2012
10.07.2012

Der Blick für den fremden Mitmenschen

Die erste Bedingung jeder Gemeinschaft – auch einer europäischen.


Eine Gemeinschaft kann sich nur bilden, wenn der Einzelne eine tiefe Sehnsucht nach einer solchen Gemeinschaft empfindet und ihr Nichtvorhandensein als schmerzlich erlebt. Ich möchte an einem Beispiel aus dem nächsten Umkreis des Alltags konkret beschreiben, was dies bedeuten würde.

Wer einmal in der Großstadt etwa um 6 Uhr mit der S-Bahn fährt, sieht neben sich und gegenüber von sich zahlreiche Menschen sitzen, die so früh zur Arbeit fahren. Viele von ihnen haben die Augen geschlossen, andere haben müde und ausdruckslose Blicke. Sie alle fahren zur Arbeit, warten, bis sie aussteigen müssen, dann noch etwas laufen, um dann ... ja, was?

Welche Arbeit hat jeder Einzelne dieser Menschen? Macht sie manchen Menschen Freude? Ist sie sinnvoll? Befriedigend? Erfüllend? Dient sie anderen Menschen – oder nur dem Profit anderer? Was für Kollegen haben diese Menschen? Sind sie nett? Kollegial? Gibt es eine gute Zusammenarbeit? Oder fährt dieser Mensch neben mir zu einer Arbeitsstelle mit einer sehr unbefriedigenden, fremdbestimmten Arbeit, in der sein tägliches Tun auch noch von Antipathie, Konkurrenz und Mobbing der Kollegen überschattet wird?

Was bekommt diese Frau dort für ihre Arbeit? Ist sie vielleicht Kassiererin in einem Supermarkt, oder Putzkraft, Leiharbeiterin? Bekommt sie für acht Stunden harte Arbeit vielleicht nur 1.239 Euro ... brutto? Wie lange hält man eine solche Arbeit durch, ohne dass die Gedanken erlahmen, die Gefühle im Herzen ersterben, der Blick leer wird, das tägliche Einerlei zur Routine, zu einem trostlosen Kampf mit Leere, mit Hoffnungslosigkeit? Und was ist mit denen, die jetzt nicht hier zur Arbeit fahren, weil sie nicht einmal eine solche Arbeit haben? Die genauso hoffnungslos zuhause sitzen...?

Wie kann so jemals die Ahnung von der eigenen Würde, der hohen Würde jedes einzelnen, einzigartigen Menschen lebendig bleiben – oder überhaupt erst einmal zum Leben erwachen?

Wie kann es sein, dass in einer Menschengemeinschaft schwere, eintönige, aber notwendige Arbeit so schlecht bezahlt wird, dass diese Menschen immer Sorge haben müssen, ob es bis zum nächsten Monat reicht – und sich nicht die geringste Annehmlichkeit leisten können, während andere Menschen sich über das Geld nie irgendwelche Sorgen machen müssen und alle Annehmlichkeiten des Lebens genießen können? Wie kann es sein, dass andere Menschen vom Arbeitsleben ganz ausgeschlossen sind – und so ebenfalls von jeder wirklichen gesellschaftlichen Teilhabe? Wie kann es sein, dass diese Menschen, die Opfer eines falschen Systems sind, dann auch noch schikaniert werden, in sinnlose, demütigende „Maßnahmen“ gezwungen werden?

Aufwachen für den anderen Menschen

All dies wäre in einer echten Menschengemeinschaft nicht möglich, würde hier niemals geschehen. Man würde unbedingt andere, echte, gemeinsame Lösungen finden – weil man sie finden will.

Wenn sich eine Gemeinschaft bilden soll – welcher Größe auch immer – muss es ein lebendiges, aufrichtiges Interesse an den anderen Menschen geben. Nur wenn der andere Mensch einem nicht egal ist, kann sich eine Gemeinschaft bilden. Das ist aber nur möglich, wenn man sich mit seinen Mitmenschen verbunden fühlt, wenn man sich für den Mitmenschen mit verantwortlich fühlt; wenn man in sich selbst das Gefühl aufruft, dass dieser Mensch dort jederzeit ein Bekannter, ja vielleicht ein Freund, oder mein Bruder, meine Schwester sein könnte.

Die Anonymität und Gleichgültigkeit entsteht zunächst aufgrund der Tatsache, dass wir einander nicht kennen, dass wir täglich ungezählten unbekannten Menschen begegnen. Dennoch können wir, wenn wir dies wollen, jeden Menschen innerlich so anschauen, als könnten wir ihn kennen. Wir können jedes Mal versuchen, uns zu erinnern, wie es sich anfühlt, wenn wir jemanden kennen – und nicht einfach nur kennen, sondern wenn dieser Jemand uns auch etwas bedeutet, wirklich ein guter Bekannter ist.

Wenn wir dies innerlich probieren und nachfühlen, was das innerlich für ein Zustand, für ein Gefühl ist, dann merken wir, wie in uns eine ganz andere Aufmerksamkeit und Zugewandtheit erwacht. Wir streifen den anderen, unbekannten Menschen nicht nur mit einem absolut flüchtigen Blick, der überhaupt nichts erblickt, sondern in unserem aufmerksamen Blick knüpft sich eine Verbindung zum anderen Menschen – der potentiell schon morgen mein Bekannter, vielleicht mein Freund sein könnte.

Dieser Blick, dieses Blicken „als ob“ der Andere bereits jetzt ein Bekannter, ein Freund sein könnte, dieses Nachspüren, wie sich das anfühlt, weckt das Interesse am anderen Menschen. In diesem Nachspüren erleben wir wieder, wie es ist, jedem Menschen gegenüber Interesse zu entwickeln. Wenn wir dies wieder „können“, dann brauchen wir es immer weniger zu „üben“, dann wird dieses Interesse immer mehr etwas, was unmittelbar von uns ausströmt – weil wir es wollen.

Menschen, die dieses Interesse aneinander entwickeln, können wirkliche Gemeinschaften bilden – und werden völlig andere Gestaltungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens finden, in denen es keine erbärmlich (besser gesagt: erbarmunglos) bezahlten Arbeitsplätze und keine Massenarbeitslosigkeit gibt, weil der Mensch den realen Mittelpunkt des Denkens und Handelns bildet.

Das erst wäre wirklich Europa – ein friedliches, echtes Zusammenleben von Menschen in einer echten europäischen Gemeinschaft, die in einer Vielfalt regionaler und nationaler Kulturen lebendig wird.