2012
30.05.2012

Das Moralische als absolute Wirklichkeit

Die entscheidende Frage für das Überleben und die Geburt des Menschlichen.


Inhalt
Annäherungen an die Realität des Moralischen
Die „andere“ Realität immer tiefer erleben
Das Moralische und das Wesen des Menschen
Das tötende Vakuum
Die Bestimmung des Menschen

Annäherungen an die Realität des Moralischen

Manchmal wird es ganz besonders deutlich, dass wir in einer Welt leben, deren Gestaltung dem Menschen unglaublich feindlich ist. Ein besonders eindrückliches und erschreckendes Beispiel geben viele Verlautbarungen der EU-Kommission, in denen etwas wirklich Furchtbares zu Tage tritt (ausführlich dazu: Der Amoklauf der EU-Kommission).

Jeder Mensch sollte wirklich versuchen, immer aufmerksamer auf das zu werden, was er an bestimmten Worten erlebt. Es ist von außerordentlicher Bedeutung, wie etwas gesagt wird – fast immer spricht sich daran unendlich viel mehr aus als in dem, was gesagt wird. Und man sollte lernen, auf das, was man innerlich an den einen oder den anderen Worten erlebt, auch zu vertrauen. Das heißt nicht, dass man hier sofort eine Objektivität erreichen würde, aber letztlich führt die unbefangene Vertiefung in dieses Erleben der Qualitäten ebenso zu einer immer größeren Objektivität wie die Beschäftigung mit Inhalten und „Fakten“.

Man betritt jedoch eine ganz andere Sphäre der Wirklichkeit. Die Beschäftigung mit „Nachrichten“, „Meldungen“ und „Informationen“ hält den Menschen ganz in seinem Verstand, in seinem Intellekt, und dieser ist zunächst a-moralisch, ganz losgelöst von jedem Moralischen.

Sobald man seine Aufmerksamkeit aber von dem bloßen Verstehen des Fakten-Inhaltes auf das Qualitative lenkt – auf das Wie; auf das, was zwischen den Zeilen schwingt; auf das Wesen dessen, was da ausgesprochen wird –, betritt man eine vollkommen andere Sphäre, in der man unmittelbar dem Moralischen begegnet.

Die meisten Menschen haben zu diesem Begriff heute keine klare Beziehung mehr. Meist wird das „Moralische“ nur im alten Sinne verstanden: als äußere Normen, die einem das Handeln vorschreiben sollen. Das heutige Bewusstsein wehrt sich dagegen zu Recht. Denn es kommt darauf an, dass heute jeder Mensch das Moralische ganz in sich selbst findet. Aber – und hier beginnt die Schwierigkeit – darauf kommt es auch wirklich an! Dass äußere Normen heute in höherem Sinne völlig ihre Gültigkeit verloren haben, bedeutet nicht, dass das Moralische nicht existieren würde – sondern nur, dass äußere Normen das wahrhaft Moralische, die reale Sphäre der Moralität, überhaupt nicht mehr erfassen können, sondern diese Sphäre und ihre Wirklichkeit nur unmittelbar erlebt werden können.

Äußere Normen und Regeln können das Zusammenleben zwar mehr oder weniger äußerlich regeln. Aber es wird immer mehr alles darauf ankommen, ob das Zusammen-Leben wirklich ein „Zusammen“ ist – ob es wirklich innerlich gewollt und bejaht wird. Hier und nur hier finden wir die wirkliche Sphäre von Moral – in ganz und gar inneren, von allem Äußeren vollkommen unabhängigen moralischen Impulsen, in denen unmittelbar der menschliche Wille spricht.

Und wollte man andere Worte für diesen Begriff des Moralischen finden, müsste man sagen: „Wille zum Guten“. Denn darum geht es – um Willensimpulse, die zur Verwirklichung von etwas drängen, was gut ist. Was ist gut? Das Gute ist das, was echter Entwicklung dient – nicht materieller Entwicklung, sondern moralischer Entwicklung; Entwicklung mit Ewigkeitswert.

Das Moralische ist natürlich ebenso berührt, wenn wir vor einem Mangel an Moralität stehen. Von Paul Watzlawick stammt der Satz: „Man kann nicht nicht kommunizieren.“ Ganz in demselben Sinne können wir sagen: Man kann nicht nicht moralisch handeln. Selbst eine absolut unmoralische oder a-moralische Handlung steht zum Reich des Moralischen in unmittelbarem Bezug, indem es gerade das Gegenteil des Guten verwirklicht oder sich um die Frage nach dem Guten nicht zu kümmern scheint.

Die „andere“ Realität immer tiefer erleben

Und genau das ist es, was wir alle auf irgendeine Weise deutlich erleben, wenn wir zum Beispiel bestimmte Papiere der EU-Kommission lesen und das Qualitative auf uns wirken lassen. Die in solchen Papieren liegende Qualität lässt sich wie folgt beschreiben:

Aus jedem Satz wird deutlich, dass es auf „Wirtschaftswachstum“ ankommt. Wir wissen alle, dass die EU-Verträge dies sozusagen als oberstes Ziel enthalten. Und so tritt es in derartigen Papieren als absoluter Selbstzweck auf – und genau das ist es, was das innere, feine, sehr deutliche moralische Empfinden in jedem Menschen so nachhaltig erschüttert: Dass hier etwas zum Selbstzweck erhoben wird, was angeblich dem Menschen dienen soll. Wir wissen alle, dass die heutige Form des Wirtschaftens nicht dem Menschen dient, sondern ungezählte Opfer fordert. Und die extrem technokratische Sprache von EU-Papieren lässt auch überhaupt keinen Zweifel daran, dass echter, qualitativer Wohlstand aller Menschen nicht einmal mehr im Hinterkopf der EU-Bürokraten irgendeinen Wert darstellt.

Das Wirtschaftswachstum ist zu einem Selbstzweck geworden, in dem der Mensch als geistig-moralische Individualität keine Rolle mehr spielt. Das ist das so ungeheuer Erschreckende! Wir haben das Gefühl, wir stehen vor einem Dokument, das von Robotern geschrieben wurde und das in einer Roboterwelt die Produktionsleistungen steigern soll – zum absoluten Selbstzweck!

Selbst wenn es innerhalb der EU-Kommission Menschen gäbe oder gibt, denen es um den Menschen geht, enthalten die Papiere und Verordnungen der Kommission den Menschen nicht! Und dies führt dazu, dass nach und nach jedes moralische Denken und Erleben verloren geht. Wie auf dem Papier, so in der Wirklichkeit. Das Ganze ist und wird ein Mechanismus. Es geht um wirtschaftliche Kennzahlen, die um ihrer selbst willen verfolgt und verwaltet werden – und bei jeder Abweichung mechanisch sanktioniert werden.

Wir wissen dies alles sehr gut – aber bei dem, wovon ich hier spreche, geht es um ein noch viel tieferes Erleben dieser Wirklichkeit. Die Sphäre des Moralischen kann als etwas erlebt werden, was einen ebenso starken und unmittelbaren Wirklichkeits-Charakter hat wie die äußere, sinnlich-materielle Welt. Man kann lernen, diese Welt des Moralischen ebenso real zu erleben wie den Stuhl, auf dem man sitzt!

Dann sind hässliche, verschmutzte, baum- und pflanzenlose Straßen nicht nur etwas, wo man sich nicht wohl fühlt, sondern dann erlebt man tief und stark, wie sehr eine solche Umgebung dem Wesen des Menschen widerspricht – und auch warum.

Dann sind seelenlose, technokratische Dokumente der EU-Kommission nicht nur etwas, an denen man das Fehlen jeder Menschlichkeit unmittelbar und stark spürt, sondern dann sind sie ein Zeugnis einer absolut realen Wirklichkeitssphäre, die von allem Moralischen entleert ist – wie ein Vakuum –, und dann ist das Erleben dieser Wirklichkeit etwas, was ebenso real ist wie das Erleben eisiger Kälte.

In bestimmten Filmen oder Romanen tritt das Böse in nicht-menschlicher und dennoch sinnlicher Gestalt auf, und den Menschen wird dann physisch kalt, sie spüren einen eisigen Luftzug. Diese Filme erfassen etwas von der Wirklichkeit, aber sie verfälschen es, indem sie es in die materiell-sinnliche Wirklichkeit übertragen. Das Moralische ist jedoch eine seelisch-geistige Realität, die seelisch-geistig erlebt wird. Die absolute Kälte a- oder sogar unmoralischer Seelenlosigkeit wird in der Seele erlebt. Und nur ihre Folgen – z.B. Armut und Arbeitslosigkeit – zeigen sich dann in der physisch-sinnlichen Welt.

Das Moralische und das Wesen des Menschen

Es ist ungeheuer bedeutsam, dass wir diese Ebenen auseinanderhalten lernen und dass wir auch die zunächst nicht-sinnliche Sphäre des Moralischen als volle Wirklichkeit erkennen und erleben lernen. Die seelische und die geistige Welt sind ganz eigenständige, von der physischen Welt unabhängige, über sie weit hinausgehende Wirklichkeitssphären.

In der physischen Welt an sich gibt es keine Moral, auch keine Menschlichkeit. Erst der Mensch ist es, der das Moralische und überhaupt alles Sinnhafte in die sinnlich-materielle Welt hineinträgt. Ohne ihn gäbe es dies auf der Erde gar nicht! Aber der Mensch selbst als geistig-seelisches Wesen hat einen allertiefsten, unmittelbaren Bezug zur moralischen Welt, denn die eigentliche Wirklichkeit des Moralischen ist eine Geistige.

Das Moralische ist nichts Theoretisches, Irreales. Moral als System überlieferter Normen ist etwas Totes, Überkommenes – sozusagen das tote Endprodukt ursprünglich „lebendiger“ Moralität. Im Idealfall sind äußere Regeln etwas, was als lebendiges moralisches Erleben in den Menschen selbst lebt. Die Regeln bedeuten dann nicht irgendeinen Zwang, sondern sie beschreiben im Grunde nur, was die Menschen durch ihr ganzes Sein und Verhalten leben.

Immer mehr soll heute alles Handeln aus dem eigenen inneren, lebendigen moralischen Erleben kommen. Das ist moralische Freiheit, moralisches Erwachen. Diese Freiheit meint nicht Zügellosigkeit, sondern das freie Erwachen des individuellen Menschen zu (und in) der realen Sphäre der Moral, die Begründung einer ureigenen, realen Verbindung zu dieser Sphäre.

Äußere, tote Normen sind heute ebenfalls moralisch – aber im negativen Sinne, mit einem Minuszeichen. Insofern sie nämlich heute die innere, wahrhaft moralische Freiheit des Menschen be- und verhindern, werden sie gerade zum Träger des Unmoralischen (des Unguten, des Bösen, wie auch immer man es nennen will)!

Äußere Moral, überkommene „gesellschaftliche“ Überzeugungen, die sich z.B. in sozialem Anpassungsdruck äußern, sind geradezu die Feinde des wahrhaft Moralischen, das nur im einzelnen Menschen aufleuchten kann. Dieses Geschehen ist nur in absoluter Freiheit möglich – und ist selbst ein allergrößtes Freiheitserlebnis! Freiheit als Realität ist nicht nur ein allerhöchster moralischer Wert, sie ist zugleich die Bedingung, überhaupt die Wirklichkeit des Moralischen zu finden! In diesem Punkt fallen alle drei Wirklichkeiten zusammen: Indem der Mensch die Wirklichkeit des Moralischen findet, findet er zugleich die Wirklichkeit der Freiheit und die Wirklichkeit des Menschlichen.

Das tötende Vakuum

Wenn wir die Sphäre des Moralischen immer mehr erleben und uns immer tiefer zu Bewusstsein kommt, dass es diese Sphäre gibt, dann wird uns die moralische Qualität alles Geschehens in der Welt erschütternd deutlich.

Tief erschütternd ist dann vor allem der Mangel an moralischer „Substanz“. Man empfindet dann ein Geschehen (oder ein Dokument), in dem es in keinster Weise um den Menschen geht – obwohl der Mensch davon unmittelbar betroffen ist –, wirklich wie ein Vakuum. Und so wie der physische Leib ein Vakuum gar nicht ertragen kann, so kann auch die Seele des Menschen ein moralisches Vakuum eigentlich gar nicht ertragen. Sie kann es nur, wenn sie selbst auch „stirbt“ – was man heute gewöhnlich „Abstumpfung“ nennt.

Machen wir uns einmal klar, wie sehr wir als ganze Menschheit bereits abgestumpft sind! Gerade die Tatsache, dass das Moralische heute nicht als eine Wirklichkeit erlebt wird, sondern als ein luftiges, nebeliges „Epiphänomen“ menschlichen Daseins, zeigt doch das ganze Drama!

Man behauptet zum Beispiel, das Gewissen sei nur das Produkt äußerer, internalisierter Normen. Das mag für Menschen stimmen, die moralisch nicht erwachsen werden – in Wirklichkeit aber haben wir festgestellt, dass das real Moralische sich gerade gegen alle äußeren Normen geltend machen muss! Würden wir als Menschen nur durch Normen gezwungen werden müssen, moralisch zu handeln, und wäre das Gewissen nur das internalisierte Abbild äußerer Zwänge, so wäre es um den Menschen ebenso schlecht bestellt, wie im Falle aller übrigen Weltbilder, die den Menschen für eine „bio-chemische Maschine mit einigen psychologischen Zusatzphänomenen“ halten!

Hier scheiden sich die Geister – in echte Geister und in Menschen, die sich lieber für ein Produkt ihrer neuronalen Netzwerke und ihrer Hormone halten! Entweder der Mensch ist ein reales geistiges Wesen und das Moralische ist eine absolute Wirklichkeit – so wie das Wesen des Menschen –, oder die gesamte Menschheitsgeschichte und alles Reden von Moral und Werten ist ein Witz, lächerlich und langweilig. Warum dann nicht gleich den Kampf aller gegen alle beginnen? Weil der Mensch in der Vernunft einsieht, dass dies nicht vernünftig wäre?

Nein, sondern es wäre auch nicht moralisch. Und der Mensch ist mit einem Erleben des Moralischen ebenso begabt wie mit einem Erleben des Vernünftigen. Der Mensch ist nicht nur ein vernunft-begabtes, er ist auch ein moral-begabtes Wesen – wenn er es will. Und dies gilt buchstäblich: So wie der Mensch denken kann und im wahrhaften Denken seine Vernunft entfalten wird, die ihrem Wesen nach etwas unendlich Großes ist, so kann der Mensch auch wollen und im wahrhaften Wollen das Moralische, das ebenfalls etwas unendlich Großes ist, auf Erden zu einer Wirklichkeit machen.

Und so, wie der Mensch nicht wahrhaft denken kann, ohne dies in stärkster innerster Aktivität zu wollen und zu tun, so kann der Mensch nicht wahrhaft moralisch wollen und handeln, wenn er nicht zuvor und zugleich durch sein Denken, durch seine Ideen und Intuitionen einen realen Zugang zur Welt und zur Wirklichkeit des Moralischen findet. Dieses Moralische ist eine eigene Wirklichkeit, aber der Mensch kann sich mit dieser Wirklichkeit verbinden – und indem er dies tut, trägt er diese Wirklichkeit auch in die irdische Wirklichkeit „hinunter“ bzw. hinein, wo sie ohne ihn gar nicht vorhanden wäre.

Die Bestimmung des Menschen

Der Mensch ist dazu bestimmt – sein Wesen zu verwirklichen! Nichts kann ihn dazu zwingen. Denn zu seinem Wesen gehört essentiell die Freiheit dazu. Dies ist gerade das große Wunder jener göttlichen Welten, aus denen der Mensch „geboren“ wurde: Dass hier ein Wesen geschaffen wurde, dass fortan die Freiheit hat, sein Wesen zu verwirklichen – oder dies nicht zu tun.

Um so erschütternder ist es, wenn wir sehen, wie sehr ein erdrückend großer Teil alles Weltgeschehens darauf hinausläuft, die Freiheit des Menschen zu hemmen, zu verringern, zu unterdrücken, zu vernichten – und das Moralische gerade nicht in der Welt anwesend sein zu lassen, sondern es auszuschalten, es zu bekämpfen, es zu verachten und zu verspotten.

Überall, wo etwas anderes als der Mensch zum Selbstzweck wird – sei es der Profit, sei es Macht, sei es sinnlicher Genuss –, da wird dem Menschen als geistig-moralischem Wesen Gewalt angetan. Meist dehnt sich die Gewalt auch auf das Seelische und oft auch auf das Physische aus. Sinnlosigkeit, Ausbeutung, Armut und andere Erscheinungen unserer heutigen Zeit – sie alle sind Symptome des Kampfes gegen den Menschen. Die Ursache dieses Kampfes ist immer dieselbe: Es ist die Tatsache, dass der Mensch sein wahres Wesen nicht mehr (oder noch nicht) versteht und erkennt – und dass er die Realität des Moralischen nicht mehr (oder noch nicht) erlebt.

Wenn dies aber geschähe, dass der Mensch sein wahres Wesen und das Wesen des Moralischen wirklich erkennen würde, würde die ganze Welt eine andere werden. Und sei es auch nur in einzelnen Menschen – in diesen Menschen würde dann die Realität der moralisch-geistigen Welt zu wohnen beginnen, und sie würden dafür wirken, dass auch weitere Menschen dazu kommen, sich dieser entscheidenden Wirklichkeit immer mehr zu nähern: der Wirklichkeit der Freiheit, des Moralischen und des Menschenwesens.

Diese Wirklichkeit wartet auf uns – sie wartet auf den erwachenden Menschen, und sie wartet gewissermaßen mit ausgestreckten Armen...