2011
Zanders grundsätzliche Irrwege
Die grundlegenden Irrtümer in: Helmut Zander: Anthroposophie in Deutschland, 2007.
Ein weiterer Beitrag behandelt im Detail einige der zahllosen resultierenden Irrtümer und Entstellungen in Zanders Kapiteln Theosophie, Wissenschaft, Architektur, Eurythmie, Politik und Medizin.
Inhalt
Übersicht
Zanders Selbstwidersprüche und monomane Fehldeutungen
Zanders eigenes Problem
Geist-Erkenntnis
Plagiate oder notwendiges Anknüpfen?
Machtstreit?
Reinkarnation und Karma
Christologie
Übersicht
Auf dieser Seite erfährt der Leser unter anderem, wie Zander
- im Kapitel „Selbstwidersprüche und monomane Fehldeutungen“
- von anderen Autoren in seiner ganzen „Methode“ erkannt wird.
- im Kapitel „Zanders eigenes Problem“
- unter anderem seine „Angst vor Kontrollverlust“ offenbart und behauptet, trotz seines „auf logisch-begriffliche Arbeit dressierten Ich“ zu einer neuen „aufgeklärteren“ Anthroposophie beitragen zu wollen.
- im Nachwort seines „opus magnum“ zugibt, dass sein Verständnis der Anthroposophie begrenzt war – und dass allein schon eine frühere Begegnung mit Robin Schmidt daran etwas geändert hätte!
- im Kapitel Geist-Erkenntnis
- die Theosophie als „Reaktion“ auf die allgemeine Verunsicherung durch die historisch-kritische Analyse deutet.
- zugibt, dass er sich vor allem auf den radikalen Historismus von O.G. Oexle stützt und nicht etwa auf F. Meineckes „Verständnis des Historismus als Individualisierungsprozeß“.
- nicht nur keinen Geist-Begriff hat, sondern Steiner kurzerhand auch eigene Meditations-Erfahrungen abspricht.
- Steiner zitiert, um ihm die „Behauptung der Eigenständigkeit“ nachzuweisen, ohne eine reale Eigenständigkeit Steiners je in Betracht zu ziehen.
- gegenüber R. Uhlenhoff die kryptische Bemerkung macht, die Anthroposophen liefen bei einer Öffnung gegenüber der Wissenschaft Gefahr, ihre Identität zu verlieren.
- im Kapitel „Bewusstseinsseele und Ich als kopernikanische Wende“
- von Jörg Ewertowski völlig widerlegt wird, indem dieser zeigt, wie blind Zander für den originären Beitrag der Anthroposophie und ihre Lösung des Dilemmas des Historismus ist; sie ist keine Reaktion, sondern überwindet ihn.
- im Kapitel „Plagiate oder notwendiges Anknüpfen?“
- offenbar nichts von dem geistigen Gesetz weiß, dass ein Geistesforscher an die Erkenntnis anderer anknüpfen muss.
- sogar eine Briefstelle zitiert, die Steiners Eigenständigkeit beweist, und dies dennoch nicht ernst nimmt.
- natürlich ebenso sämtliche Stellen aus dem Lebensgang nicht ernst nimmt.
- keinen guten Eindruck macht, wenn man den Plagiats-Vorwurf auf ihn selbst anwendet, da sein Vorgehen bis in Wortlaute hinein üblen Steiner-Gegnern in anderen berüchtigten Jahrzehnten ähnelt.
- natürlich auch hier wieder nicht entscheidende Worte von Zeitgenossen über Steiners Wesen zur Kenntnis nimmt.
- dagegen seinen eigenen Macht- und Deutungsanspruch immer wieder bis in die Sprache hineingießt.
- im Kapitel „Machtstreit?“
- behauptet, dass inhaltliche Differenzen von Steiner für einen Machtkampf instrumentalisiert wurden.
- im Kapitel „Reinkarnation und Karma“
- die Reinkarnationsidee als „Antwort auf Fragen der Anthropologie des 19. Jahrhunderts“ kontextualisiert und sich nur noch fragt, ob Steiner „einen regelrechten Pantheismus oder nur einen Panentheismus oder nur einen Hylozoismus vertrat“.
- im Kapitel „Christologie“
- ganz den katholischen Theologen erkennen lässt, der Steiners Zugang zum „Mysteriums von Golgatha“ als falsch entlarven kann, da er natürlich im Besitz der objektiven Wahrheit, zumindest aber der wahrsten Sichtweise ist.
- einerseits „keine schlüssigen externen Motive für den Christologisierungsprozeß im Denken Steiners“ ausmachen kann, nur um andererseits festzustellen, dass er sich so von anderen Theosophen „unterscheiden konnte“.
- Steiners „Gestandenhaben vor dem Mysterium“ als Ausdruck für eine längere Phase des Jahres 1906 (!) deutet.
- Steiners Hinweis auf das Wiedererscheinen des Christus im Ätherischen zu einer „Erfindung des Jahres 1910“ erklärt, während Steiner schon vorher darauf hinwies und diese Realität später von vielen Menschen bestätigt wurde.
- Steiner zugesteht, dass er sich auch als Geistergriffener „fühlte“ – oder inszenierte.
- zu der zentralen Wesenheit Michaels nichts weiter zu sagen hat als eine belanglose halbe Seite.
- natürlich vor allem Steiners angebliche „Selbsterlösung“ angreift, ohne die damit verbundenen Gedanken, die einen nicht bloß „kindlichen“ Gottes- bzw. Menschenbegriff voraussetzen, auch nur ansatzweise zu erfassen.
- sogar eine Floskel von Steiners „forum internum“ bereithält.
- jedoch nur eine Seite später wieder von „persönlichen Eitelkeiten“ und „handfesten Machtansprüche“ spricht.
- verschiedene Aspekte von Steiners Christusverständnis nur als Widersprüche auffassen kann.
- behauptet, Steiner hätte Teile des historisch-kritischen Denkens angewandt, etwa in der „Kontextualisierung des Christentums als Teil der antiken Mysterientradition“.
- am Ende nur das Urteil eines anderen übernehmen kann, Steiners Christologie sei „eine vielfach anlaßgebundene spekulative Weltanschauung“.
Zanders Selbstwidersprüche und monomane Fehldeutungen
Verschiedene Autoren haben bereits in mehrfacher Hinsicht sehr treffend auf das grundlegende Manko von Zanders sogenanntem „opus magnum“ (besser: „error magnum“) hingewiesen, siehe dazu ausführlich meine Zusammenstellung der Reaktionen auf Helmut Zander. Hier sind einige der wesentlichen Stellungnahmen:
Andreas Neider [o]:
Das Merkwürdige an Zander ist, dass er bei seinen öffentlichen Auftritten und Artikeln in den Medien eine scheinbare Anerkennung der Anthroposophie demonstriert, indem er immer wieder auf ihre beachtenswerten Leistungen in praktischer Hinsicht verweist. In Wirklichkeit aber – und das zeigt die Studie Ravaglis mit aller Deutlichkeit – hat Zander nichts anderes im Sinn als eine totale Demontage Rudolf Steiners, indem er diesem verheimlichte persönliche Motive wie Machttrieb, Geltungssucht usw. unterstellt, die ihn im Rahmen seiner theosophischen Wirksamkeit zu einem „Cagliostro“ des 20. Jahrhunderts haben werden lassen – ein Vorwurf übrigens, den schon Dietrich Eckart, der Mentor Adolf Hitlers, gegen Steiner erhoben hat.
Peter Selg [o]:
In positivistischer Weise über Rudolf Steiner zu schreiben, mag eine intellektuelle Herausforderung im Sinne der gezielt intendierten und lustvoll realisierten Demontage bedeuten – mit der ausgesprochen ernsten Realität dessen, was in Rudolf Steiner lebte, in wessen Geist er handelte und was von ihm im 20. Jahrhundert ermöglicht wurde, hat dies jedoch nichts zu tun.
Günter Röschert [o]:
Zanders energische Betonung des europäischen Historismus des 19. und 20. Jahrhunderts ist nur die halbe Wahrheit. Sein eigener Skeptizismus, Agnostizismus und Anti-Spiritualismus ist ebenso partikular und hat daher keinen anderen Realitätsstatus als das Werk Steiners, das er kritisiert. [...] Das Geisterleben in den Ideen ist der Kern des Kontinuitätsfaktors und damit der Originalität in Steiners Lebensgang und Lebenswerk, den Zander nicht zu finden vermochte (1686 f.).
Jörg Ewertowski [o]:
Die Anthroposophie wird durch die Einbettung in den zeitgeschichtlichen Kontext des Historismus in ihrer Gegenwartsbedeutung und in ihrem Wahrheitsanspruch bewusst relativiert [als Abwehr-Bewegung, H.N.], der Historismus aber wie selbstverständlich als immer noch gültige Wahrheit systematisch in Anspruch genommen. Aber der Historismus ist gerade als geschichtlicher Kontext der Anthroposophie selbst auch ein geschichtliches Phänomen. Anthroposophie wie Historismus beanspruchen beide, bis heute Geltung zu besitzen. [...]
Die ganze geschichtsphilosophische Idee, die hier bewiesen werden soll, ist in sich durch einen inneren Selbstwiderspruch geprägt. Man betrachtet die Menschheitsgeschichte als sinnlos, weil sich keiner der Sinngebungsversuche generalisierend-verbindlich durchsetzen konnte. Es wird ein radikaler Pluralismus gefordert, zugleich aber wird performativ-selbstwidersprüchlich eine einzige und dabei implizit doch zeitlos-gültige Wahrheit behauptet, nämlich die, dass es keine Wahrheit gibt. Es wird von „Brüchen“ in der Biographie Steiners gesprochen, der sich permanent gewandelt haben soll, aber es kommt nur stereotyp das eine und aufdringlich einzige psychologische Motiv des Machtstrebens zum Vorschein, das absolut monoman alles erklären soll. [...]
Das Fatale ist, dass er kein Bewusstsein dafür besitzt, dass ihm als Vertreter des radikalen Historismus genau das zugestoßen ist, was er bekämpft: Er vertritt eine sich totalisierende Idee. Weil er die Idee nicht mehr als Idee zu erleben vermag, sondern als Tatsache nimmt, ist er ihr gegenüber unfrei geworden.
Unger-Leistner und Voegele [o]:
Zanders Buch bestätigt einmal mehr: mit historisch-kritischen Methoden allein lassen sich spirituelle Weltanschauungen wie Theosophie und Anthroposophie nicht verstehen, weil gerade das, was das Neue daran ausmacht, mit System ausgeklammert wird. Rudolf Steiners Grundlagenwerk „Die Philosophie der Freiheit“ kommt in Zanders Kompendium überhaupt nicht vor [bzw. auf nur fünf Seiten aus der nichtssagenden Sicht der „Außenperspektive“: 526-530, H.N.].
Stefan Brotbeck [o]:
Zanders Rückgriff auf orientalisierende, angloindische Kompendienliteratur verdunkelt, was zu erhellen wäre. Es liegt auf der Hand, weshalb Zander auch Steiners Hinweis ignoriert, dass sein Werk Theosophie zu denselben Erkenntnissen führe wie auf einem anderen Weg Die Philosophie der Freiheit: „Wenn diese Wahrheiten durch die ‹Philosophie der Freiheit› auch gefunden werden können, dann ist jede denkbare Herleitung dieser Wahrheiten aus einer Kenntnis angloindischer, ‹theosophischer Wahrheitstraditionen› von Grund auf verbaut, denn nicht einmal Zander dürfte es gelingen, solche ‹Traditionen› in der ‹Philosophie der Freiheit› zu finden.“ (Ravagli, S. 178)
Doch die bittere Ironie ist: Zander, der die Unterschiede banalisiert oder bagatellisiert, auf die es gerade ankommt (nämlich die von Grund auf unterschiedlichen Ansätze bei der angloindischen und bei Steiners Theosophie), ist auch der Zander, der Steiner unterstellt, Unterschiede breitzuwalzen und zu skandalisieren, auf die es sachlich gar nicht angekommen sei: um sein machtpolitisch motiviertes Abgrenzungsbedürfnis von der Theosophischen Gesellschaft zu befriedigen, habe Steiner die „Christologie zu einer bruchfähigen Differenz ausgebaut“. [...]
Zander spielt mit Steiner das Spiel: „Kopf: ich gewinne, Zahl: Sie verlieren.“ Um ihn des angloindisches Mitläufertums zu überführen, nimmt Zander nicht ernst, was Steiner in philosophischer Hinsicht sagt. Und um ihn der Machtallüren zu überführen, nimmt Zander wiederum nicht ernst, was Steiner in theosophiekritischer Hinsicht sagt. [...] Das gleiche erpresserische Muster wendet Zander auf seine Quellenfunde an. Was keine pure Erfindung ist, muss ein Plagiat sein – und was kein Plagiat ist, muss eine pure Erfindung sein.
Zanders eigenes Problem
Rüdiger Sünner, der der Anthroposophie selbst ambivalent gegenübersteht (und sich gar kein anderes Verhältnis vorstellen kann), berichtet von einem äußerst aufschlussreichen Gespräch mit Zander [o]:
Immer häufiger betonte Zander, dass er Steiners Ideenwelt durch seine historische Kontextualisierung nicht zerstören, sondern im Durchgang durch kritisches Fragen zum Entstehen einer neuen, "aufgeklärteren" Anthroposophie beitragen wolle. Zander hat eigentlich ein ambivalentes Verhältnis zur Anthroposophie, was im persönlichen Gespräch noch viel stärker herauskommt als in der Habilitationsschrift oder in seinen Medienauftritten. Dort muss er ein bisschen dem öffentlichen Tenor Genüge tragen, der [...] auch eine generelle Aversion gegenüber allem Esoterischen ausserhalb der Weltreligionen hegt. [Diese Stelle bleibt unklar, denn Sünner berichtet dennoch von Zanders Skepsis gegenüber Steiners „Hellsichtigkeit“!, H.N.]. [...]
Ein interessanter Moment mit Zander ergab sich, als wir im Gespräch die Musik Bachs streiften, die er liebt und auch gelegentlich als Sänger in einem Chor praktiziert. Als ich ihn fragte, ob er dabei auch unentwegt an die historisch-kritische Kontextualisierung von Bach denke, zögerte er einen Moment und antwortete dann mit einem schmunzelnden Nein. Er fügte jedoch einschränkend hinzu, dass er gerade beim Singen auch "Angst vor Kontrollverlust" habe, d.h. davor, in der Hingabe an die Bachschen Klangbewegungen sein auf logisch-begriffliche Arbeit dressiertes Ich zurückstellen zu müssen. Daraufhin erzählte ich ihm von dem Dirigenten Günther Wand, der einmal von einem weiblichen Fan gefragt wurde, was sie gegen die immer wiederkehrenden Fallträume beim Hören seiner Bruckneraufnahmen tun solle. Lassen sie sich ruhig fallen, antwortete Günther Wand, bei Bruckner können sie immer nur nach oben fallen. In keinem Moment unseres Gespräches habe ich Zander mit einer so spontanen und starken emotionalen Reaktion erlebt wie nach dieser Anekdote. Das sei ja ein toller Satz, rief er begeistert und zeigte eine tiefe Freude über die darin versteckte Weisheit, von der er vielleicht selbst gerne noch mehr in sein Leben integrieren würde.
Was hiesse das in Bezug auf seine Beschäftigung mit der Anthroposophie? Ein Stück mehr Vertrauen in die Ernsthaftigkeit von Steiners lebenslangem Ringen um so etwas wie eine überzeitliche Wahrheit? [...] Mehr Unabhängigkeit vom oft totalitären Geist einer "scientific community", die jede Abweichung von bestimmten Erkenntnismethoden mit Ausgrenzung bestraft?
Zander schreibt in seinem Nachwort in Bezug auf Robin Schmidt:
[1718:] Wäre er mir mit seinem profunden historischen Wissen und seiner undogmatischen Offenheit doch früher begegnet! Meine Deutung der Anthroposophie wäre dann in mancher Hinsicht verständnisvoller ausgefallen.
Das heißt, es hing an der Begegnung mit einem Menschen, ob Zander die Anthroposophie so oder anders deutet? Mit anderen Worten: Er ist zu einer Deutung der Anthroposophie aus ihr selbst heraus völlig unfähig bzw. hätte diese Deutung durch eine frühere Begegnung mit Schmidt revidiert? Was soll das heißen?
Geist-Erkenntnis
Zander erkennt die Geisteswissenschaft weder an, noch erkennt er überhaupt, was damit gemeint ist. Stattdessen stellt er die Theosophie-Anthroposophie pauschal und unbelegt als Gegenbewegung zum „Historismus“ hin:
[728:] 7.11.1 Historismus als Verunsicherung der Gegenwart durch die Vergangenheit
Die Historismusdebatte als Koordinatensystem kultureller Pluralisierung ist in den vergangenen Jahren in der Geschichtswissenschaft hinsichtlich der systematischen Zusammenhänge von Pluralisierung und Relativismus, von Entfremdung und Identität, von Gestaltungsfreiräumen und Geltungsansprüchen intensiv erforscht worden [>663]. [...]
Für die Theosophie war damit eine konfessorische Frage nach ihrer Situierung in der intellectual history des 19. Jahrhunderts verbunden: Sie war eine Bewegung gegen die historisch-kritische Analyse der europäischen Religionskultur um 1900, sollte doch die „objektive“, „übersinnliche“ Erkenntnis die historistische Relativierungsdrohung entschärfen. Theosophen empfanden von daher die Anwendung der historischen Kritik auf ihre eigene Geschichte als den Sieg des Gegners, gegen den sie angetreten waren. [...]
Die Gründergeneration der Theosophischen Gesellschaft hatte auf diese Situation in einer ihr eigenen Weise reagiert und den Weg vom Spiritismus in die Religionsgeschichte angetreten, von der empirischen zur hermeneutischen Begründung ihrer Weltdeutung.
[>663] Ich stütze mich vor allem auf die von Otto Gerhard Oexle rekonstruierte Bedeutung des Historismusbegriffs als Historisierung aller kulturellen Prozesse, die er in Abgrenzung von Friedrich Meineckes Verständnis des Historismus als Individualisierungsprozeß formuliert; vgl. seine Ausführungen in: Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus, 9-136. [...]
Jörg Ewertowski dazu [o]:
Dabei hat sich von den Theosophen kaum jemand explizit mit dem Historismus auseinandergesetzt, erst Steiner hat das ansatzweise getan. Aber auch Steiners kritische Äußerungen zu historistischen Forschern und zur „historisch-kritischen Methode“ haben innerhalb der Fülle von anthroposophischen Inhalten schlichtweg nicht den Stellenwert, der es rechtfertigen könnte, die Anthroposophie in ihrem Wesen als reaktive Gegenbewegung zu erklären. [...]
Der 1954 verstorbene Historiker Friedrich Meinecke hat den positiven Sinn des Historismus auf diese Formel gebracht: Er sei die „Ersetzung einer generalisierenden Betrachtung geschichtlich-menschlicher Kräfte durch eine individualisierende Betrachtung“ [Die Entstehung des Historismus, S. 2]. Es geht Meinecke in den Geschichtswissenschaften deshalb um die handelnden Menschen und um deren jeweils eigene Wertmaßstäbe, um das jeweils eigene Lebensgesetz, das in jedem einzelnen Menschen wirkt und dort nicht verallgemeinert oder an anderen ihm fremden Maßstäben gemessen und beurteilt werden darf. [...]
Der von Oexle vertretene Historismus tendiert aber nun zu einer Geschichtswissenschaft, die auf extensive Materialfülle baut und die Verstandeskraft nur zu kritisch-destruktiven Zwecken einsetzt. [...] Jeglicher neuerer Versuch, den Neukantianismus und den alle Werte relativierenden radikalen Historismus zu überwinden, wird von Oexle als Restauration überholter Positionen dargestellt. Nicht nur Martin Heidegger, sondern auch Hans Georg Gadamer und viele andere namhafte Geisteswissenschaftler werden auf diesem Wege gleichsam mit einer Handbewegung historistisch ausgehebelt. [...]
Zander und Oexle verabschieden faktisch das Interesse an der menschlichen Individualität als sinnstiftender Qualität in der Geschichte, ja überhaupt das Interesse an der Sinnfrage. Was Zander angeht, wird das in der Art und Weise, wie er die Individualität Rudolf Steiners in die Zange seiner historistischen Forschung zu nehmen versucht, sofort in der Durchführung sichtbar. Die diskriminierend-entwürdigende Art, mit der er im Gestus der allergrößten Selbstverständlichkeit in durchweg allen Zusammenhängen nur die niedersten Motive des Machtstrebens als Erklärungsprinzipien anführt, lässt sich mit keinem hohen Sinn von menschlicher Individualität vereinbaren und steht in auffälligem Gegensatz zu der einfühlsamen Art der Betrachtungen Meineckes.
Günter Röschert resümiert in seinem Aufsatz „Anthroposophie aus skeptizistischer Sicht I“ [o]:
Helmut Zander bezweifelt die Möglichkeit geisteswissenschaftlicher Erkenntnisse dem Grunde nach, vermeidet es aber, Rudolf Steiner als Hochstapler oder Lügner zu bezeichnen. Er apostrophiert konsequent die Worte „höhere Erkenntnis“, „Offenbarung“, „geistige Welt“, „übersinnlich“, „geistig“ überhaupt, „Geisteswissenschaft“. Auf Hunderten von Buchseiten beweist er, dass er keinen belastbaren Geistbegriff besitzt, was für einen katholischen Theologen doch etwas seltsam erscheint. [...]
Zander ist mit sich selbst nicht einig, ob er Steiners Forschungsergebnisse als reine Erfindungen (Assoziationen) betrachten oder wenigstens teilweise anerkennen möchte. Da er sich mit Steiners Theorie der höheren Erkenntnisarten nicht näher beschäftigt hat (676 ff.), glaubt er, dass Steiners Mitteilungen auf „Visionen“ beruhen (499). An anderer Stelle unterstellt er erneut und wiederholt, dass Steiner bloßes Bildungswissen nachträglich als übersinnliche Erkenntnisse eingestuft habe (549). Bereits ab dem ersten Kapitel seiner Autobiographie schildert Steiner die Entwicklung der in ihm schicksalsgemäß veranlagten Geistanschauung. Im XXII. Kapitel berichtet er über seinen Weg zur Meditation und über deren Intensivierung ab dem 35. Lebensjahr (1896). Darauf geht Zander, dem diese Fundstellen nicht entgangen sein können, nicht ein. [...] Zander aber sieht „fehlende Indizien“ dafür, dass Steiner überhaupt selber meditiert habe. Die in den Anfangsjahren seines theosophischen Engagements an Schüler gegebenen Meditationstexte seien „Produkte eines selbsternannten Lehrers ohne praktische Erfahrung“ gewesen (705).
Was dazu vertiefend zu sagen ist, findet sich an anderer Stelle. Aufgrund seiner eigenen Blindheit ist Zander nicht imstande den eigenständigen Zugang Steiners zu übersinnlichen Wirklichkeiten zu sehen. Stattdessen muss er z.B. formulieren:
[225:] Steiner begann schon wenige Jahre nach seiner endgültigen theosophischen Konversion nach 1900, unterschiedslos jegliche theosophische Prägungen abzustreiten.
[172:] Der Fluchtpunkt dieser Interpretationen war die kontrafaktische Behauptung seiner Eigenständigkeit:
Daher habe ich es stets abgelehnt, mit irgendwelchem antiquierten Okkultismus, mit irgendwelchen Brüderschaften oder Gemeinschaften dieser Art auf dem Gebiete der Esoterik irgendwie etwas zu tun haben zu wollen. Und nur unter Wahrung der vollsten Selbständigkeit arbeitete ich eine Zeitlang in gewisser äußerlicher Verbindung mit der Theosophical Society und ihren esoterischen Einrichtungen, nicht aber in ihrer Richtung. Schon im Jahre 1907 ist alles Esoterische vollständig abgetrennt worden von der Theosophical Society, und was dann weiter geschehen ist, wissen Sie hinlänglich.
GA 254, 49.
Aber Zander verschweigt den vorausgehenden Absatz:
[...] daß aber auf der anderen Seite streng dasjenige zurückgewiesen wird, was nicht auf gesundem Wege, nicht durch die Methoden für das richtige Eintreten in die geistigen Welten hat gewonnen werden können. Wer das erkennen kann, bewertet und geschichtlich verfolgt, braucht es nicht nur als eine bloße Versicherung hinzunehmen, sondern er sieht es an der ganzen Art des Wirkens, wie es durch die Jahre hindurch geübt worden ist. Wir haben die Möglichkeit gehabt, viel, viel weiter zu gehen in der wirklichen Erforschung der geistigen Welt, als jemals die Theosophische Gesellschaft hat gehen können. Aber wir wandeln nicht auf unsicheren Wegen, sondern wir wandeln die sicheren Wege. Das darf frank und frei gesagt werden.
Rahel Uhlenhoff schreibt in ihrem Aufsatz „Kampf der Wissenschaftskulturen“: [o]
Es entbehrt kaum einer gewissen Ironie, dass Zander, der mit philologisch-kritischer Akribie die Vorworte verschiedener Auflagen von Steiners Schriften miteinander verglich, genau da einen blinden Fleck aufweist, wo Steiner die Wissenschaft a priori hinwies hinzuschauen: auf die eigenen Voraussetzungen und Wertannahmen.
Erstaunlicherweise berichtet Uhlenhoff auch folgende kryptische Bemerkung:
Zum Schluss des Gesprächs und längst off the records gibt Zander mir für die Anthroposophen vielleicht den wichtigsten Hinweis mit auf den Weg: Wenn sich die Anthroposophen für die Wissenschaft öffnen, dann laufen sie Gefahr, ihre eigene Identität zu verlieren. Das jedenfalls könnten sie aus der Geschichte der katholischen Theologie lernen, die ihr vornehmstes Forschungsgebiet auf dem Altar des „methodischen Atheismus“ opferte: die geistige Welt.
An die geistige Welt „glaubt“ Zander doch ohnehin nicht! Aber offenbar passt es in seine Intentionen, „den Anthroposophen“ hier zu suggerieren, sie könnten – im Gegensatz zur Theologie – „die geistige Welt“ „behalten“, wenn sie gegenüber der Wissenschaft auf Abstand blieben. Für die gegenwärtige Wissenschaft gilt dies ganz sicher, solange diese in der Anthroposophie keine notwendige Ergänzung sieht. Es nähme jedoch nicht Wunder, wenn Zander auch hier wieder nichts anderes sagen wollte, als dass die Anthroposophie unwissenschaftlich sei...
Bewusstseinsseele und Ich als kopernikanische Wende
Im weiteren verweist Jörg Ewertowski auf den entscheidenden blinden Fleck Zanders – die Bewusstseinsseele als kopernikanische Wende in der Bewusstseinsgeschichte [o]:
Wenn Zander das, was er vorbringt, auch auf sich selbst anwenden könnte, würde er die Gelassenheit besitzen, die Behauptung von Sinn- und Wirklichkeitserkenntnis in den Pluralismus der Positionen zu integrieren, der die moderne Welt ausmacht. [...] Die Bewusstseinsseele, die sich selbst in der Erkenntnistätigkeit zu beobachten vermag, ist das vorbeugende Mittel gegen den performativen Selbstwiderspruch und zugleich das Organ für die in sich selbst gegründete Wahrheit, die keine äußerliche Konstanz braucht, um sich als gestaltende Kraft im Geschichtsstrom aufrechterhalten zu können.
Die Bewusstseinsseele fehlt bei Zander bezeichnenderweise nicht nur als methodisches Organ, sondern auch auf dem Gebiet seines Themas. Sie ist nämlich ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal von Theosophie und Anthroposophie. Sie war allen theosophischen Autoren unbekannt. Deshalb war bei diesen das vierte Wesensglied als „Tierseele“ (Sinnet) oder „kamamanas“ (Judge/Besant) bloß ein schwacher Abglanz des eigentlichen Menschenwesens, des fünften Wesensgliedes, des „manas“. Es gab bei den theosophischen Autoren kein Ich in der Wesensgliederreihe. Erst durch die Einführung der Bewusstseinsseele in das Wesensgliedergefüge konnte Rudolf Steiner das vierte Wesensglied als „Ich“ sichtbar werden lassen. Dazu war die Unterscheidung der Bewusstseinsseele vom fünften Wesensglied (manas) erforderlich und ihre Verbindung mit dem vierten Wesensglied (Verstandesseele/kama-manas). Aus dieser Verbindung resultierte ideengeschichtlich erstmalig das Ich in der Reihe der Wesensglieder. Auch die spezifische Entwicklungsidee, die daraus wiederum erst entstehen konnte, nämlich die der Umwandlung der Leibesglieder in die Geistesglieder, die das Ich als das mittlere vierte Wesensglied vollzieht, ist Helmut Zander als ein zentrales Novum der Anthroposophie und als eine kopernikanische Wende in der von ihm so genannten Geschichte der „Hüllenanthropologie“ völlig entgangen. Gleichzeitig ist ihm entgangen, dass damit überhaupt eine ganz neue Entwicklungsidee auf menschheitsgeschichtlicher Ebene in die Ideen-Geschichte des Abendlandes eingetreten ist und so als Tatsache sichtbar wird, dass mit der Anthroposophie eine Entwicklung über die Geschichtsphilosophie des deutschen Idealismus hinaus stattgefunden, sich also die abendländische Entwicklungsidee auch über den Historismus hinaus weiterentwickelt hat. [...]
Um den Sinn des Individuums völlig herausarbeiten zu können, musste also der menschheitsgeschichtliche Sinn-Entwurf des deutschen Idealismus erst zurückgenommen werden. In der Folge wurde aber deutlich, dass sich der Sinn der einzelnen Individualität wiederum ohne einen menschheitlichen und menschheitsgeschichtlichen Sinn auch nicht aufrechterhalten lässt. Dieses Dilemma ist die echt erlittene geistesgeschichtliche Aporie, in deren Folge erst der Historismus die Bedeutung erlangen konnte, die er erlangt hat. Damit wird uns die wichtige geistesgeschichtliche Bedeutung der Anthroposophie klar. Denn die Idee, die die Kraft besitzt, dieses Dilemma zu lösen, ist einer ihrer ganz zentralen Inhalte: Menschheitsgeschichte und Reinkarnation gehören unauflöslich zusammen. Die einzelnen Menschen vollziehen als selbständige Individualitäten den Geschichtsweg der Menschheit auf dem Reinkarnationsweg vollständig mit. Richtig durchdacht, kann dieser Sachverhalt das Ausgangs-Dilemma des Historismus auflösen. [...]
Die Anthroposophie hat erstmals die Bedeutung des Individuums und die der Menschheitsgeschichte gleichgewichtig zu realisieren vermocht. Sie zeigt, wie die Individualisierung, die den Menschen aus den nationalen und familiären alten Gruppenbindungen herauslöst, sich auf der Grundlage des Mysteriums von Golgatha mit einer Einbindung in das Menschheitliche verschwistern kann. Das ist im Wesen, wenn auch in anderem Gedankenkleid, genau jener Sinn des Christentums, den schon Ernst Troeltsch gegen die Relativierung des Historismus zu setzen gesucht hat, den er aber doch nur (eben ohne Reinkarnationsgedanken) auf der Glaubensebene behaupten, nicht aber auf der Ideenebene zur Erkenntnis gestalten konnte.
Plagiate oder notwendiges Anknüpfen?
Da Zander nicht an eigenständige Geistesforschung glaubt – jedenfalls nicht bei Steiner (mehr dazu in meinem Aufsatz: Das Ende von Zanders Biografie) –, muss er in allem, worüber Steiner spricht und wo er, Zander, irgendwelche Ähnlichkeiten findet, zwangsläufig an ein „Plagiat“ denken. Steiner jedoch betont in einem Vortrag das geistige Gesetz, dass ein Geistesforscher an Erkenntnisse anderer Geistesforscher anknüpfen muss:
Bevor ich in die eigentliche Darstellung eintrete, möchte ich zuvor noch eine Frage von außerordentlicher Wichtigkeit zur Sprache bringen: Warum müssen wir uns denn eigentlich mit theosophischen Gedanken und Theorien beschäftigen, ehe wir selbst in der geistigen Welt etwas erleben können? [...] Aber es gibt in der geistigen Welt ein ganz bestimmtes Gesetz, dessen ganze Bedeutung wir uns durch ein Beispiel klarmachen wollen.
Nehmen Sie einmal an, in irgendeinem Jahre hätte ein beliebiger, regelrecht geschulter Hellseher dies oder jenes in der geistigen Welt wahrgenommen. Nun stellen Sie sich vor, daß zehn oder zwanzig Jahre später ein anderer ebenso geschulter Hellseher dieselbe Sache wahrnehmen würde, auch dann, wenn er von den Resultaten des ersten Hellsehers gar nichts erfahren hätte. Wenn Sie das glauben würden, wären Sie in einem großen Irrtum, denn in Wahrheit kann eine Tatsache der geistigen Welt, die einmal von einem Hellseher oder einer okkulten Schule gefunden worden ist, nicht zum zweiten Mal erforscht werden, wenn der, welcher sie erforschen will, nicht zuerst die Mitteilung erhalten hat, daß sie bereits erforscht ist. [...] Es können also selbst schon bekannte Tatsachen in der geistigen Welt nur geschaut werden, wenn man sich entschließt, sie auf gewöhnlichem Wege mitgeteilt zu erhalten und sie kennenzulernen.
Das ist das Gesetz, das in der geistigen Welt für alle Zeiten hindurch die universelle Brüderlichkeit begründet. Es ist unmöglich, in irgendein Gebiet hineinzukommen, ohne sich zuerst zu verbinden mit dem, was schon von den älteren Brüdern der Menschheit erforscht und geschaut worden ist. [...] Weil dem so ist, weil man sich verbinden muß mit dem, was schon erforscht ist, deshalb mußte auch die theosophische Bewegung in dieser Form begründet werden.
Es wird in verhältnismäßig kurzer Zeit viele Menschen geben, die hellsehend sein werden; diese würden nur Wesenloses, aber nicht die Wahrheit in der geistigen Welt schauen können, weil sie nicht das Wichtige, das schon erforscht ist in der geistigen Welt, sehen könnten. Erst muß man diese Wahrheiten, wie sie die Theosophie gibt, lernen, dann erst kann man sie wahrnehmen. Also selbst der Hellseher muß erst das lernen, was schon erforscht ist, und dann kann er bei gewissenhafter Schulung die Tatsachen selbst schauen. Man kann sagen: Befruchten nur einmal, für ein erstes Sehen, die göttlichen Wesenheiten eine Menschenseele, und hat diese einmalige, jungfräuliche Befruchtung sich vollzogen, dann ist es notwendig für die andern, den Blick erst auf das zu richten, was sich diese erste Menschenseele erworben hat, um ein Anrecht zu haben, sich ein gleiches zu erwerben und es zu schauen.
4.6.1909, GA 109, S. 167f.
Wie unabhängig Steiner gegenüber der Theosophie wirklich war, zeigt eine Briefstelle, die Zander wiederum nur für eine andere Argumentation in seinem Sinne anführt:
[706:] Daß Steiner seinen Weg in die Theosophie von einem „heiligen Meister“ gelenkt sah, wie er am 9. Januar 1905 seiner Frau gestand, ist nur konsequent:
Ich kann Dir nur sagen, wenn der Meister mich nicht zu überzeugen gewußt hätte, daß trotz alledem [der innertheosophischen Auseinandersetzungen] die Theosophie unserem Zeitalter notwendig ist: ich hätte auch nach 1901 nur philosophische Bücher geschrieben und literarisch und philosophisch gesprochen.
GA 262, S. 86.
Über seine Selbstständigkeit berichtet Rudolf Steiner in seinem „Lebensgang“:
Niemand blieb im Unklaren darüber, daß ich in der Theosophischen Gesellschaft nur die Ergebnisse meines eigenen forschenden Schauens vorbringen werde. Denn ich sprach es bei jeder in Betracht kommenden Gelegenheit aus. Und als in Berlin im Beisein von Annie Besant die „Deutsche Sektion der Theosophischen Gesellschaft“ begründet und ich zu deren General-Sekretär gewählt wurde, da mußte ich von den Gründungssitzungen weggehen, weil ich einen der Vorträge vor einem nicht-theosophischen Publikum zu halten hatte, in denen ich den geistigen Werdegang der Menschheit behandelte, und bei denen ich im Titel: „Eine Anthroposophie“ ausdrücklich hinzugefügt hatte. Auch Annie Besant wußte, daß ich, was ich über Geistwelt zu sagen hatte, damals unter diesem Titel in Vorträgen vorbrachte.
Als ich dann nach London zu einem theosophischen Kongreß kam, da sagte mir eine der leitenden Persönlichkeiten, in meinem Buche „Die Mystik... “ stünde die wahre Theosophie. Ich konnte damit zufrieden sein Denn ich hatte nur die Ergebnisse meiner Geistesschau gegeben; und in der Theosophischen Gesellschaft wurden diese angenommen. Es gab nun für mich keinen Grund mehr, vor dem theosophischen Publikum, das damals das einzige war, das restlos auf Geist-Erkenntnis einging, nicht in meiner Art, diese Geist-Erkenntnis vorzubringen. Ich verschrieb mich keiner Sektendogmatik; ich blieb ein Mensch, der aussprach, was er glaubte aussprechen zu können ganz nach dem, was er selbst als Geistwelt erlebte.
Vor die Zeit der Sektionsgründung fiel noch eine Vortragsreihe, die ich vor dem Kreise der „Kommenden“ hielt, „Von Buddha zu Christus“. Ich habe in diesen Ausführungen zu zeigen versucht, welch einen gewaltigen Fortschritt das Mysterium von Golgatha gegenüber dem Buddhaereignis bedeutet und wie die Entwickelung der Menschheit, indem sie dem Christusereignis entgegenstrebt, zu ihrer Kulmination kommt.
Auch sprach ich in demselben Kreise über das Wesen der Mysterien. [...]
Die Vorträge über „Mystik...“ haben dazu geführt, daß derselbe theosophische Kreis mich bat, im Winter darauf wieder zu ihm zu sprechen. Ich hielt dann die Vortragsreihe, die ich in dem Buche „Das Christentum als mystische Tatsache“ zusammengefaßt habe.
Ich habe vom Anfange an erkennen lassen, daß die Wahl des Titels „als mystische Tatsache“ wichtig ist. Denn ich habe nicht einfach den mystischen Gehalt des Christentums darstellen wollen. Ich hatte zum Ziel, die Entwickelung von den alten Mysterien zum Mysterium von Golgatha hin so darzustellen, daß in dieser Entwickelung nicht bloß die irdischen geschichtlichen Kräfte wirken, sondern geistige außerirdische Impulse. Und ich wollte zeigen, daß in den alten Mysterien Kultbilder kosmischer Vorgänge gegeben waren, die dann in dem Mysterium von Golgatha als aus dem Kosmos auf die Erde versetzte Tatsache auf dem Plane der Geschichte sich vollzogen.
Das wurde in der Theosophischen Gesellschaft nirgends gelehrt. Ich stand mit dieser Anschauung in vollem Gegensatz zur damaligen theosophischen Dogmatik, bevor man mich aufforderte, in der Theosophischen Gesellschaft zu wirken.
Denn diese Aufforderung erfolgte gerade nach dem hier beschriebenen Vortragszyklus über Christus.
GA 28, 394ff.
Und wie steht es, wenn man den Plagiats-Vorwurf auf Zander selbst anwendet? Unger-Leistner und Voegele schreiben [o]:
Generell tendiert Zander dazu, anthroposophische Autoren zu marginalisieren, da er sie ja aufgrund seiner methodischen Vorgaben als „Binnenliteratur“ oder apologetische Selbstbestätigungsliteratur einordnet. Obwohl er sie gelegentlich zitieren muss, nimmt er sie im Grunde nicht ernst. Dagegen lässt er Verfasser von Anti-Steiner-Pamphleten der letzten 80 Jahre (z.B. den Antisemiten Max Kully) immer wieder zu Wort kommen. So ist seine Darstellung einseitig und alles andere als objektiv.
Besonders originell ist Zanders Anthroposophiekritik auch nicht. Es sind auffallende Parallelen zwischen ihm und den Steinerkritikern der ersten Kritiker-Generation um 1920 nachweisbar, bis hin zu wörtlichen Übereinstimmungen. Es gibt kaum einen wesentlichen Befund Zanders, der nicht schon vor vielen Jahrzehnten von den genannten Kritikern publiziert worden wäre.
Die von einem Teil der Presse behauptete und vom Verlag verständlicherweise propagierte „Pionierleistung“ Zanders wäre zumindest in diesem Punkt ebenfalls stark zu relativieren. Er gießt vielfach alten Wein in neue Schläuche, gibt Altbekanntes und längst Widerlegtes als neueste Erkenntnisse aus.
Machtstreit?
Da Zander nicht an Steiners eigenständige Geistesforschung „glaubt“, wird für ihn auch alle Uneinigkeit Steiners mit anderen Auffassungen zu einem bewusst herbeigeführten oder zumindest unterlegtem Machtkampf:
[340:] Diese Gemeinsamkeiten hinderten die Theosophen nicht, die inhaltlichen Auseinandersetzungen in ihren Konflikten zu instrumentalisieren. Der Streit um Krishnamurti etwa war an seiner Wurzel auch eine personalisierte machtpolitische Fehde zwischen Besant und Steiner um die Herrschaft in der Adyar-Theosophie, zumindest in ihrer deutschen Sektion.
Zander hält die inhaltliche Differenz hier offenbar für unwesentlich, sie sei nur instrumentalisiert worden!
Wie wenig Rudolf Steiner ein Machtmensch war, zeigt eine Schilderung von Günter Wachsmuth [„Rudolf Steiners Erdenleben und Wirken“, S. 15, zit. nach Buchholz o]:
Jedes ehrliche Streben, selbst wenn es seinen Anschauungen noch so diametral entgegengesetzt war, konnte man ihn so unantastbar objektiv darstellen hören, dass man miterlebte, wie er diesen Andersartigen jede nur erdenkliche Möglichkeit gab, sich selbst auszusprechen, so dass ihm dies dann manchmal von unaufmerksamen Zuhörern sogar als sein eigenes Urteil missdeutet wurde. Ob er über Haeckel oder Laotse, Nietzsche oder Gregor IX. oder sonst wen sprach, immer stand mit einem unabdingbaren Gerechtigkeitssinn, zunächst die betreffende Individualität und ihre eigene Sphäre in ihrer Wesenheit vor den Zuhörern, bevor er ihren Wert und Sinn im Auf und Ab der Weltgeschichte aufzeigte. Ja, er ließ später manche seiner erbittertsten Gegner in ausführlichen Zitaten sich erst selbst darstellen, zum Staunen mancher Hörer, bevor er Unwahres sachlich zurechtrückte oder dann auch allzu menschlichen Eigenheiten, oft verstehend und verzeihend, ihren Namen gab.
Zander dagegen verwirklicht seinen Macht- und Deutungsanspruch immer wieder bis in die Sprache hinein:
[1471:] Bei Steiner [...] ist demgegenüber der Anspruch deutlich, aufgrund der hellseherischen Einsicht ein Deutungsmonopol zu exekutieren.
Reinkarnation und Karma
Hier kann Zander zu nichts anderem kommen als solchen Absätzen:
[765f:] Das Theoriegebäude von Reinkarnation und Karma [...] erweist sich aber bei näherem Hinsehen als Antwort auf Fragen der Anthropologie des 19. Jahrhunderts: Der Mensch war bei Steiner als autonomer Gestalter seines Schicksals konzipiert, gegen die Fixierung durch biologische Vorgaben, gegen die Zwangsverhältnisse sozialer Strukturen und gegen die Erlösung durch Beziehung in der christlichen Theologie. [...] Daß Steiners Gegner potemkinsche Dörfer waren, haben ihm schon Zeitgenossen vorgehalten: Die Vorgaben der Biologie ließen zwischen Dispositionen und Determination Freiräume [immerhin!, H.N.], soziale Verhältnisse waren in Politik und Gesellschaft veränderbar [...], und der soteriologische Determinismus war ein Problem in spezifischen protestantischen Kreisen. Steiners scharfe Profilierung seines Ideals hat unter den Bestreitungen seiner Auffassungen nicht gelitten, ebenso wenig unter dem hochautoritär konzipierten Lehrer-Schüler-Verhältnis, in das sich Theosophen hineinbegeben mussten, wenn sie an der verheißenen Entwicklung selbstbestimmter Persönlichkeiten teilhaben wollten oder auch nicht an Steiners pantheisierenden Vorstellungen, die wie die Vielzahl der Reinkarnationen die Individualität eines Subjektes bis zur Unkenntlichkeit ausdehnten [>803].
[>803] Ob Steiner einen regelrechten Pantheismus oder nur einen Panentheismus oder nur einen Hylozoismus vertrat, ist ein umstrittenes Thema; welche Individualität ein Mensch besitzt, wenn er ins Geistige eingegangen ist, läßt sich in jedem Fall kaum sagen. Systematisch führt auch die Reinkarnation zur Aufhebung von Individualität durch die Überlagerung unzählbarer Individualitäten.
Christologie
Für den Theologen Zander ist Steiners Zugang zum Christentum, sind seine Erkenntnisse des „Mysteriums von Golgatha“ von vornherein suspekt und fragwürdig, um nicht zu sagen falsch. Natürlich kann er – im Besitz der objektiven Wahrheit, zumindest aber der wahrsten Sichtweise – den Spieß umdrehen:
[751:] Die konstitutive Bindung des Christentums an die Geschichte war ihm suspekt, Wahrheit sollte es jenseits der Geschichte, in einer übersinnlichen Wahrheit geben.
Die Frage ist: Wo findet sich Wahrheit für Zander? (Und wie geht Zander mit der Wahrheit um?).
Vereinigung der Seele mit ihren höchsten Kräften ist zugleich Vereinigung mit dem geschichtlichen Christus.
GA 8, 156.
Zander bemerkt gar nicht den inneren Widerspruch seiner Bemerkungen:
[781:] Steiner hat, wie sich herausstellen wird, christlich geprägte Vorstellungen entwickelt, die ihn nicht aus dem theosophischen Horizont herausführten, mit denen er sich aber gleichwohl von anderen Theosophen [...] unterscheiden konnte.
[796:] Aber darum wissen wir immer noch nicht, warum es gerade 1906 zur Christologisierung kam. Letztlich liegen momentan keine schlüssigen externen Motive für den Christologisierungsprozeß im Denken Steiners vor. Man kommt meines Erachtens nicht ohne die Annahme aus, dass Steiner „den Christus“ – aus welchen Motiven auch immer – als eine innere Erfahrung deutete. Gegen eine nur machtpolitisch motivierte Christologisierung spricht neben den fehlenden Konflikten in der Theosophischen Gesellschaft im übrigen die Konsequenz, mit der Steiner auch nach der Trennung von der Muttergesellschaft an seiner Christusvorstellung (wohl auch in der persönlichen Praxis) festgehalten hat und die ein ausschließlich strategisches Motiv unwahrscheinlich macht.
Mit Steiners zentralem Erlebnis kann er gar nichts anfangen:
[796:] Das „Mysterium von Golgatha“, von dem Steiner erstmals am ersten Adventssonntag des Jahres 1906 sprach und [das, H.N.] die gerade genannte christologische Konversion voraussetzt, hat er in seiner Autobiographie zu einer Wende seines Lebens stilisiert.
Grammatikalisch und inhaltlich merkwürdig äußert Zander dann:
[798:] Die Umbruchphase dieses Prozesses könnte als eine Phase der gut Anfang 1906 laufenden christologischen Überformung seines Jesusbildes Ende 1906 gelegen haben.
Aber auch der „ätherische Christus“ ist für Zander eine Erfindung:
[812:] Aber diese Theologie des ätherischen Christus erweist sich in der Rückschau als anlaßbezogenes Theorem im Kampf mit Besant und Leadbeater. Steiner hatte zwar schon früher von einem künftigen Erscheinen des Christus gesprochen, aber die Zuspitzung auf eine ätherische Präsenz war eine Erfindung des Jahres 1910, die so lange ihren Dienst tat, wie der Konflikt mit Adyar andauerte. [...] Doch nach 1913 hat sich Steiner nicht mehr so intensiv auf dieses Theorem bezogen und die Formulierung vom im Ästhetischen [sic!] wiedererscheinenden Christus nur noch selten gebraucht. Sie hatte ihre Funktion aus der Abgrenzung erhalten und erst sekundär zum Aufbau seiner eigenen Position gedient.
Die frühere Stelle war ein Vortrag vom 18.6.1909:
[806:] „[...] aber vollkommen kann man dem beistimmen, dass der Christus – in Bezug auf die Art und den Zeitpunkt zeigen mir meine Erkenntnisse anderes als Mrs. Besant – wiederkommen wird, und dass ihn diejenigen erkennen werden, welche dazu vorbereitet sind. Man sollte vielmehr das Vorbereitetsein betonen, als das Wiederkommen. Es könnte leicht der Fall sein, dass die Menschen den Christus haben, ihn aber nicht erkennen, wenn er auch länger als drei Jahre unter ihnen wäre. ... Es ist im Grunde der Menschheit ein schlechter Dienst geleistet, wenn auch auf eine bestimmte Zeit hingewiesen wird.“ (MTG 10,13)
Das ist nun – außer für Zander – ein ganz eindeutiger Hinweis darauf, dass es um eine ganz andere Art der Wiederkunft geht, als man sie sich vielleicht vorstellt. Zander aber spricht nur von „Verhandlungsspielraum“ gegenüber Besant!
Dass Steiners Voraussage dieser Wiederkunft, für die er später dann doch Zeitangaben machte, einer Realität entspricht, zeigen auch die inzwischen veröffentlichen Berichte über Christuserfahrungen seit den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts (vgl. Hillerdal/Gustafson: Sie erlebten Christus [o]. Garvelmann: Ich bin bei euch [o]).
Zander verweist auch auf Steiners Worte vom 27.4.1907, „daß der Christus in Zukunft wieder erscheinen wird“. Steiner tut dies im Anschluss an das Gleichnis der klugen und törichten Jungfrauen, wo es heißt: „Darum wachet, denn ihr wisset weder Tag noch Stunde, in welcher des Menschen Sohn kommen wird.“
Hier wird hingedeutet, daß dieses Gleichnis etwas damit zu tun hat, daß der Christus in Zukunft wieder erscheinen wird. Machen wir es uns einmal klar. Das können wir, wenn wir uns die Teile des Menschen noch einmal vor Augen führen. Wenn ich am Astralleibe arbeite, so wird im christlichen Sinne der Heilige Geist. Wenn das Ich am Ätherleibe arbeitet, so wird das, was wir Buddhi nennen oder Christus oder der Logos. In meiner „Theosophie“ wird der Heilige Geist Geistselbst genannt, und Christus, der Logos, wird Buddhi oder Lebensgeist genannt. [...]
Es wird eine Zeit kommen, in welcher die Menschheit in die sechste der Wurzelrassen eintreten wird. Dann wird Manas ausgebildet sein bei denjenigen Menschen, die wirklich etwas für ihre Entwickelung getan haben. Bei diesen wird Manas ausgebildet sein. Sie werden bereit sein, Buddhi, den Christus, das sechste Grundteil aufzunehmen. In der sechsten Rasse wird der Mensch den Christus entwickeln, und zwar die Mehrzahl der Menschen. Diesem Zeitpunkt gehen wir entgegen. Es ist ein Zeitpunkt, in dem der Christus Jesus erscheinen wird. In diesem Zeitpunkt wird den Menschen die Kraft gegeben, damit sie sich dahin bewegen können, wo sie den Christus in neuer Gestalt als Frucht empfangen können, da, wo der Christus gleichsam den Samen gelegt hat, wie ein Senfkörnlein, das aufgehen wird in der Seele. In Sichtbarkeit wird ihnen der Christus erscheinen und zwar denjenigen, die das Christus-Auge in sich entwickelt haben.
27.4.1907, GA 96, 321f.
Eine weitere leere Bemerkung Zanders ist:
[825:] Steiner verkündete nicht nur neue Lehren, sondern inszenierte oder fühlte sich als Geistergriffener.
Zander schreibt dies im Anschluss an eine Schilderung von Assja Turgenieff während eines Vortrages über das „Fünfte Evangelium“:
„In der Mitte [des Saals] Rudolf Steiner, so zart und zerbrechlich in seinem schwarzen Gehrock, mit weit auf das Geschaute sich öffnendem Blick. ... Selbst zutiefst erschüttert, versagte ihm manchmal die Stimme, die Worte kamen zaghaft, mit Mühe gesprochen.“
Die eigenen Widersprüche bzw. die eigene Ratlosigkeit bleibt bei Zander unaufgelöst stehen. Waren es (ausgedachte) Lehren? Inszenierte Steiner sich als Geistergriffener? Fühlte er sich als solcher? War er vom Geist ergriffen? Diese Möglichkeit kommt bei Zander nicht vor. Er kann sich nur zu der Deutung erheben, dass Steiner „den Christus“ als „eine innere Erfahrung deutete“ (s.o.)!
Zu der zentralen Wesenheit Michaels hat Zander nicht mehr zu sagen als eine halbe Seite, die wie ein kleiner Lexikon-Eintrag wirkt. Auch dies offenbart einmal mehr, dass er nicht im geringsten empfinden kann, von welchen Erfahrungen Rudolf Steiner spricht.
[835:] Unter den biblischen respektive mythologischen Figuren im Umkreis von Steiners Christologie greife ich den für das Selbstverständnis Steiners wichtigen Engel Michael heraus. Seit 1907 sah Steiner in Michael den Engel des gegenwärtigen Zeitalters: [...] Im Gegensatz zu Gabriel [...] sei Michael der „Inspirator der Wissenschaft“ in einem „spirituellen Sinne“. [...] Auch nach 1913 rekurrierte Steiner des öfteren auf Michael, möglicherweise aber erst gegen Lebensende wieder intensiver. In der „Hochschule für Geisteswissenschaften“ in Dornach war eine „Michaelschule“ geplant [...] Michael war, vergleichbar der Rosenkreuzer-Konzeption, zu einer Chiffre für den Anspruch auf Christlichkeit geworden.
Zander wirft Steiner „Selbsterlösung“ vor, während der Christus für die kosmischen Folgen „zuständig“ sei. In den Worten von „Die Biografie“:
[B-228:] 1911 aber beginnt er, an dieser Stellschreibe zu drehen, indem er eine Art Arbeitsteilung zwischen dem Menschen und Christus vorsieht. „Der Christus“ solle für die Erlösung all derjenigen Bereiche zuständig sein, die den Einzelnen überfordern.
Steiner sagt nicht, dass die Folgen der eigenen Taten ohne den Christus „geheilt“ werden können – aber sie können eben auch nicht ohne die Aktivität des Menschen geheilt werden. Innerlich muss die Seele wieder „gut“ werden – das muss sie wollen. Und äußerlich muss sie ihre Taten wiedergutmachen bzw. „ausgleichen“. Doch immer bleiben darüber hinaus kosmische Folgen dieser Taten – und diese kann nur Christus allein wieder heilen.
Dass Zander von „Selbsterlösung“ spricht, beruht auf dem kindlichen Gottes- bzw. Menschenbegriff der Kirche bzw. Theologie. Im Grunde wird dabei geglaubt, der Mensch könne alles mögliche Schlimme tun; wenn am Ende Gottes Gnade eingreift, sei alles wieder „in Ordnung“. Dies liegt natürlich an dem ebenso rudimentären Entwicklungsbegriff: Gott hat die Welt geschaffen, dann entwickelt sich diese (in Übereinstimmung mit Darwin) und hört irgendwann auf. Gott schafft jeweils neu die einzelnen Menschen (Seele), die nach einem einmaligen Leben sterben und dann auf den Jüngsten Tag warten, wo sie auferstehen.
Die Realitäten, auf die Steiner hinweist, sind viel differenzierter:
Wenn der Mensch glaubt, daß er das höchste menschliche Ideal, wie es für die Erdentwickelung angemessen ist, erreichen kann auf einem bloßen inneren Seelenwege, durch eine Art Selbsterlösung, dann ist eine Beziehung zu dem objektiven Christus nicht möglich. [...] Das ist ja gerade das furchtbar Groteske in der Entwickelung des neunzehnten Jahrhunderts, daß das, was einen Zusammenhang braucht - Mikrokosmos und Makrokosmos -, entzweit, auseinandergerissen worden ist. [...]
Das aber ist etwas, was nur dem neunzehnten Jahrhundert passieren konnte, daß man sich sagte: Alles, was der Mensch gesündigt hat, was er an Schwäche an sich hat, ist nur seine persönliche Angelegenheit; die Erlösung muß durch ein Ereignis in der Seele eintreten. Daher kann Christus auch nur ein innerliches Ereignis der Seele sein. – Was notwendig ist, damit der Mensch nicht nur seinen Weg zu dem Christus findet, sondern seinen Zusammenhang mit dem Makrokosmos überhaupt nicht abreißt, das ist die Erkenntnis: Begehst du Irrtum und Sünde, so sind dies objektive, nicht subjektive Ereignisse, und es geschieht dadurch etwas draußen in der Welt. [...]
Durch das luziferische Ereignis ist auf der einen Seite die große Wohltat dem Menschen geworden, daß er zum freien Menschen wurde; aber auf der anderen Seite hat er dafür in Kauf nehmen müssen, daß er abirren kann von dem Pfade des Guten und des Rechten, auch von dem Pfade des Wahren. Was im Laufe der Inkarnationen eingetreten ist, ist eine Angelegenheit des Karmas. Aber alles, was so sich einnistet vom Makrokosmos in den Mikrokosmos, was die luziferischen Kräfte dem Menschen gegeben haben, das ist etwas, womit der Mensch allein nicht fertig wird. Um das wieder auszugleichen - dazu braucht es einer objektiven Tat. Kurz, der Mensch muß empfinden, weil das, was er als Irrtum und Sünde begeht, nicht bloß subjektiv ist, daß auch nicht bloß ein Subjektives in der Seele genügt, um die Erlösung herbeizuführen.
13.10.1911, GA 131, 196ff.
Nein, der Weg hin zum Christus, zu dem Mysterium von Golgatha, liegt nicht in einer Lehre, er liegt in der sich frei entwickelnden, in der frei hinströmenden Liebe. Nur dadurch ist der Weg zu dem Christus erreichbar. Und wenn diese frei hinströmende Liebe vorhanden ist, wird auch unsere Weisheit in sich den Geist aufnehmen, der der heilende, der Heilige Geist ist [...]. Es gibt kein anderes menschliches Verhältnis, das von dem Menschen die Erbsünde wegnehmen kann als das Verhältnis zu dem historischen Christus, der durch das Mysterium von Golgatha gegangen ist. [...] Erlösung von der Erbsünde bedeutet, ein solches Verhältnis zu dem historischen Christus zu haben, der durch das Mysterium von Golgatha gegangen ist, daß dieses Verhältnis auf geistig-seelische Art ebenso wahr durch unsere Adern pulst, wie auf physische Art das Blut durch unsere Adern pulst. [...]
5.10.1921, GA 343, S. 399ff.
Die Kraft aus Christus bekomme ich dazu, daß nicht die allgemein-menschliche Erbsünde schon mich hindert, die Kraft [zum Guten] zu haben. Ich habe überhaupt keine Kraft zum Guten in unserer heutigen Zeit nach dem Mysterium von Golgatha, wenn ich nicht diese Kraft von Christus in bezug auf die Erbsünde habe. Ich habe keine Kraft ohne die Tilgung der Erbsünde. []
Wenn die bloßen Schwächen und ähnliches nachgelassen würden, würden wir gestört werden in unserer persönlichen Entwickelung. Vielleicht wird Ihnen das am anschaulichsten dadurch, daß ich auf folgendes aufmerksam mache. [...] Es kann untersucht werden, welchen Eindruck es auf den Toten macht - also auf den durch die Pforte des Todes gegangenen Menschen -, wenn er, wie es ja dann ist, in seinen Eigenschaften die Folgen seiner Erdentaten trägt. [...]
Das Leiden ist da, aber die Seele wünscht das Leiden, weil durch die Überwindung des Leidens die Stärke kommt. Man ist in diesem Fall um einen Terminus verlegen. Man kann nicht sagen, die Seele leidet, aber die Seele wäre unglücklich, wenn sie nicht nach dem Tode die Folgen ihrer Vergehungen in sich tragen würde, und zwar dann als Eigenschaften. Es wandelt sich dasjenige, was Tun im Leben ist, respektive der Charakter des Tuns in Eigenschaften um, und diese Eigenschaften wandeln sich in dem Leben zwischen Tod und neuer Geburt um in Kräfte, Fähigkeiten und so weiter, die dann durch die nächste Geburt [dem Menschen] eingeboren werden. Und das wandelt sich in unbewußte Wünsche um, die dann das Karma [im nächsten Leben] zwischen der Geburt und dem Tode bedingen.
6.10.1921, GA 343, 431f.
Zander kann nur kommentieren:
[1624:] Ob er das leistungskritische Herzstück der christlichen Gnadenlehre in der Debatte um die Selbsterlösung verstanden hat, scheint mir unwahrscheinlich.
Angeblich hat er auch Respekt vor Steiners „Forum internum“:
[855:] Steiner hat sein Weltbild nach 1900 immer stärker unter Einbeziehung christlicher Vorstellungen expliziert. Insoweit seine persönliche Spiritualität berührt ist, entzieht sich dieser Bereich einem abschließenden analytischen Zugriff und forderte [sic!] Respekt vor Steiners forum internum.
Schon Zanders Ausdrucksweise ist martialisch. Und versucht er nicht dennoch fortwährend diesen Zugriff? Wie war das z.B. mit seiner Vermutung, Steiner habe Geistergriffenheit inszeniert? Oder der Vermutung in „Die Biografie“ [B-237], Steiner könnte Kokain zu sich genommen haben? Und eine Seite später schreibt er:
[856:] Persönliche Eitelkeiten, handfeste Machtansprüche und ehrliche Überzeugungen hinsichtlich der Deutung des Christus geronnen zu einer kaum noch trennbaren Mischung. Daß auch die Theorie von der „Erscheinung des Christus im Ätherischen“ nach 1913 nurmehr selten gebraucht wurde, dokumentiert, daß Steiner seine Christologie bis in inhaltliche Kernfragen hinein in Abhängigkeit von diesen innertheosophischen Auseinandersetzungen formulierte und einsetzte.
Dass Zander keine Zusammenhänge herstellen kann, sondern überall nur Widersprüche oder unverbundene Bausteine sieht, zeigt auch die folgende Stelle wenig später:
[856f:] Steiner hat seine Christologie mehrfach und einschneidend erweitert oder verändert, allerdings geleugnet, daß es sich dabei um wesentliche Veränderungen gehandelt habe. [...] Die Parallelität unterschiedlicher Christologien illustrieren drei Beispiele:
- Die Taufchristologie, wonach der Christus den Leib des 30jährigen Jesus bei der Johannestaufe in Besitz nahm, steht neben der von Steiner später übernommenen präexistentianischen Theorie der beiden Jesusknaben;
- die Mysterientradition wurde in ihrer alles dominierenden Bedeutung, die sie 1902 besaß, zunehmend zurückgeschnitten;
- und die Historizität des Christus, noch 1902 kein Thema, hat er zwar seit 1906 betont, aber mit der Einführung des Modells der Erscheinung des Christus im Ätherischen seit 1910 auch wieder spiritualisiert.
Dann behauptet Zander, Steiner selbst habe die historisch-kritische Methode angewandt:
[857:] Die historische Kritik war für ihn der materialistische, geistfeindliche Todesstoß für die Religion. Natürlich hat er Teile dieses Denkens akzeptiert und angewandt, etwa in der religionshistorischen Kontextualisierung des Christentums als Teil der antiken Mysterientradition [...].
Und warum leugnet die katholische Kirche dann diese „Kontexte“ im wesentlichen? Dass es bei Steiner kein kritisch-historisch-kontextualisierendes Denken, sondern gerade geist-reales Denken und Forschen war, kann Zander natürlich nicht akzeptieren.
Und so hat Zander nur das folgende, am Ende kryptische Urteil bereit:
[858:] Aus der Distanz eines Jahrhunderts erscheinen der Geist von Steiners Christologie, seine „hellsichtigen“ Aufklärungen und seine „Korrekturen“ oder „Verbesserungen“ der Bibel und der Christentumsgeschichte als Zeitgeist. Was Steiner mit der Würde höherer Einsicht versah, weil er den Historismus bekämpfte und das Christentum dem (vermeintlichen) Historisierungsverhängnis entziehen wollte, historisierte ihrerseits die anthroposophische Christologie und ist heute als Parteimeinung des Streites um Bibel und Christentum im Kaiserreich erkennbar. [...] Deshalb gilt Klaus von Stieglitz’ Wertung, die er in seiner bahnbrechenden Dissertation 1955 formulierte, in historiographischer Perspektive weiterhin: Steiners Christologie ist „eine vielfach anlaßgebundene spekulative Weltanschauung“. Über den theologischen Stellenwert seiner Deutungstheorien, die sich anderer Methoden als der historisch-kritischen bedienen, ist damit kein Urteil gefällt.