da aus kann es weitergehen zu dem Erleben, dass dieser Wille mehr und mehr eine Realität wird – eine Realität, mit der man umgehen kann, die man in die Hand bekommt, die man also auch wirklich hinlenken kann, „einführen“ kann, wo man eben will.

Im siebten Kapitel betont Diet, ihr erscheine im Zusammenhang mit Rudolf Steiners Schriften

[...] der laut gelesene und der eigenen Stimme erlauschte Text eine interessante Voraussetzung für die weitere Arbeit zu sein, lassen die dabei möglichen Erlebnisse doch immer wieder neu empfinden, dass es sich dabei um einen ungewöhnlichen Text handelt. [59]


Hier wird deutlich: Diet braucht die laut gesprochene Sprache, um zu Erlebnissen zu kommen. Das aber heißt nichts anderes als: Ihr Denken braucht die Stütze der Sprache, ja des Sprachklanges. Es kann ohne diese Stütze des Klanges die Besonderheit von Rudolf Steiners Sätzen nicht voll empfinden.

Völlig deutlich wird hier, dass Diet gar nicht imstande ist, sich zu einem rein innerlichen Erleben von Rudolf Steiners Gedanken zu erheben. Das ist keinesfalls verwerflich oder auch nur zu be-urteilen – verwerflich jedoch ist, wie sie selbst sich zur Richterin über jene Menschen aufwirft, die ein reales reines Denken sehr wohl verwirklichen und dabei keineswegs das Ungewöhnliche, ja Einzigartige von Rudolf Steiners Worten verneinen, sondern im Gegenteil viel tiefer, viel geistiger zu erfassen vermögen.

Das Nicht-Verstehen als Führer

An anderer Stelle schreibt Diet:

Es ist erst das heranwachsende Kind, das zu fragen be­ginnt; das noch ganz der Welt Hingegebene hat keine Fra­ge. [...] Doch wer ist überlegen? Das Kleinkind und der Träumende, die noch keine Frage haben? Gewiss nicht. [...] Nicht der, der das Unverständliche zu ver­stehen glaubt, ist näher am wirklichen Verstehen. Nein, der erste Schritt des Verstehens von etwas, das ich noch nicht verstehe, besteht immer in dem Erleben: Ich verste­he es nicht. Denn nur dann, wenn ich mich einem Verste­hen annähere, kann es mich streifen. Und das Erleben, dass ich nicht verstehe, ist immer das Zeichen davon, von dem berührt worden zu sein, was verstanden werden will. Von dem Augenblick an, an dem ich dem Nicht‑Verstehen einen Platz in meinem Denken einzuräumen geneigt bin, kann das Nicht‑Verstehen zum Führer werden. Zum Führer in die Welt, in die uns Rudolf Steiner weist. [71f]


Sie eröffnet damit die falsche Alternative von „richtigem“ Nicht-Verstehen und falschem Zu-verstehen-Glauben. Sie eröffnet einen Mystizismus: Wenn man wahrhaftig und geduldig im Nicht-Verstehen ausharrt, so wird einen das wesenhafte Verstehen streifen; das, was verstanden werden will, berühren. Das ist eine Halbwahrheit und damit eine Unwahrheit! Im Geistigen müssen energische eigene Schritte vollzogen werden – erst dann darf man innerlich schweigen und die Berührung des Geistes erwarten. Diet schweigt schon im Unverständnis – und wird von der geistigen Welt nicht berührt werden.

Was heißt überhaupt „überlegen“? Ist nicht das kleine Kind noch ganz mit der geistigen Welt verbunden, Diet jedoch ganz von ihr getrennt, wie das Nicht-Verstehen klar zeigt? Vor allem aber: Woher nimmt sie sich das Recht, das eigene Nicht-Verstehen als fortgeschritten zu bezeichnen und hinter jedem Verstehen sofort den „kindischen“ Irrglauben des Intellekts zu vermuten? Sie leugnet eben die dritte Alternative, das wirkliche und reale (sehr aktive) Hingegebensein an den geistigen Inhalt eines Satzes. Es heißt doch: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder...“! Heute kann und soll dies aber eben voll bewusst, „nach naturwissenschaftlicher Methode“ verwirklicht werden. Hingabe in voller Aktivität – und es ist möglich.

Im zehnten Kapitel „Buch und Welt“ bringt Diet drei Zitate Rudolf Steiners über das richtige Lesen, an denen einiges deutlich wird (und sie merkt offenbar nicht, dass es ihren eigenen Ausführungen weitestgehend widerspricht):

Erstens: An einem geisteswissenschaftlich geschriebenen Buch verschafft man sich die Erkenntnisergebnisse selbsttätig. Das Wort sagt es bereits: selbst-tätig, man muss vollziehen, was da steht.

Zweitens: Rudolf Steiner will verstanden werden und rechnet von Anfang an auf das Verstehen, auch wenn er Erfahrungen beschreibt, die das gewöhnliche Denken nicht kennt, weil das Denken zuvor niemals lebendig durchkraftet worden war: „[...] die Sprache richtig zu gestalten, dass die Menschen auch das verstehen können, was geschrieben wird.“

Drittens, beides zusammenfassend: Wenn man innerlich tätig wird, versteht man, was geschrieben steht. „Kein Mensch kann das Buch [Philosophie der Freiheit] verstehen, der nur unselbständig denkt.“

Diet schreibt am Ende des Kapitels:

Ich weiß: Es sind Ungeheuerlichkeiten, die hier behauptet werden. Und dennoch möchte ich den Leser dazu einla­den, sich auf diesen Gedanken – probeweise – einzulas­sen: Was wäre, wenn das Buch Rudolf Steiners tatsächlich auch so gelesen werden könnte, dass es selbst Welt ist, und nicht Abbild von Welt? [...] Was wäre, wenn mein versuchtes Nach‑Denken, mein Bemühen um das Verstehen der Worte Rudolf Steiners erst die Welt schafft, die es dann zu erkennen gilt? [87f]


Man möchte Irene Diet zurufen: Genau darum geht es doch! Wenn Rudolf Steiner schreibt, das Erkennen ist nicht Abbild der Welt, dann ist es auch nicht Abbild der Welt. Nur muss man erst einmal selbst zu einem Verwirklichen dieser Erkenntnis kommen! Rudolf Steiners Buch handelt zentral von der Frage des Erkennens. Wenn ich innerlich mitvollziehe, was er schreibt, verwirkliche ich es. Ich verschaffe mir selbsttätig die Ergebnisse. Im Mitvollziehen dessen, was Rudolf Steiner schreibt, entsteht in innerer Aktivität ein „neuer Mensch“ – dieser aber erfährt in eigener Anschauung, dass das, was er tut, nicht ein Abbilden der Welt ist, sondern eine eigene Realität.

Unter Ausschalten des Verstehens an die Schwelle?

Im letzten Kapitel „Schlussbemerkung“ schreibt Diet, am Text Rudolf Steiners würden das (offenbar gewöhnliche, H.N.) Verstehen und Können außer Kraft gesetzt.

Es ist nur natürlich, dass das Außer‑Kraft‑Setzen der bei­den wichtigsten, über lange Jahre anerzogenen Grund-Fähigkeiten des Daseins [durch den Text Rudolf Steiners, H.N.] nur als unbequem, ja mehr noch: als bedrohlich erfahren wird. Bedeutet eine solche Erfah­rung doch nichts anderes, als sich in die Nähe der Schwelle zur geistigen Welt zu begeben [...].
Und so ist es nur natürlich, dass man sich dieser Schwelle im Wachzustand niemals freiwillig nähert. Soll dies den­noch geschehen, muss eine tiefe Einsicht für die Notwen­digkeit dafür vorliegen. Und diese Einsicht kann nur aus einem bewusst gewordenen Gefühl entspringen: Es geht, beschäftige ich mich mit Anthroposophie, nicht um das Verstehen und Können, das ich schon kenne. Nein, es geht um etwas anderes.
Dieses Gefühl ist der Beginn einer ganz neuen, ungeahnten Schöpferkraft. Einer Schöpferkraft, in der man sich selbst erlebt – ebenso wach wie frei, doch niemals am Ende. Denn nun erahnt man: Denken ist nicht Begreifen, sondern Denken ist Schöpfen, Schaffen, es ist das Vorbegriffliche, niemals Angekommene, sich stets Bewegen­de. [91f]


Hierzu ist zu sagen:

Das Nicht-Verstehen Rudolf Steiners, auch wenn man sich dem aussetzt, hat noch keineswegs etwas Bedrohliches. Man kann, wenn es einem nicht einfach unbequem und lästig ist, recht gut im Nicht-Verstehen ausharren, ohne irgendeine größere Bedrohung zu erleben.

Vor allem aber: Diet bleibt bei einem Gefühl – dieses sei der Beginn einer ganz neuen Schöpferkraft, in der man sich wach und frei erlebe. Wie kann dies etwas anderes sein als der anfänglich erwachende innere Mensch, das „Ziel“ des Schulungsweges?

Nun aber muss man sich mit vollem Ernst fragen: Wie kann Diet so etwas behaupten? Rudolf Steiner spricht ganz klar und eindeutig davon, dass dieser höhere Mensch, dass die Freiheit auf der Grundlage des verwirklichten reinen Denkens gefunden wird, das nichts anderes als das reine Denken jene wache, freie Schöpferkraft ist! Diet aber spricht davon, dass ein Gefühl der Beginn dieser „ganz neuen Schöpferkraft“ sei! Hier zeigt sich vollends, wie ihr die reale Erfahrung absolut fehlt.

Und es geht sogar noch weiter: „Denn nun erahnt man: Denken ist nicht Begreifen...“. Hier beweist sie endgültig, dass nirgendwo in allem Vorangegangenen das reine Denken verwirklicht oder auch nur indirekt erwähnt oder gemeint ist. Denn selbst jetzt wird in Bezug auf das Denken nur etwas erahnt. Was sie dann mit jener Schöpferkraft und Freiheit meint, bleibt in mysteriöses Dunkel gehüllt, bleibt leere Behauptung, die in jedem Falle aber von der von Rudolf Steiner gemeinten schöpferischen Kraft ablenkt.

Und auch der letzte Satz in sich zeigt wiederum Diets Unverständnis der geistigen Realität. „Denken ist nicht Begreifen, sondern Schaffen, das Vorbegriffliche“ (wie sie „erahnt“). Hier benennt sie eine völlig falsche Alternative, denn Denken ist sowohl Begreifen, als auch das Vorbegriffliche. Was nämlich sollte Begreifen sonst sein?

Als „Beleg“ für ihren Satz bringt Diet ein Zitat, wo Steiner Denken und Begriffe unterscheidet! Sie wirft also Begreifen und Begriffe in einen Topf! Selbstverständlich sind die Begriffe nicht das Denken – aber das Begreifen ist genau die Tätigkeit des Denkens.

Was aber ist dann das Vorbegriffliche? Das Vorbegriffliche ist das Begreifen und damit ebenfalls das Denken. Denn um Begriffe begreifen zu können, muss das Denken „Organ der Auffassung“ sein, das heißt aber vorbegrifflich. Das Auge ist sonnenhaft, darum kann es die Farben sehen. Das Denken ist geistig sonnenhaft, darum kann es Organ für die unendliche Welt der Ideen und Begriffe, für ein wirkliches Ideen-Erleben sein. Es ist nichts anderes als Erkennen und Begreifen. Das Denken hat Logos-Natur – aber diese verdankt es dem in ihm wirkenden Ich, ohne dass es gar nicht existieren würde.

Anthroposophie – dunkel herrschendes Bedürfnis?

Am Ende schreibt Diet:

Es gibt weder einen „Schlüssel“ zum Verstehen und Lesen­-Können der Schriften Rudolf Steiners, noch eine Methode, die erlernbar wäre. Es gibt nur einen Weg, ein ewiges Streben, ein Bedürfnis, so wie Hunger und Durst. Doch Anthroposophie wird – verbindet sich die Seele wirklich mit ihr – dieses Bedürfnis nicht stillen. Im Gegenteil: Sie wird es erwecken, immer größer, immer stärker wird es werden, und es wird die Seele ganz ausfüllen, es wird sie beherrschen und – dieses ungestillte, unstillbare Bedürfnis wird die Seele leiten. [92]

Der Weg besteht also im Bedürfnis? Das ist Mystizismus! Ein dunkles Bedürfnis, ein dunkles Streben, ein dunkler, suchender Weg. Wenn es keine Methode gäbe, so wäre Anthroposophie keine Wissenschaft! Es gibt aber eine Methode – nämlich die exakte, klar bewusste seelische Beobachtung. Und es gibt einen Schlüssel – nämlich das reine Denken. Die Methode muss geübt und der Schlüssel muss errungen werden – und dies ist bereits ein Teil des Weges. Ist er aber errungen, beginnt der Weg erst richtig, denn dann öffnet sich das Tor der geistigen Welt...

Wie kann sich die Seele „wirklich“ mit der Anthroposophie „verbinden“, wenn sie sie gerade sucht, gar nicht versteht usw.? Wenn es gar keine Methode, keinen Schlüssel, sondern nur ein Bedürfnis (wonach?) gibt?

Was soll dieses merkwürdige Wort „beherrschen“? Anthroposophie wird ein Bedürfnis erwecken, was die Seele beherrscht, leitet und formt? Was für ein furchtbarer, fremdbestimmt bleibender Ausblick! Man fragt sich mit tiefem Ernst, wann und wo bei Irene Diet auch nur ansatzweise die Freiheit beginnt. Oben schrieb sie im Zusammenhang mit einem „Gefühl“ einmal kurz von „frei“ – hier nun wieder wird die Seele von einem Bedürfnis beherrscht und geleitet, um sich blind und suchend vorwärtszutasten, ohne Methode, ohne Schlüssel...

Nein, es gibt den Schlüssel – und dieser Schlüssel eröffnet einen klaren, lichtvollen Weg. Es ist der Weg der Geisteswissenschaft. Es ist doch tief merkwürdig, dass in diesem ganzen Absatz nicht einmal das Wort Geist vorkommt. Es ist aber der Geist, der die Seele leitet. Anders kann von Anthroposophie nicht gesprochen werden.

Die Seele empfindet die Sehnsucht nach der geistigen Welt, die durch den Geist geweckt wird. Aber indem sie diesen Geist in sich aufnimmt, findet sie auf dem Weg der Anthroposophie auch die Pfade, in diese geistige Welt, ihre Heimat, hineinzufinden, tiefer und tiefer. Was sie an geistigen Organen ausbildet, wird sie leiten können, wohin sie selbst gehen will. Sie weiß, wohin sie will – und sie weiß, welche Wege sie dazu gehen muss – und immer mehr erlebt die Geistseele sich als Geist unter Geistern, immer auf dem Weg, immer strebend, aber niemals mehr blind oder getrieben...

Wie Rudolf Steiner selbst sein wichtigstes Buch meinte

Stellen wir ans Ende dieser Betrachtungen eigene Worte Rudolf Steiners, mit denen er ganz klar beschreibt, dass es ihm nicht auf das Nicht-Verstehen, sondern das Verstehen des Lesers ankommt; nicht auf das lesende Verharren im Zweifel oder sogar in der Überzeugung, man habe es noch nicht richtig verstanden, sondern im inneren Mittun; nicht um eine Mystifizierung seiner Worte und Sätze, sondern um ein (mit-)tätiges Hineinkommen in das reine Denken:

Meine „Philosophie der Freiheit“ ist so gemeint, daß man zur unmittelbaren eigenen Denktätigkeit Seite für Seite greifen muß, daß gewissermaßen das Buch selbst nur eine Art Partitur ist und man in innerer Denktätigkeit diese Partitur lesen muß, um fortwährend aus dem Eigenen heraus von Gedanke zu Gedanke fortzuschreiten. So daß bei diesem Buch durchaus immer mit der gedanklichen Mitarbeit des Lesers gerechnet ist. Und es ist ferner gerechnet mit demjenigen, was aus der Seele wird, wenn sie eine solche Gedankenarbeit mitmacht. Derjenige, der sich nicht gesteht, daß, wenn er dieses Buch nun wirklich in eigener seelischer Gedankenarbeit absolviert hat, er dann gewissermaßen sich in einem Elemente des Seelenlebens erfaßt hat, in dem er sich früher nicht erfaßt hat; derjenige, der nicht spürt, daß er gewissermaßen herausgehoben ist aus seinem gewöhnlichen Vorstellen in ein sinnlichkeitsfreies Denken, in dem man sich ganz bewegt, so daß man erfühlt, wie man in diesem Denken frei geworden ist von den Bedingungen der Leiblichkeit, der liest eigentlich diese «Philosophie der Freiheit» nicht im richtigen Sinne. Und der versteht sie im Grunde genommen nicht richtig, der sich dies nicht gestehen kann. Man muß gewissermaßen sich sagen können: Jetzt weiß ich durch diese seelische Gedankenarbeit, die ich verrichtet habe, was eigentlich reines Denken ist.