2012
09.07.2012

Das noch ungeborene Europa!

Die Idee Europas und unsere wahre Sehnsucht.


Inhalt
Falsche Maßnahmen und Visionslosigkeit
Vom Erleben des Ideellen
Das Geheimnis des Sozialen
Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit
Die Idee des Menschen – die Mission Europas


Falsche Maßnahmen und Visionslosigkeit

Namhafte Volkswirte mit Tiefblick weisen darauf hin, dass die „Rettung des Euro“ inzwischen extrem unwahrscheinlich geworden ist, weil viel zu zögerlich die dann auch noch falschen Maßnahmen ergriffen werden [o]. Doch selbst wenn das Unwahrscheinliche eintritt und durch doch noch richtiges Handeln der Euro gerettet werden könnte – was ist damit eigentlich genau gerettet? Eine einheitliche Währung. Die eigentliche Frage aber ist doch: Wozu dient diese überhaupt? Gibt es etwas, was darüber hinaus gerettet – oder überhaupt erst einmal ... geboren werden müsste?

Man spricht beim Euro gern von „Gemeinschaftswährung“. Aber liegt hier nicht schon der erste Missbrauch der Sprache vor? Was würde Gemeinschaft denn bedeuten? Haben wir von einer wirklichen Gemeinschaft Europas überhaupt eine reale Idee? Das aber bedeutet: Haben wir von Europa selbst eine wirkliche Idee? Was ist die Idee Europas?

Heute besteht auch eine Idee Europas. Letztlich liegen jedem menschlichen handeln Vorstellungen und Willensimpulse zugrunde – sei es bewusst, sei es unbewusst; seien es niederste Instinkte und Triebe, seines es höchste Ziele und Ideale. Die heutige Idee Europas ist faktisch nichts anderes als die Idee, das Konzept eines großen gemeinsamen Wirtschaftsraumes, der allen Mitgliedern Vorteile bringen soll – nach innen wie nach außen.

Wirtschaftlich gesehen mag es Unternehmen tatsächlich Vorteile bringen, wenn sie z.B. innerhalb der Eurozone nicht das Risiko von Währungsschwankungen berücksichtigen müssen. Andererseits ist gerade die Möglichkeit der Abwertung der eigenen Währung eine Möglichkeit, die eigenen Produkte bei entsprechender Notwendigkeit „konkurrenzfähiger“ zu machen. Angesichts des „Niedriglohnstandorts“ Deutschland ist der gemeinsame Euro in mehrfacher Hinsicht gerade ein Verhängnis für manche anderen Länder: Ihre Produkte sind relativ gesehen zu teuer – und genau diese Konkurrenz- und Handelsungleichgewichte sind ein wesentliches Einfallstor für die Spekulation, für die Zerstörung des Euro.

Aber – ist dann dieser Euro überhaupt erhaltenswert? Wie auch immer man diese Frage beantwortet, die reale Rettung des Euro hinge gerade davon ab, die Ungleichgewichte zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten auszugleichen. Und dies ist nicht einmal so sehr Solidarität mit „leistungsschwächeren“ Staaten, sondern zunächst vor allem ein Anerkennen der Ungleichgewichte im eigenen Land. Wie Friedericke Spiecker und anderen Wirtschaftswissenschaftler zeigen, ginge es bei der wirklichen Wirtschaftsunion vor allem auch darum, dass sich die Löhne in Deutschland erhöhen!

Das gegenwärtige Konzept Europas ist das eines Wirtschaftsraumes, der der konkurrenzstärkste Wirtschaftsraum der Welt sein will. Dieses Konzept definiert Europa also vor allem in Begriffen der Konkurrenz, der Abgrenzung. Es geht um Wettbewerbsfähigkeit, um Kostensenkung und Unterbietungswettbewerb. Das ist kein positives Konzept von Europa, es ist ein negatives – und es dient nicht den Menschen, sondern letztlich vor allem dem Profit einiger Weniger.

Und darüber hinaus? Man erwähnt wohl bisweilen auch den gemeinsamen Kulturraum, aber über äußerste Abstraktheiten kommt dies nicht hinaus.

Es ist, wie dm-Gründer Götz Werner vor zwei Wochen im Interview mit dem „Tagesspiegel“ sagte [o]:

Momentan kommt es mir so vor, als hätten wir uns mit dem Euro den äußerlichen Anschein einer Gemeinschaft gegeben, sie aber seelisch und geistig nicht vollzogen. Wenn wir in Europa eine Gemeinschaft sein wollen, müssen wir alle füreinander verantwortlich sein.

Vom Erleben des Ideellen

Zur wirklichen Idee Europas können wir nur kommen, wenn wir die Abstraktheit überwinden. Von einer wirklichen Idee können wir nur sprechen, wenn diese mehr wäre als einige blasse Vorstellungen – wenn diese so real wäre, wie die Euromünze in unserer Hand (noch) real ist. Eine Idee hat nur dann Realität, wenn man ihre Realität erlebt.

Können wir bei dem Gedanken an Europa irgendetwas ... erleben? Können wir an Europa denken, können wir Europa denken, die Idee Europas, so denken, dass dieser Gedanke in uns etwas erklingen lässt? Dass er etwas entzündet? Dass uns bei dieser Idee warm ums Herz wird? Dass uns eine Begeisterung für diese Idee erfüllt? Dass diese Idee zum Ideal wird, zu etwas, mit dem sich unser Wille verbindet?

Wie müsste die Idee Europas sein, damit dies geschehen kann? Welche geistige Gestalt müsste die Idee Europas haben, damit in unserer Seele ein helles, warmes Licht aufleuchtet, wenn sie sich mit dieser Idee erfüllt?

Es müsste eine solche Idee sein, dass wir in ihr unser Menschsein wiederfinden, dass wir in ihr das Menschliche in einer wahren Gestalt wiedererkennen und wiederfinden. Das bedeutet, die Idee Europas kann keine wirtschaftliche sein (wenn sie nicht nur unseren Materialismus, unsere Bequemlichkeit, unser globales Konkurrenzdenken und unsere Gier anstacheln soll), sondern sie muss einen moralischen, einen wahrhaft kulturellen, einen geistigen Inhalt haben. Die Idee Europa muss einen Sinn haben, der innere Mensch in uns muss in dieser Idee einen Sinn erkennen, der sein Menschsein widerspiegelt – und es wenn möglich noch erhabener und edler werden lässt. Das heißt aber: Nur der wahre Mensch in uns kann diese Idee erfassen – und wahrmachen.

Wenn wir auf die Geschichte Europas blicken, dann finden wir dort leuchtende Höhepunkte menschlichen Geistesstrebens. Wir finden ein tiefes, leidenschaftliches Streben nach Freiheit, nach Selbstbestimmung, nach Individualität. Wir finden ein leidenschaftliches Streben nach der Wahrheit, nach Schönheit. Wir finden begnadete Künstler: Maler, Musiker, Dichter. Wir finden eine ebenso große Zahl tiefer Denker, Philosophen und Geistessucher. Und wir finden in allen bisherigen Jahrhunderten auch tief religiöse Geister mit einem hingebungsvollen Streben nach einem religiösen Leben und einer tiefen Sicherheit in Bezug auf die Existenz des Göttlichen.

Können wir in dieser ungeheuren, insbesondere mitteleuropäischen Geistesgeschichte nicht ein wunderbares Leuchten erleben? Können wir darin Höhepunkte des äußeren Geschichtsverlaufes erleben? Klingt hier etwas an in unserer Seele – oder haben wir uns mit diesen Malern, Dichtern, Denkern und Christen, mit Raffael, Walther von der Vogelweide, mit Thomas von Aquin, Martin Luther, mit Novalis, Fichte oder Schiller nie wirklich beschäftigt? Man könnte noch unzählige andere Menschen aufzählen – es geht um das menschliche Streben, um das Aufleuchten des wahrhaft Menschlichen in all seinen vielfältigen Gestalten.

Bewegen uns die tieferen menschlichen Daseinsfragen – oder lassen sie uns kalt, ja, ahnen wir von ihnen gar nichts?

Das Geheimnis des Sozialen

Europa – hier drängte das wahrhaft Menschliche immer wieder zur Erscheinung, hier entfaltete sich – neben vielem Dunklen – auch eine großartige Geistes- und Kulturgeschichte. Dieses wahrhaft Menschliche erschöpft sich aber nicht in dem kulturellen Streben im engeren Sinne. Der Mensch ist auch ein soziales Wesen, seine Sehnsucht und sein Ringen gilt auch dem Gestalten wahrhaft menschlicher Formen des Zusammenlebens.

In der Kunst, der Wissenschaft, der Philosophie und der Religion geht es um die unmittelbare Begegnung des menschlichen Geistes mit dem Wahren, Schönen und Guten. Ein ebenso tiefes Geschehen kann aber auch die Begegnung von Mensch zu Mensch sein – denn auch hier begegnet ein Geist dem anderen. Um die menschliche Begegnung als ebenso tiefes Mysterium erleben zu können, muss diese Tatsache – dass der Mensch ein real geistiges Wesen ist – allerdings wirklich ein inneres Erlebnis werden. Ohne eine solche Vertiefung des Menschen- und Weltbildes wird die Idee Europas jedoch niemals erfasst werden können.

Wenn der Mensch ein geistiges Wesen ist – wenn man mit dem Begriff der Individualität wirklich ernst macht –, dann ist jede Begegnung ein Mysterium – und kann auch mehr und mehr als ein solches erlebt werden. Dann aber beginnt auch die Idee der Menschenwürde erst wirklich, eine Realität zu bekommen. Dann wird man aufhören, diesen Begriff abstrakt in den Mund zu nehmen, und der Begriff Mensch und jede einzelne Begegnung wird anfangen, etwas Großes und immer Größeres zu werden, beginnend bei kleinen Anfängen, aber unaufhörlich wachsend...

Wenn einmal diese Zeit anbrechen wird, dass immer mehr Menschen wirklich ein solches Erlebnis vom Mysterium der menschlichen Begegnung haben werden, dann wird ein ganzes Zeitalter aufhören: Das Zeitalter, in dem man glauben konnte, dass menschliche Arbeitskraft gekauft und bezahlt werden könne; dass der eine Mensch den anderen ausbeuten dürfe; dass die Frage der Menschenwürde mit irgendwelchen, hart an der Armutsgrenze berechneten Hartz-IV-Sätzen abgehandelt wäre ... und vieles andere mehr.

Individuell der nach dem Geistigen strebende Mensch; im Sozialen der das Mysterium des anderen Menschen erlebende Mensch – das ist die Idee Europas!

Aus diesem Erleben wird dann auch ein ganz anderes Wirtschaftsleben hervorgehen, als es heute dominiert. Heute wird die „Idee Europas“ gerade von einem auf Konkurrenz gebauten, „konkurrenzstärksten Wirtschaftsraum der Welt“ gebildet – also von dem Gegenbild eines wahrhaft menschlichen Wirtschaftens. Dieses Menschliche in den Wirtschaftsbeziehungen wird aber etwas sein, was sich immer mehr entwickeln wird, wenn die wirkliche Idee Europas gefasst werden wird. Diese Idee liegt in einem geistigen Menschenbild, im geistigen Streben des Menschen und in dem wahrhaft sozialen Streben zwischen Mensch und Mensch verborgen. Das, was der Mensch in Wahrheit sein kann, das wahre Menschentum ist das Geheimnis der Idee Europas.

Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit

Wenn dieses Geheimnis gesucht und ergriffen wird, dann werden nicht nur das Geistesleben und die unmittelbar zwischenmenschlichen Begegnungen und Verhältnisse, sondern dann wird auch das Wirtschaftsleben wahrhaft menschlich werden.

Dann aber wird man auch das Geheimnis der drei Ideale der Französischen Revolution erfassen, das Rudolf Steiner vor rund einem Jahrhundert enthüllt hat:

Freiheit ist nicht das Ideal des Wirtschaftslebens, denn hier kann sie nur zum „Recht des Stärkeren“ führen, sondern das Ideal des Geisteslebens. Gewissens-, Glaubens-, Meinungs- und Erkenntnisfreiheit im Geistesleben! Dann aber auch volle Freiheit und Selbstbestimmung im Bildungswesen, im Kulturleben, überall – Freiheit von staatlicher Bevormundung!

Gleichheit ist nicht das Ideal des Bildungswesens (staatliche Einheitsschule) oder des Wirtschaftslebens (Normierung der Bananenkrümmung), sondern das Ideal des Rechtslebens, also überall dort, wo wirklich das Recht zwischen Mensch und Mensch berührt ist.

Und Brüderlichkeit ist das wahre Ideal des Wirtschaftslebens – denn was hätte Konkurrenz für einen Sinn, wenn die Verhältnisse zwischen Mensch und Mensch zu einem Mysterium werden, dessen – ja – Heiligkeit mehr und mehr erlebt werden können? Das Leben ist zu kurz und wäre ganz sinnlos, wenn wir uns gegenseitig nur als höhere Tiere oder sonstige, bloß egoistische Wesen wahrnehmen würden, die das Recht haben, jederzeit ihren persönlichen Vorteil zu suchen und sich gegenseitig auszubeuten und so weiter.

Selbstverständlich kann niemand zur Brüderlichkeit gezwungen werden – aber sie ist ... das Ideal aller Vorgänge des Wirtschaftslebens. Und der menschliche Geist ist in der Lage, Einrichtungen und Gestaltungen zu schaffen, die diesem Ideal entgegenkommen, statt es unmöglich zu machen. Dasselbe gilt natürlich auch für die beiden anderen Ideale, die sogar noch sehr viel leichter wahrgemacht werden könnten, wenn man es nur wollte und die Idee wirklich fassen würde.

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – darin liegt die Idee Europas. Der Mensch als ein zur vollen Freiheit im Geistesleben sich entwickelndes Wesen, als ein tief nach Gleichheit in allen Verhältnissen von Mensch zu Mensch sich sehnendes Wesen, und als ein in allem Produzieren und Empfangen von Produkten und Dienstleistungen im tiefsten Inneren sich nach Brüderlichkeit sehnendes Wesen. Diese drei Bereiche des menschlichen und gesellschaftlichen Lebens haben enge Beziehungen zu seinen drei Wesensgliedern Geist, Seele und Leib. Das Streben des menschlichen Geistes offenbart sich im Geistesleben, die Seele steht im Mittelpunkt der Beziehungen von Mensch zu Mensch, und im Wirtschaftlichen geht es im Grunde um nichts anderes als um den Erhalt der Leibesgrundlage des Menschen.

Die Idee des Menschen – die Mission Europas

Werden diese drei Ideale wirklich innerlich erlebt, wird man ihre Beziehung zu den drei gesellschaftlichen Bereichen des Geisteslebens, des Rechtslebens und des Wirtschaftslebens ebenfalls immer stärker erleben können. Dann aber erfasst man die Idee Europas. Denn die Mission Europas ist es, solche gesellschaftlichen Gestaltungen zu schaffen, die es dem Menschen ermöglichen, diese Ideale wahrzumachen und damit sein wahres menschliches Wesen in diesen Gestaltungen auszuleben und zu offenbaren.

Die Idee des Menschen steht im Mittelpunkt der Idee Europas. Wenn man jene immer tiefer erleben kann, dann erfasst man auch diese immer umfassender. Europa hat keine andere und keine geringere Mission als den Menschen. Die Idee des Menschen wahrmachen – das ist die Idee Europas. Europa als gemeinsamer Kulturraum hat die Aufgabe, als weltweiter Vorreiter und Pionier solche gesellschaftlichen Einrichtungen zu schaffen, in denen das wahrhaft Menschliche aufleuchten darf; in denen der Mensch über den Materialismus und die Konkurrenz hinauskommt. Alles, was die Idee des Menschen offenbart, ist mit der Idee Europas verbunden – alles, was die wahre Idee des Menschen verdeckt und ihn auf das bloß Materielle und immer wieder gegeneinander Gerichtete hinabzieht, steht im Widerspruch zur wahren Idee Europas.

Diese Worte mögen manchem Leser zu allgemein erscheinen – aber es kommt auf konkrete Maßnahmen zunächst gar nicht an, und so etwas wie „Rezepte“ kann letztlich gar nicht gegeben werden. Denn worauf es vor allem anderen ankommt, ist das Erleben der hier umschriebenen Idee. Wenn mehr und mehr Menschen dazu fähig sind, diese Idee immer tiefer zu erleben, dann wird dieses Erleben dasjenige sein, was zu einer gemeinsamen Ausgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse führen wird. Ohne diese Idee aber helfen selbst die „schönsten Maßnahmen“ nichts, denn ohne das Leben der Idee bleiben alle solche Maßnahmen doch immer wieder nur abstrakte Vorstellungen und theoretische Rezepte. Es geht aber darum, dass der Mensch im Menschen geboren wird. Dies ist nur möglich, wenn er sein wahres Wesen erfasst.