2012
27.07.2012

Wie wollen wir leben? – Menschlich!

Eine grundlegende Antwort auf eine entscheidende Frage.


Inhalt
Ausgangssituation und erste Klärung der Frage
Annäherung an das Wesen des Moralischen
Die Realität des Moralischen – im Erleben und in der Tat
Die Bildungsfrage als zentrale Frage
Beginnen wir mit der Frage – und mit uns selbst


Ausgangssituation und erste Klärung der Frage

Das unter Co-Leitung von Ernst-Ulrich Weizsäcker seit 2011 arbeitende „Fortschrittsforum“ stellt die Frage: Wie wollen wir leben?

Diese Frage ist eine qualitative. Auf den ersten Blick hat sie einen unverbindlichen „Umfrage-Charakter“. Wenn die Frage bzw. die Antwort nicht folgenlos sein sollen, so kann die Frage implizit eigentlich nur meinen: „Wie wollen wir leben – und wie setzen wir das um?“

Wie wir wissen, hat die Frage durchaus einen drängenden Hintergrund, denn es wird immer offensichtlicher, dass die heutigen Verhältnisse mit ihrer Ressourcenverschwendung und -vernichtung und ihren ungeheuren, immer weiter zunehmenden Chancen-, Einkommens- und anderen Ungerechtigkeiten in immer unmenschlichere, ja katastrophale Lebensbedingungen münden müssen.

Unsere gegenwärtigen Gesellschaftsstrukturen, Modelle und Lebensweisen stoßen an absolute Grenzen – daraus folgt, es kann nicht jeder so leben, wie er will. Geht es also bei der Frage auch um normative Setzungen und Handlungsvorgaben, um die Frage: Wie sollen, wie müssen wir leben? Das „wollen“ in der Frage suggeriert, wir hätten noch eine freie Wahl. Die Freiheit, den Status Quo fortzusetzen, führt jedoch in den Untergang – in Elend, in Verteilungskämpfe, in eine amoralische Welt des Krieges aller gegen alle, auch wenn daran jetzt noch niemand denken mag.

Andererseits liegt in der Frage „Wie wollen wir leben?“ potentiell auch eine moralisierende, pädagogisierende Note: Die Gefragten sollen sich bewusst werden, dass sie eigentlich die moralische Verpflichtung haben, das Überleben der Gemeinschaft als einen wichtigen Wert zu erleben; sich auf ihre menschliche, mitmenschliche Vernunft zu besinnen.

Denn wozu sonst eine solche Frage? Lebt nicht ohnehin jeder so, wie er leben will – und hat auch das vollste Recht dazu? Wozu eine kollektive „Wir-Frage“, wenn es da nicht irgendwelche Hintergedanken gibt?

Oder ist das Gegenteil davon wahr? Dass wir heute eben nicht alle so leben (können), wie wir wollen – und dass die Frage gerade neue Räume für ein wirklich selbstbestimmtes Leben eröffnen und erobern will? Dass sie nicht pädagogisieren will und dennoch wahrhaft bewusstseins-bildend ist? Dass sie nicht moralisieren will, sondern eine wahrhaft real-moralische Frage stellt?

Hier an diesem Punkt entscheidet sich, in welcher Weise wir die Frage verstehen – und in welcher Weise wir auf sie antworten. Antworten wir getrieben von dem Sachzwang schwindender Ressourcen und nahender Katastrophen? Antworten wir gezogen und geführt von einem „moralischen Zielkorridor“? Antworten wir „ergebnisorientiert“ und mit Blick auf unterschiedlichste Gesellschaftsbereiche, z.B. den Energiesektor, die Demokratiefrage, die interkulturelle Frage etc.?

Oder unterstellen wir der Frage wohlwollend, dass sie keinerlei Hintergedanken beinhaltet, das heißt, verstehen wir sie ganz bewusst so, als wäre sie vollkommen rein gestellt: Wie wollen wir leben? Dann ist sie gleichbedeutend mit der Frage: In was für einer Welt möchte ich leben? Beides – meine Lebensweise und die Welt, wie sie sich gestaltet und auf mich zurückwirkt, – ist zutiefst voneinander abhängig.

Angesichts dieser Frage ist immer nur eine zunächst ganz und gar individuelle Antwort möglich. Schon die Frage selbst fordert ja dazu auf, dass „wir alle“ uns irgendwie zu ihr stellen und sie jeweils für uns beantworten. Ich will nun also meine Antwort geben, wie sie sich mir jetzt und heute gestaltet.

Ich möchte in einer Welt leben, in der jeder Mensch die Voraussetzungen für ein menschenwürdiges Leben hat, am gesellschaftlichen und kulturellen Leben teilhaben kann und auch selbst dazu beitragen kann. Und ich selbst möchte dazu beitragen, dass die Welt so ist und die von uns gestalteten Verhältnisse genau diese Voraussetzungen schenken.

Ich möchte in einer Welt leben, die die natürlichen Lebensgrundlagen erhält, und ich bin bereit und möchte ein solches Leben führen, das im Einklang mit diesem Ziel steht. Ich bin bereit, auf alles zu verzichten, was nur auf Kosten anderer Menschen und künftiger Generationen möglich ist.

Im Grunde ist die Frage ziemlich einfach. Wir alle wissen, dass die westliche Lebensweise und das westliche Wirtschaftsmodell genau diese Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit nicht ermöglicht. Individuell kann man zwar eine sehr ressourcen- und naturschonenende und grenzüberschreitend gerechte(re) Lebensweise verwirklichen – aber man tut dies gegen den Strom des westlichen Modells und der Mehrheit der Menschen, die alle „Segnungen“ der modernen Konsum- und Lebenswelt „mitnehmen“ und mitmachen und über die Konsequenzen hinwegsehen und hinwegträumen.

Es stellt sich in letzter Konsequenz eine ganz einfache Doppelfrage: Sind wir bereit, uns das, was wir eigentlich wissen, auch bewusst zu machen? Und zweitens: Sind wir bereit, aus dieser Konfrontation mit der Realität, Konsequenzen zu ziehen, die nicht egoistisch sind, sondern auf das Ganze blicken? Oder anders gesagt: Sind wir bereit, die krassen Ungerechtigkeiten und drohenden Katastrophen wirklich zu sehen – und dazu beizutragen, sie ungeschehen zu machen und für eine ganz andere Welt zu arbeiten und zu leben, die wahrhaft gerecht ist, jedem einzelnen Menschen Wert beimisst und nachhaltig das Leben auf der Erde ermöglicht?

Annäherung an das Wesen des Moralischen

Die Probleme, vor denen wir stehen, müssen zwar auch gesellschaftlich, gesetzgeberisch, technisch usw. angegangen werden, doch die eigentliche Frage ist alledem noch vorgelagert. Die eigentliche Frage – in was für einer Welt will ich leben und was bin ich bereit, dafür zu tun? – ist eine moralische. Und es ist in erster, ursprünglicher Hinsicht keine Frage einer gesellschaftlich orientierten normativen Moral, sondern ausschließlich eine individuell-moralische Frage, die im innersten Seelenkern des Menschen einzeln und autonom aufgeworfen und beantwortet werden muss.

Ich spreche von einem Zustand (einem „Bewusstseinszustand“ bzw. „Seelenstandort“), in dem das Moralische einerseits etwas vollkommen Reales ist, andererseits aber mit sozialen Pflichten noch überhaupt nichts zu tun hat – ja noch nicht einmal etwas mit der konkreten Frage der Umweltzerstörung, der weltweiten Armut etc. Es geht um jenen Zustand, in dem die moralische Frage noch in einem derartigen Ursprungs- und Keimzustand ist, dass sie, noch ganz unentfaltet, nur nach der Moral als solcher fragt. Ohne nach dem konkreten Wie und Was und Wohin zu fragen, taucht vor der Seele und dem Geiste des Menschen nur die eine, noch ganz ungestaltete Frage nach der Moral selbst auf: Will ich ein moralischer Mensch sein? Will ich ein guter Mensch sein? Ein Mensch, der für das Gute eintritt; der dazu beiträgt, dass das Gute getan wird; der selbst das Gute tut?

Es ist das Erleben des Moralischen an sich, der Realität des Moralischen: Der Mensch kann moralisch handeln, in jedem Moment ist er vor die Wahl gestellt; das Moralische existiert – und „wartet“ auf den Menschen, ob dieser sich mit dem Moralischen verbindet ... oder sich dagegen stellt. Es geht nicht um eine einzelne konkrete Handlung, es geht um das Moralische selbst. Wir wissen, ob etwas moralisch ist oder nicht. Wir haben also die Fähigkeit, das Moralische als solches zu erleben, noch bevor von irgendeiner konkreten Handlung die Rede ist.

Äußerlich moralisches Handeln kann man durch Gesetze und gesellschaftliche Einrichtungen vorzugeben versuchen; einen wirklich, innerlich, autonom moralischen Menschen kann nur jeder einzelne Mensch selbst aus sich machen – indem er seiner Seele, seinem Denken, Fühlen und Wollen immer wieder die Richtung des Moralischen gibt. Aus sich heraus, durch das bewusste Streben nach dem Guten.

Ein solcher Mensch kommt von seinem inneren Wesenkern her zu dem Entschluss, seine wesentlichsten Lebens- und Handlungsziele gerade nicht von äußeren Normen bestimmen zu lassen (egal ob sie Geld, Macht, Ruhm oder kategorischer Imperativ, soziale Anerkennung, religiöse Gebote etc. heißen), sondern nur von einem ganz und gar inneren, autonomen Erleben des real existierenden Wesens des Moralischen. Wenn der Mensch einerseits in der Lage ist, diese Sphäre überhaupt zu erleben, und andererseits dann aus bewusstem Entschluss heraus danach strebt, in Übereinstimmung mit dem Wesen dieser so erlebten Sphäre zu denken, zu empfinden und zu handeln, dann handelt er wahrhaft moralisch.

Es ist in der heutigen Zeit schwer, das Gemeinte in Worte zu fassen, denn der herrschende Zeitgeist bzw. die herrschende Geistlosigkeit will von den hier gemeinten Realitäten nichts wissen – weil sie sie nicht mehr kennt, nicht mehr erlebt, nicht mehr anerkennt. Wir leben in einer nominalistischen Zeit des radikalen Subjektivismus, Relativismus und Konstruktivismus. Dem einen ist die ganze Welt aus physikalischen Kausalzusammenhängen aufgebaut, dem anderen ist sie eine radikal vom „Bewusstsein“ konstruierte „Wirklichkeit“. Es ist kaum noch möglich, zu begreifen, dass es beides gibt: Die volle Realität und das volle Subjekt, das aber zu objektiver Wahrnehmung fähig ist, dessen Erleben aber dennoch individuell ist – während dieses Erleben ebenso real ist wie alles andere, an der Wirklichkeit Anteil hat und sie zugleich erhöht. Das menschliche Bewusstsein ist ein Teil des ganzen Weltprozesses – es ist in der Lage, die Wirklichkeit zu erfassen, und zugleich ist dieses Erfassen, Erleben, Erkennen ebenfalls eine Wirklichkeit, so dass die durch den Menschen erkannte Wirklichkeit und der die Wirklichkeit erkennende Mensch unendlich viel mehr sind als die unerkannte Wirklichkeit und der noch nicht erkennende Mensch...

Ein Sonnenuntergang ist unendlich viel mehr als ein Farb-Licht-Phänomen. Ein wirklicher Blick zwischen zwei Menschen ist unendlich viel mehr als ein Netzhaut-Reiz-Reaktions-Ereignis. Liebe zwischen zwei Menschen ist unendlich viel mehr als ein biologisch-psychologisches Phänomen. Dass man schon an einem Sonnenuntergang ein tiefstes seelisches, moralisches, ja religiöses Erleben haben kann, beweist nicht, dass Moral eine Einbildung des Menschen wäre, sondern ganz im Gegenteil, dass sogar den „Naturvorgängen“ unendlich viel mehr zugrunde liegt, als wir mit unserem gewöhnlichen Bewusstsein auch nur ahnen.

Ebenso aber, wie ein Sonnenuntergang ein umfassendes Geschehen ist (das nur unsere abgestumpften Sinne und Empfindungen überhaupt nicht mehr seinem Wesen nach schauen können), so ist auch das Moralische eine umfassende, reale Wirklichkeit, eine reale Sphäre. Wir können diese nicht mit äußeren Augen schauen oder mit äußeren Messinstrumenten erfassen – gerade weil es eine höhere, umfassendere, geistige Wirklichkeit ist. Das äußerlich Messbare ist immer nur der alleräußerste Ausdruck von etwas – wenn es überhaupt auftritt.

Die Realität dieser Sphäre erlebt – wenn auch nicht voll bewusst und erkennend – jeder Mensch, der Mitleid, Liebe, Hass oder Verantwortung empfindet. Dieses Erleben ist absolut unerklärlich, wenn man es nicht als eigene Wirklichkeit anerkennen will, die aus einer Sphäre entstammt, die ihrem Wesen nach moralisch ist, so dass auch alles, was aus ihr hervorgeht, einen moralischen Charakter hat. Selbstverständlich gibt es auch äußere Normsetzungen. Doch Menschen, deren ganze „Moral“ ein Ergebnis solcher äußerer Prägungen ist, sind arme Opfer anerzogener Fremdbestimmung. Diese Art von „Moral“ ist mit der wirklichen, realen Sphäre der Moral überhaupt nicht zu vergleichen – obwohl sie letztlich auch ein „Produkt“ dieser Sphäre ist. Äußere moralische Normen sind oft Abkömmlinge eines echter moralischen Erlebnisses – und seien es bis zur Unkenntlichkeit entstellte „Urururururenkel“ eines solchen. Als tote Formen können sie selbstverständlich für sämtliche Kontroll- und Machtzwecke missbraucht werden.

Die Realität des Moralischen – im Erleben und in der Tat

Man kann zu einem Erleben jener Sphäre kommen, wo die Moral noch nicht zu einzelnen und eben auch toten Normen erstorben ist, sondern wo sie als moralische Realität lebendig ist, noch undifferenziert, aber in jeden nur denkbaren „Aspekt“ differenzierbar. Im Sinne der Situationsethik kann man die Frage stellen: Woher weiß ein Mensch in einer bestimmten, beliebigen Situation, was die gute Tat in diesem Moment wäre? Er weiß es aus keinem anderen Grund als diesem: dass es das Moralische als Realität gibt und dass der Mensch, insofern er ein geistiges Wesen ist, mit dieser Sphäre Verbindung hat. Und es ist dabei nicht so, dass diese Sphäre „fertige moralische Antworten“ für jede denkbare Situation des Lebens hat – sondern das Leben selbst mit seinen unendlich vielen, verschiedenen Situationen stellt durch die jeweilige Situation gleichsam eine moralische Frage – und aus dem Leben selbst heraus ergibt sich auch die wahrhaft moralische Antwort.

Wahrhaft moralisch in der konkreten Tat ist diese Antwort nur, wenn es die Antwort eines individuellen Menschen ist, der aus voller Freiheit heraus das in dieser Situation Gute tut. Nicht, weil er denkt, dass er es muss, sondern ausschließlich weil er es will. Die volle Realität des Moralischen kann sich mit dem Menschen nur dann wahrhaft verbinden, wenn dies aus Freiheit geschieht – in diesem Moment lebt die volle Realität der Moral im Menschen. Die Freiheit selbst ist eine allerhöchste moralische Realität – und so ist sie die absolute Bedingung und sozusagen die Trägerin des Moralischen im Menschen. Erst die wirkliche, reale Freiheit schafft den „Raum“, in den die Moral mit ihrem Wesen und ihren unendlich vielen Gestalten in den Menschen eintreten kann; in der der Mensch sie aufnehmen kann. Eine unfreie (irgendwie von außen, nicht ausschließlich vom Innersten des Menschen selbst bestimmte) Handlung kann niemals eine wahrhaft moralische sein.

Die gute Tat kann also nur verwirklicht werden, wenn der einzelne Mensch in dem konkreten Moment erlebt, was das Gute ist, und wenn er in voller Freiheit dieses Gute auch tut. Dann hat er sich in voller Freiheit mit der Sphäre des Moralischen verbunden, sich mit ihr durchdrungen, sie in sich aufgenommen – und in die irdische Wirklichkeit hineingetragen. Die gute Tat ist dann eine Offenbarung der moralischen Sphäre, so wie der geschriebene Brief eine Offenbarung des Geistes des Schreibers und derjenigen Sphäre ist, in der er beim Schreiben gelebt hat.

All diese Überlegungen und Erkenntnisse sind grundlegend für die ebenfalls moralische Frage, die vor uns steht: Wie wollen wir leben? In welch einer Welt wollen wir leben?

Ich will in einer Welt leben, in der das Wesen des Moralischen von Menschen immer tiefer erkannt wird – indem die Menschen zugleich immer tiefer erkennen, dass sie selbst moralische Wesen sind, das heißt, ein Streben nach dem Moralischen in sich tragen (können) und sich mit der realen Sphäre des Moralischen auch immer tiefer und bewusster verbinden können.

Umgekehrt ist eine reale, wirksame, „erfolgreiche“ Antwort auf die uns heute gestellten Herausforderungen überhaupt nur möglich, wenn dies geschieht: Wenn die Menschen das Wesen des Moralischen erfassen, ohne von Sachzwängen getrieben zu sein, und wenn sie sich mit dem Wesen dieses Moralischen verbinden wollen, weil sie aus sich heraus nach dem Guten streben. Anders ist ein Ausweg aus den Katastrophen, auf die wir uns zubewegen, nicht möglich. Jede bloß äußere Antwort wird letztlich an inneren Widersprüchen zerbrechen und scheitern.

Nochmals: Die Frage „Wie wollen wir leben?“ ist letztlich keine andere als die Frage: „Wollen wir wahrhaft moralische Menschen sein und moralisch handeln, oder wollen wir es nicht?“

Jeder Einzelne, der diese Frage unmoralisch beantwortet – etwa, indem er sagt: „Ich will meinen eigenen Vorteil verfolgen“ –, trägt dazu bei, das Moralische zu bekämpfen und die dem wahrhaft Moralischen widersprechenden Verhältnisse zu verstärken. Äußere Normen und Zwänge allein helfen letztlich nichts, sie können die Katastrophen allenfalls verzögern. Moral kann auch nicht erzwungen werden – es kann sie nur jeder Einzelne für sich entdecken.

Der einzige Weg, der überhaupt bleibt, um den Katastrophen zu entgehen, ist also dieser: Mit aller Kraft Möglichkeiten zu schaffen und zu vergrößern, in denen der Einzelne diese individuelle Erfahrung machen kann: Die autonome, ganz und gar innerliche, reale Entdeckung des Moralischen ... in einem heiligen Ewigkeitsmoment des Erkennens, des wahren Verbundenseins des eigenen seelisch-geistigen Wesenskerns mit dem Wesen und der Realität der moralischen Sphäre.

Mit einem solchen Menschen braucht und kann man über Moral nicht „reden“, denn er kennt ihr Wesen selbst durch und durch, empfindet ganz aus sich heraus ein Streben, sich dieser Sphäre mehr und mehr zu verbinden, und wird sie als seine wahre, geistige Heimat betrachten... Nur solche Menschen aber werden wahrhaft moralisch handeln können, denn nur sie werden in der Lage sein, aus voller Freiheit, voll bewusst und mit starkem unbeirrbarem Willen das Gute zu tun.

Nur, wenn eine genügend große Anzahl von Menschen sich dieses starke Erleben der Realität des Moralischen erringen wird, werden wir als Menschheit hoffen können, den künftigen Katastrophen zu entgehen und die Welt zu verändern, wahrhaft menschlich zu gestalten.

Die Bildungsfrage als zentrale Frage

Die Antwort auf die Frage „Wie wollen wir leben?“ beinhaltet vor allem die Hoffnung, dass es gelingen möge, eine Welt zu gestalten, in der die Sphäre des Moralischen immer mehr Raum in den Herzen und Seelen der Menschen findet, weil die Menschen diese Sphäre immer mehr suchen werden.

Die konkrete Frage, die sich hier stellt, damit diese Hoffnung keine leere, abstrakte Hoffnung bleibt, ist: Wie kann dies geschehen? Was kann ich dazu beitragen? Was können wir tun, damit das Streben nach dem Wesen des Moralischen in den Herzen zum Leben erwacht? Die konkrete Frage ist also nicht etwa: Wie können wir Moral begründen? Sondern: Wie können wir in den Herzen die schlummernde, glimmende Sehnsucht nach dem Guten erwecken und entfachen? Wie können wir uns gegenseitig helfen, das Wunder eines Sonnenuntergangs (oder eines jeden einzelnen Mitmenschen) wirklich zu schauen...?

Und damit erweist sich, dass die Frage nach dem Weg zu jener Welt, in der wir leben wollen (insofern wir sie moralischer und menschlicher als heute ersehnen) im eminentesten Sinne eine Bildungsfrage ist. Bildung im weitesten, tiefsten und höchsten Sinne – das ist es, worauf heute alles ankommt. Bildung des Menschen, auf dass er dasjenige entwickelt, was wirklich in ihm angelegt ist und zur Entwicklung kommen will – wahrhafte Menschlichkeit, und zwar konkret, im Denken, Empfinden und Handeln. Vom Inhalt nicht vorbestimmt und geprägt, durch keinerlei äußere Normen beeinflusst, sondern einzig und allein geprägt durch die Fähigkeit, individuell eine tiefe Verbindung mit der Sphäre des wahrhaft Moralischen zu finden – und diese Verbindung zu erstreben.

Fest steht, dass sich dann auch unser konkretes, gesellschaftliches Bildungswesen von Grund auf ändern muss – denn es ist heute ein selektives, ganz auf Inhalte ausgerichtetes, das noch viel zu äußerliche Vorstellungen von Moral und Normen in sich trägt und den heranwachsenden Menschen aufprägt – explizit und implizit. Eine Erziehung zur Freiheit ist es nicht. Das Gleiche gilt für die Universitäten – spätestens seit dem Bologna-Prozess, der dazu geführt hat, dass das Studium in die Bachelor-Master-Schiene gepresst wird, in der keinerlei Raum mehr für die wirkliche Entwicklung des Menschen bleibt. Auch die letzten Reste eines zumindest dem abstrakten Anspruch nach weitreichenden „humanistischen Bildungsideals“ wurden damit der „Konkurrenzfähigkeit“ und der „Performance der Humanressourcen“ geopfert.

Diejenige Phase also, in der der Mensch langsam und allmählich eine individuelle, freie, tiefe Moral ausbilden und in sich heranwachsen lassen, in sich nähren könnte, wird völlig in Anspruch genommen von einer Überfrachtung mit Lernstoff, Leistungsanspruch und wortwörtlicher Verschulung – bis ins Studium hinein. Die Zeit, in der sich im heranwachsenden Menschen tiefe Ideale entfalten (wollen), wird paralysiert durch eine Überfülle äußerer Ansprüche und äußeren Drucks. Wann denn soll der Mensch überhaupt Ideale ausbilden können, wenn nicht in diesen Jahren der beginnenden Reife und des jungen Erwachsenenalters? Wer aber in dieser Zeit nicht tiefe Ideale ausbilden kann, der wird später auch keine Grundlage haben, um zu einem wirklichen Erleben jener Sphäre zu kommen, in der das Moralische eine Realität ist.

Ich will in einer Welt leben, in der die Quellen des Menschlichen wieder zu strömen beginnen, weil sie wieder erschlossen werden. Möglich ist dies nur, wenn sich so viele Menschen wie möglich konkret darum bemühen – durch eigenes inneres Streben und durch ein Ringen mit der Frage, was gesellschaftlich getan werden kann, um dazu beizutragen. In diesem Zusammenhang wird man immer und immer wieder beim Bildungswesen landen. Man entschule, entschlacke und befreie das Bildungswesen! Man schaffe im Schul- und Hochschulwesen so viele Freiräume wie möglich, damit die Pädagogen die Freiheit bekommen, sich selbst substantielle Fragen über ihren wahren Auftrag und die wahren Ziele menschlicher Entwicklung zu stellen und um Antworten zu ringen.

Wie müssen wir erziehen, damit wir die werdenden Menschen zur Freiheit erziehen? Wie müssen wir erziehen, damit wir die in diesen entscheidenden Jahren erwachen wollenden Ideale und die moralische Sehnsucht nicht verschütten, sondern bekräftigen, ermutigen, unterstützen und begleiten? Wie erziehen wir so, dass wir nicht gegen dasjenige arbeiten, was in jedem einzelnen jungen Menschen zur Entwicklung, zum Leben und zur Blüte kommen will – sondern dass wir dazu beitragen, dass sich das Wunder ereignen kann? Denn jedes einzelne wahrhafte Ideal, jeder einzelne Funke realer Moral in einer einzelnen Menschenseele ist ein Wunder, durch das die wahre Menschlichkeit aufzuleuchten beginnt.

Dies allein kann das Ziel von Erziehung sein: die Begleitung des individuellen Menschen zu sich selbst. Auf dass wir den wahren Weg jedes Einzelnen nicht verschütten, sondern die Hindernisse aus dem Wege räumen...

Wenn dies aber geschieht – dass die Menschen immer mehr zu ihrem wahren Wesen finden dürfen –, dann werden diese Menschen mehr und mehr eine Welt gestalten, in der wir wahrhaft leben wollen, weil sie wahrhaft menschlich ist... Entwickeln wir unsere Menschlichkeit, so werden wir überall versuchen, auch die Welt so zu gestalten, dass sie in Übereinstimmung mit unserer Menschlichkeit steht.

Darum: Beginnen wir im Bildungswesen, die Hindernisse für das wahrhaft Menschliche aus dem Weg zu räumen. Beseitigen wir die Überfülle an äußeren Vorgaben, damit die inneren Impulse und Intuitionen zur Geltung kommen können – bei den tätigen Pädagogen und bei den heranwachsenden jungen Menschen. Besinnen wir uns auf die essentielle Voraussetzung für eine bessere Welt: die Fähigkeit des Menschen, sich mit der Realität des Moralischen zu verbinden – und diese Realität überhaupt erst einmal als solche zu erkennen. Alle äußeren Vorgaben können diesen entscheidenden Schritt zunächst immer nur behindern, erschweren, verunmöglichen, denn sie stehen im Gegensatz zu ihm. Die entscheidende Entwicklung des Menschen kann sich nur in voller Freiheit vollziehen. Zu dieser Freiheit müssen wir erziehen, diese müssen wir fördern wollen – und dabei selbst mit aller Kraft nach der Substanz des Moralischen streben.

Das Bildungswesen ist das Herz und der Lebenspuls einer Gesellschaft. Ein auf Profit und Konkurrenz ausgerichtetes Wirtschaftssystem macht eine Gesellschaft kalt und hart. Doch Macht hat ein solches System nur, wenn das Bildungswesen ihm nichts entgegensetzen kann. Ein Bildungswesen, das wahrhaft zur Freiheit erziehen, den einzelnen Menschen wahrhaft zu seinem eigenen Wesen begleiten würde, würde Menschen in die Gesellschaft entlassen, die diese von innen heraus verwandeln würden – auf dass man in ihr wahrhaft als Mensch leben könnte. Dies aber geschieht heute nicht, und so versagt vor allem das Bildungswesen an seiner eigentlichen, ursprünglichsten Aufgabe.

Beginnen wir mit der Frage – und mit uns selbst

Ich will in einer Welt leben, in der vor allem die Frage nach dem guten, dem rechten, dem gerechten, dem richtigen, dem wahrhaft menschlichen Leben gestellt wird. Lasst und diese Frage fortwährend stellen! Vor allem im Bildungswesen! Vor allem im Hochschulwesen! Lasst uns, sofern wir Pädagogen sind, fortwährend fragen: Wie wollen wir erziehen? Was soll unser höchstes pädagogisches Ziel, unser tiefstes pädagogisches Ethos sein? Und in den Hochschulen: Lasst uns in echtem Erkenntnisringen fragen: In welcher Welt wollen wir leben? Was können wir tun, um einer solchen Welt näherkommen? Nicht abstrakt-theoretisch, sondern in voller Verantwortung und mit größtem Ernst.

Lasst uns die Frage ganz und gar ernst nehmen! In welcher Welt wollen wir leben? Es ist dies keine Feuilletonfrage, es ist dies keine Frage einer dreimonatigen Kolumne – es ist dies eine Lebensfrage und eine Überlebensfrage! Bewegen wir sie unser ganzes Leben lang – und streben wir mit aller uns zur Verfügung stehenden inneren und dann auch äußeren Kraft nach Antworten!

Wir kommen wir zu echter, tiefer Menschlichkeit? Zuerst wir selbst, ganz konkret? Denn wenn wir selbst zu tiefer Menschlichkeit kommen, weil wir mit aller Kraft danach streben, immer menschlicher zu werden, dann wird dies ausstrahlen. Wahre Menschlichkeit wird notwendigerweise in den Herzen der Mitmenschen auf Resonanz, auf eine verwandte Sehnsucht treffen – und letztlich kann nur so die Welt besser werden. Letztlich ist es unmöglich, durch rein äußere Maßnahmen und Einrichtungen die Welt besser zu machen – es geht nur über die innere Verwandlung jedes Einzelnen. Beginnen wir selbst! Machen wir den Anfang! Vertrauen wir darauf, dass andere uns nachfolgen werden, wenn nur wir selbst es ernst genug meinen, es vollkommen ernst meinen und mit allem, was wir haben und sind, nach einem immer menschlicheren Sein streben...