18.05.2011

Das Ende von Zanders Biografie

Oder: Die Klärung des Kontext-, Fakten-, Analogie- und Übersinnlichkeitsproblems.


Inhalt

Zanders Fazit
Die Aspekte des Faktenproblems
Die zentrale Relevanz der Übersinnlichkeitsfrage
Das Analogieproblem
Wer war Rudolf Steiner? 
Fazit


Zanders Fazit

Zander schreibt am Ende von „Die Biografie“ (S. 475ff):

Gibt es „die“ Biografie Rudolf Steiners? Die Antwort des Wissenschaftlers ist ein klares Nein. Jede Lebensbeschreibung ist Fabel und Faktum zugleich – und selbst bei den „Fakten“ schwächelt die Wissenschaft, ist sie doch an erster Stelle eine Agentur zur Verunsicherung über vermeintlich sicheres Wissen. Schon deshalb gibt es keine abschließende, gar „wahre“ Deutung. Und wenn ein Biograf deutet, nutzt er für seine persönliche Perspektive ein begrenztes Material. [...] Kurz und gut: Auch die vorliegende Biografie ist eine Erzählung, ein Versuch, aus den Trümmern, die wir Fakten nennen, Rudolf Steiner zu verstehen.
Mein Versuch ist nicht der erste. Allerdings beanspruche ich, an manchen Stellen anders und kritischer auf diesen Mann geschaut zu haben [...].
Die vorliegende Biografie versucht, den bis dato erarbeiteten Wissensstand über Rudolf Steiner zusammenzutragen und in eine Deutung zu überführen, die den Anspruch Steiners, Hellseher zu sein, nicht aus der Perspektive ewiger Wahrheiten erklärt, sondern aus der Lebenswelt des 19. Jahrhunderts. Sie versucht, Steiners Leistungen anzuerkennen, ohne den Blick für „Versteinerungen“ zu verschließen. Viele Anthroposophen fürchten, die historisch-kritische und kontextualisierende Biografik sei das Ende einer spirituellen Steiner-Deutung: Aber das scheint mir nur ein Ausdruck intellektueller Angst.
Meine Deutung ist natürlich nicht das letzte Wort. Eine neue Biografie wird geschrieben werden und auf neue Forschungen zurückgreifen können. [...]
Die wissenschaftliche Arbeit an der Universität wird in den nächsten Jahren wohl intensiver werden. Auch insoweit ist meine Biografie nur vorerst „die“ Biografie Rudolf Steiners.

Die Aspekte des Faktenproblems

Zander nennt „seine“ Biografie also vorerst sehr wohl „die“ Biografie Rudolf Steiners. Gleichwohl gibt er zu, dass die Wissenschaft bereits bei den „Fakten“ Probleme hat. Genauer findet man diese „Probleme“ dokumentiert in seinem Werk „Anthroposophie in Deutschland“.

Es gibt Fälle, wo es neben Steiners Angaben übersinnlicher Tatsachen Werke ähnlichen Inhalts gibt, die er gekannt hat.

Zum Beispiel verweist Steiner selbst auf eine Schrift von Leadbeater, nachdem er die „Farben“ der menschlichen Aura geschildert hat:

Ich mache zur Vergleichung mit meinen Angaben auf die Schrift C.W. Leadbeaters: ‚Man visible and invisible’ aufmerksam, die 1902 in London, Theosophical Publishing Society, erschienen ist.
GA 34, S. 117.


Nun eröffnet sich das weite Feld von Zanders Deutungen. Denn für Zander ist ein solcher Fall der Beweis, dass Steiner seine Angaben von dieser anderen Schrift hat. Dabei besagen die Worte „zur Vergleichung“ sinngemäß, dass Steiner nicht einfach referiert, sondern selbst geforscht hat. Noch offensichtlicher wird dies durch jene Sätze, die Zander unterschlägt:

„Ich möchte ausdrücklich bemerken, daß ich mich gerne korrigieren lasse von anderen Forschern. Die Beobachtungen auf diesem Felde sind natürlich unsicher. Und diese Unsicherheit läßt sich gar nicht vergleichen mit der, die schon auf dem physischen Felde möglich ist, obwohl doch auch diese – Forscher wissen es – eine sehr große ist.“


Es ist immer wieder festzustellen, dass Zander der bloßen Existenz eines Parallelwerkes den Vorzug vor Steiners Selbstaussage gibt – in all diesen Fällen wird das Werk für ihn zur Vorlage, die Steiner referiert hat, und Steiner zum Betrüger, weil er nur behauptet, er habe eigene übersinnliche Erkenntnisse. Zander tut dies selbst dann, wenn Steiner eindeutig über den Inhalt solcher angeblicher Quellen hinausgeht bzw. seine Darstellung wesentlich anders ist – etwa bei der Schilderung der „Luftfahrzeuge der Atlantier“.

Und so gibt es mindestens vier Varianten der „Quellenfrage“:

1. Es gibt Werke ähnlichen Inhalts, die Steiner gekannt hat und die sich mit seinen Aussagen inhaltlich weitgehend zu decken scheinen.
2. Es gibt Werke ähnlichen Inhalts, die Steiner gekannt hat, über die er aber inhaltlich hinausgeht.
3. Es gibt Werke ähnlichen Inhalts, deren Kenntnis unbelegt bzw. unsicher oder unwahrscheinlich ist,
4. Es konnten keine Werke solcher Art nachgewiesen werden.

Wie wir gesehen haben, ist selbst der Nachweis, dass Steiner solche Werke gekannt hat, kein Beweis dafür, dass seine Darstellung auf diesen Werken fußt – selbstverständlich nicht einmal für den erstgenannten Fall.

Für Zander jedoch sind diese Fälle sehr wohl ein Hinweis, ja Nachweis dafür, dass Steiner aus solchen Werken referiert hat – und zwar sogar dann, wenn nicht einmal belegt ist, ob Steiner das jeweilige Werk überhaupt kannte. In all solchen Fällen braucht Zander die „Hypothese“, dass Steiner übersinnliche Erkenntnis gehabt habe, nicht mehr. Und weil er so oft ohne diese „Hypothese“ arbeitet, lässt er sie letztlich im Grunde gänzlich fallen, auch dort, wo sich solche Parallelquellen gar nicht auffinden lassen. Die Hypothese lautet dann: Es hat sie gegeben, Steiner hat daraus referiert, nur kennen wir sie (noch) nicht.

Und so ist es wie bei dem französischen Mathematiker und Astronom Laplace, der auf die Frage Napoleons, wo in seinem System Gott vorkomme, antwortete: „Sire, ich brauche diese Hypothese nicht.“ Nur dass Zanders „System“ wesentlich größere Lücken hat!

So finden wir in „Anthroposophie in Deutschland“ z.B. Stellen wie diese:

[564:] Bei vielen Schriften Steiners, in denen sich zu anderen „okkulten“ Bereichen analoge Detailbeschreibungen finden, steht man ratlos vor der Frage, wo die Quellen derartig minutiöser Schilderungen liegen.

[572:] [W]elche eigenen „Erlebnisse“ darin aufgegangen sein könnten, ist wohl nicht mehr zu klären.

[588:] Genauere Quellen lassen sich nicht ermitteln, aber auch diese Liste könnte aus einem Meditations- oder Erziehungskompendium stammen.

Die zentrale Relevanz der Übersinnlichkeitsfrage

Zander sagt, als Kulturwissenschaftler analysiere er Aussagen von Menschen über ihre Erfahrungen, er entscheide nicht über wahr und unwahr. Nun, es mag sein, dass er nicht über die Wahrheit übersinnlicher Schilderungen urteilen kann und will – aber wenn er auch Selbstaussagen Rudolf Steiners nicht ernst nimmt (z.B.: „Ich werde nie über irgend etwas Geistiges sprechen, das ich nicht unmittelbar aus geistiger Erfahrung kenne“), dann lässt sich ja überhaupt keine Aussage treffen!

Wenn Zander auf Grundlage der Tatsache, dass ähnliche Parallelwerke existieren, Steiners Selbstaussage weniger Gewicht gibt, d.h. ihm gemäß der favorisierten Hypothese Betrug unterstellt, so ist das eine normative Setzung. Zander legt fest, dass die Wahrscheinlichkeit größer sei, Steiner betrüge, als dass er unabhängige Forschung betrieben und originäre übersinnliche Erkenntnisse erlangt habe.

Interessant wäre die Frage, wie Zander sich überhaupt zu übersinnlichen Tatsachen stellt. Wie würde Zander z.B. die Inhalte von Leadbeaters Schrift erklären? Er würde sich herausreden und sagen, über den Realitätsgehalt dieser Schriften mache er keine Aussage. Das mag berechtigt erscheinen, beeinflusst aber seinen gesamten Ansatz – und darum wäre die Antwort eben doch nicht nur interessant, sondern wesentlich.

Denn wenn Zander übersinnliche Erkenntnis für unmöglich oder unwahrscheinlich hält, wird er auch Leadbeaters Schrift für Phantasterei halten. Wenn übersinnliche Erkenntnis ohnehin Phantasterei ist, macht es keinen Unterschied, wer von wem abgeschrieben oder sich die Dinge selbst phantasiert hat.

Wenn aber übersinnliche Erkenntnis eine sehr reale Möglichkeit des menschlichen Geistes ist, dann wird auch die Frage sehr real, wer diese Erkenntnis hat! Denn dann ist die Alternative nicht: Phantast und „Nachbeter“, sondern: Wahrhaftiger Geistesforscher und Betrüger (und daneben natürlich immer noch die Phantasten). Und aus eben diesem Grund wäre die Frage auch methodisch absolut relevant, wie Zander zu übersinnlicher Erkenntnis überhaupt steht, denn es beeinflusst in absolutem Sinne die Konsequenz und den Aussagengehalt seiner Deutungen!

Es geht dabei noch nicht einmal um die Frage, ob es überhaupt übersinnliche Erkenntnis gibt – das schließt Zander wohl nicht aus –, sondern wie wahrscheinlich sie bei konkreten Menschen vorhanden ist. Hier aber dreht sich die Katze im Kreis, denn so konkret stellt Zander sich die Frage nicht, diese Konkretheit aber wäre relevant. Denn wenn Zander argumentiert: „Aus der Außenperspektive spricht sehr viel dafür, dass Steiner vieles übernommen hat“, so ist seine Außenperspektive gar nicht unabhängig von einer Einschätzung der Wahrscheinlichkeit, dass die übersinnlichen Erkenntnisse originär erlangt wurden.

Zanders Urteil über die Wahrscheinlichkeit, dass Steiner „vieles übernommen hat“, hängt ab von seinen Funden ähnlicher Parallelwerke – liegen diese vor, dann „spricht sehr viel dafür“. Steiners eigene übersinnliche Forschung kommt in diesem Gedankengang gar nicht vor!

Käme sie vor, so würde sich folgendes ergeben: Wenn Zander von der realen Möglichkeit übersinnlicher Erkenntnis bei Steiner ausginge, so würde selbstverständlich unmittelbar „sehr viel dafür sprechen“, dass diese übersinnliche Erkenntnis auch Forschungsresultate hat. Damit aber: dass diese Resultate eben nicht übernommen wurden, denn entweder man hat etwas übernommen, oder man hat es selbst erforscht.

Über die wahre Bedeutung dieser Konsequenz kann man sich dann nur noch hinwegtäuschen, wenn man davon ausgeht, dass Ähnlichkeiten der Aussagen trotzdem noch immer auf Übernahmen hinweisen. Damit würde man vollends in die Vorurteile geraten. Wenn zwei Forscher ähnliche bzw. dieselben Tatsachen erforschen, so kommen sie zu ähnlichen bzw. gleichen Aussagen – das ist in der übersinnlichen Welt nicht anders als in der sinnlichen.

Somit verliert die „Übernahme“-Vermutung (mit der Konsequenz: „Betrug“) wirklich jede Bedeutung, wenn man die Möglichkeit übersinnlicher Erkenntnis auch einmal als Realität real voraussetzen würde. Kurz gesagt: Wenn Rudolf Steiner zu übersinnlicher Forschung in der Lage war, war er auf Übernahmen nicht im geringsten angewiesen.

Ähnlichkeiten könnten das eigene Denken dann immer noch Übernahmen vermuten lassen; viel größer aber wäre die Gefahr, diese Vermutung nur deshalb zu bilden, weil eben das eigene Denken keine Erfahrung mit übersinnlicher Forschung hat und daher doch immer wieder leise daran zweifelt. Es ist doch nun einmal das gewöhnliche Denken, das bei jeglicher Ähnlichkeit immer an Abhängigkeit denkt und autonome, parallele Zugänge viel weniger anzunehmen gewohnt ist.

Auf all diese höchst relevanten Implikationen geht Zander in keinster Weise ein, und deshalb bleibt er bei den Deutungen, die er unternimmt, auch in den Voraussetzungen befangen, die er unhinterfragt a priori macht. Dazu gehört eben: Ähnlichkeit = Abhängigkeit. Sonst könnte er in solchen Fällen wie der Leadbeater-Schrift nicht zu solchen Deutungen kommen, wie er es tut. Dass er diese Deutungen sogar als einzige, d.h. selbstverständlich und alternativlos hinstellt, beweist, dass er die Voraussetzungen seiner Deutungen gar nicht hinterfragt. Und dass er fortwährend ganze Passagen unterschlägt, die seine Deutung unwahrscheinlicher machen bzw. definitiv nicht hineinpassen, beweist, dass er erstaunlich unwissenschaftlich arbeitet. In hohem Grade wählt er die Zitate so, dass sie ganz bestimmte Hypothesen immer wieder unterstützen.

Auf diese Weise entsteht ein großer Bau, den man natürlich immer weniger einstürzen lassen will, je länger man daran schon gearbeitet hat. Das ist psychologisch sehr verständlich, entschuldigt aber dennoch nicht den damit einhergehenden Mangel an Wahrhaftigkeit. Festzuhalten ist, dass Zanders längst unhinterfragte Hypothese ist, dass Steiner nahezu alles übernommen hat – und dass er dieses „nahezu alles“ dann höchstens noch umgedeutet, verändert, verwandelt, transformiert hat. Höchstens darin besteht sein originärer Beitrag, nicht etwa in originären Erkenntnissen von Anfang an.

Und je größer das Gebäude dieser einen, großen Hypothese ist, desto mehr lässt Zander alles in dieses große Gebäude einfließen, was ganz ohne Beweis bzw. besser gesagt Plausibilität hinzukommt. Wie gesagt: Häufig dienen ja nicht irgendwelche zweifelhaften Quellen zur Plausibilisierung seiner Hypothese, sondern umgekehrt die nicht mehr hinterfragte Ziel-Hypothese der Plausibilisierung nicht-existenter Quellen! Und dann heißt es eben in der Gegenrichtung jeder sonst üblichen Wissenschaftlichkeit im Stile bloßer Unterstellungen gemäß Ziel-Hypothese:

„Genauere Quellen lassen sich nicht ermitteln, aber auch diese Liste könnte aus einem Meditations- oder Erziehungskompendium stammen.“

Das Analogieproblem

Zander schreibt, seine Biografie sei eine „Erzählung, ein Versuch, aus den Trümmern, die wir Fakten nennen, Rudolf Steiner zu verstehen.“ Aber er gibt auch zu, dass er als Biograf deutet, dass er eine „persönliche Perspektive“ hat. Mit anderen Worten: Die „Trümmer“ setzt er auf ganz persönliche Weise zusammen. Das ist Zanders „Außenperspektive“.

Damit aber entfällt jedes hermeneutische Verstehen von mehr innen. Zanders Perspektive ist so persönlich, dass er Rudolf Steiner nicht einmal ansatzweise verstehen kann, weil er schon die „Faktentrümmer“ falsch und willkürlich zusammensetzt – gezwungen nach seiner Hypothese und vor allem den unhinterfragten Grundvoraussetzungen in Bezug auf die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit übersinnlicher Erkenntnis.

Zander behauptet dann, er würde „den Anspruch Steiners, Hellseher zu sein“ „aus der Lebenswelt des 19. Jahrhunderts“ erklären. Was soll das heißen? Aus der Tatsache, dass damals viele diesen Anspruch hatten? Aus der Tatsache, dass es Leadbeater-Schriften und eine ganze Theosophische Gesellschaft gab?

Wenn Zander auf diese kontextuellen Voraussetzungen schaut, ist deutlich, worauf die Erklärung von Steiners eigenem Standpunkt hinausläuft: Er war abhängig und unselbstständig und hat „das meiste übernommen“.

Aber wie ist es mit Leadbeater selbst? Wie ist es mit der Theosophischen Gesellschaft? Waren das alles Hellseher? Nein, eben nicht. Zander selbst schildert die Scharlatanerien in diesem Milieu und Umfeld. Dadurch aber wird im reinen Analogieschluss auch Steiners Anspruch unglaubwürdig. Also: Es gibt einen Haufen Scharlatane bzw. Menschen, die zwar Theosophen sind, aber gar nicht beanspruchen, übersinnliche Erkenntnisse zu haben; es gibt aber sehr wohl viel esoterische Literatur. Gemäß simpler Wahrscheinlichkeit (Häufigkeitsverteilung) ist Steiner also auch ein Mensch ohne solche Fähigkeiten bzw. ein Scharlatan, wenn er diese trotzdem behauptet, weil er sich aus der signifikant zahlreichen Literatur, die er nachweislich teilweise sogar kannte, ohne weiteres bedient haben kann. Was nicht völlig ähnlich ist, wurde verändert, d.h. verfremdet bzw. phantasievoll weitergedacht usw.

Man sieht, wie man in kontextueller Vorgehensweise automatisch und zwingend durch Analogieschlüsse und Häufigkeitserwägungen zu den entsprechenden Schlüssen kommt. Das aber zeigt, wie vollkommen untauglich – wissenschaftlich untauglich – die kontextuelle Methode hier ist. Denn ob jemand übersinnliche Erkenntnisse hat, darüber kann die Umwelt (der Kontext) überhaupt nichts aussagen! In einer Welt voller Scharlatane steigt die Wahrscheinlichkeit, dass jemand ein Scharlatan ist. Wenn er aber ein Geistesforscher ist, dann ist er ein Geistesforscher! Und nur zu Unrecht verdächtigt man ihn dann dessen, was man selbst als wahrscheinlich vermutet.

In einer Welt voller Verbrecher steigt die Wahrscheinlichkeit, dass jemand ein Verbrecher ist. So bekommt man eine Big-Brother-Welt. Heute ist jeder Bürger ein potentieller Verbrecher. Das ist Zander-Denk-Logik. Aber nur wenn man den einzelnen Menschen ins Auge fasst und sich nicht von Wahrscheinlichkeiten und Plausibilitäten trügen lässt, kommt man zu Realitäten. Mein Nachbar kann sich noch so verdächtig benehmen, er braucht kein Verbrecher zu sein! Wenn ich seiner Selbstaussage nicht glaube, werde ich dennoch die Polizei rufen... Zander aber ist Polizist und Richter in einem, denn es kann nun einmal niemand von außen feststellen, ob Steiner übersinnliche Erkenntnisse hatte. Es gibt immer zwei (drei) Möglichkeiten: Entweder es ist ausgedacht (übernommen), oder es ist wirklich geschaut und erforscht.

Von außen wird man diese Frage nicht beantworten können. Zander hat sie aber beantwortet. Von außen. Auf seine Weise.

Wer war Rudolf Steiner?

Zander beansprucht, „an manchen Stellen anders und kritischer auf diesen Mann geschaut zu haben“. Ja – er hat eben kritisch geschaut. Und wir wissen, was das Resultat ist. Ein Steiner, der Machttrieben gefolgt ist, der übernommene Kenntnisse als eigenes Wissen ausgab; der den Anspruch übersinnlicher Erkenntnis erhob, aber nicht einlöste; der zweifachen Ehebruch beging; der hochautoritär auftrat und Menschen gegenübertrat.

Es ist schleierhaft, wie Zander dennoch das folgende schreiben kann:

Viele Anthroposophen fürchten, die historisch-kritische und kontextualisierende Biografik sei das Ende einer spirituellen Steiner-Deutung: Aber das scheint mir nur ein Ausdruck intellektueller Angst.


Es ist, wie wenn ein Vergewaltiger sagt: Viele Menschen fürchten, dass ich ihrer Schwester etwas tue, aber das scheint mir nur ein Ausdruck intellektueller Angst. Ich frage: Wo ist denn bei Zander noch Platz für eine spirituelle Steiner-Deutung? Etwa in der Christus-Erfahrung, die für ihn noch eine Forschungslücke ist? Die Welt braucht durchaus keinen Steiner, der im wesentlichen ein Betrüger, wenn auch ein genialer Betrüger war. Auch die Anthroposophen brauchen einen solchen Steiner nicht. Man könnte ihn dann wirklich getrost in die Geschichte entsorgen und mit dem, was er hinterlassen hat, weitermachen. (Den Begriff „intellektueller Angst“ müsste Zander übrigens auch einmal erklären).

Aber das, was Steiner hinterlassen hat, beweist zur Genüge, dass er nicht jener Steiner war, den Zander zeichnet. Ich spreche von seinen hinterlassenen Schriften. Nehmen wir etwa „Wie erlangt man...“. Zander sieht darin nur ein schnell zusammengestückeltes Werk und im übrigen eine zugrundeliegende hoch-autoritative Matrix von Unterwerfungkontexten im Lehrer-Schüler-Verhältnis usw. – Wenn man es aber nicht mit seiner Brille, sondern wirklich liest, begegnet man einer Welt höchster Moralität. Man wird hineingenommen in eine Sphäre von so großartiger, erhabener moralischer Substanz, wie man sie vorher nie gekannt hat.

Wenn Zander das nicht in voller Stärke empfindet, beweist das wiederum, dass die kontextuelle Deutung schlicht und einfach Zeitverschwendung ist, weil sie zu nichts anderem als zu lügenhaften Karikaturen ihrer Forschungsobjekte kommen kann – zumal bei solchen Ausnahmeerscheinungen, wie es Rudolf Steiner war.

Oder man nehme „Wahrheit und Wissenschaft“ oder die „Philosophie der Freiheit“. Hier kommt man mit geistesgeschichtlicher Kontextualisierung einfach nicht weiter, weil dieser Mensch, Rudolf Steiner, diesen Kontext einfach überstiegen und gesprengt hat. Das kann ein Kontextwissenschaftler oder sogar ein normaler Philosoph nicht erkennen. Um dies zu erkennen, muss man schon selbst zum Anthroposophen werden, denn die Anthroposophie ist die Metamorphose und Steigerung der Philosophie. „Verständigung des menschlichen Bewusstseins mit sich selbst...“.

Dann aber so, dass schließlich sogar die geistige Welt sich offenbart. Man nehme also die zahllosen späteren Vorträge Rudolf Steiners, wo er von der Erdenentwicklung, von der Zeit zwischen Tod und neuer Geburt, von den höheren Hierarchien und vielem anderen sprach. Hier versagt der Kontext völlig – zumal wenn der „Wissenschaftler“ überhaupt nicht erkennt, wie Steiner weit, immer weiter, über alles hinausgeht, was es rechts und links neben ihm vielleicht schon gegeben haben mag an „Geheimlehre“, „Leadbeater-Schriften“ usw.

Für den Kontextwissenschaftler und Theologen Zander ist zum Beispiel ein Vortragszyklus wie „Das fünfte Evangelium“ ein reines Ärgernis. Einen Kontext gibt es nicht, es muss etwas eigenes sein, und es stößt jeden Theologen und seine bisherigen Kenntnisse vor den Kopf, wiederum, weil es vollkommen neu und noch nie dagewesen ist. Also kann es zum Ärgernis werden oder nicht. Also kann man es ablehnen oder nicht. Dann aber nicht mehr als Kontextwissenschaftler, sondern nur noch als Theologe. Da ist dann die normative Setzung völlig offensichtlich.

Wir brauchen keine kontextualisierte Steiner-Deutung. Wir brauchen auch keine spirituelle Steiner-Deutung. Arbeiten wir mit dem, was er hinterlassen hat – mit seinen Schriften und Vorträgen –, dann wird sich Steiner durch unsere Beschäftigung mit ihm selbst deuten, selbst offenbaren. Durch die Beschäftigung mit seinem Werk. Nicht mit dem Kontext.

Fazit

  • Der Materialist wird Steiner als erwiesenen Betrüger betrachten (und seine Quellen als Phantasten).
  • Wer weiß, dass es die geistige Welt und die Geistesforschung gibt, wird an Steiner nicht zweifeln.
  • Wer nur „prinzipiell“ übersinnliche Erkenntnis für möglich hält, hat ein Problem: entweder mit Steiner – oder bei sich selbst. Entweder er sieht die Möglichkeit der übersinnlichen Erkenntnis voll und ganz auch bei Steiner, oder er ist unbemerkt in seiner „Steiner-Forschung“ Materialist (und hat jenes „Prinzipiell“ nur als unverbindliches Abstraktum im Hinterkopf – so wie er vielleicht auch „an Gott“ glaubt, aber ohne Konsequenzen für das reale Leben).
  • Steiner ist nur im Lichte dieses zentralen Aspektes – übersinnliche Erkenntnis – wirklich zu verstehen. Wer diesen ausblendet, bleibt im „Verständnis“ Steiners ein ... Laplace.