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Die zarte Eros

Holger Niederhausen: Die zarte Eros. Die Maskenpflicht und das Mädchen. Roman. Books on Demand, 2022. Paperback, 344 Seiten, 13,90 Euro. ISBN 978-3-7562-0619-3.

► Wichtiger Hinweis: Wer meinen würde, ich schriebe nur 'Mädchen-Bücher', der irrte essenziell - diese Mädchen sind Botinnen des immer verschütteteren Wesens der menschlichen Seele überhaupt.

Erschienen am 4. Mai 2022.              > Bestellen: Books on Demand | Amazon <              > Reaktionen und Rezensionen <

Inhalt


Als der tief idealistische und wahrhaftige Clemens der knapp zwölfjährigen Tochter seines Freundes, die unter dem Corona-Onlineunterricht grenzenlos gelitten hat, Nachhilfe gibt, verliebt er sich in das unendlich unschuldige Mädchen und verfällt der Anziehung eines zartesten Eros. Sofort ist er naheliegenden Schubladen-Urteilen ausgesetzt – doch Laila hält unbeirrbar an ihm fest. Ein erschütternder Roman über die tiefe Gefährdung der Zärtlichkeit.

Über dieses Buch


Dieser Roman erscheint anlässlich des 250. Geburtstages von Novalis, des wohl größten Dichters der Romantik – und jenes großen Geistes, der den magischen Idealismus vertrat.

In einer Welt, die geradezu jeglichen Idealismus über Bord geworfen hat – und sich stattdessen für Pragmatismus, Geopolitik, Kapitalismus und Digitalisierung entschieden hat –, wird es nur noch wenige Seelen geben, die begreifen, was Novalis eröffnet hatte. Letztlich geht es um die Erkenntnis, dass jedes Belächeln von Idealismus ein ungeheurer Verrat ist, ein tiefster Missbrauch ... an der eigenen Seele und der Wirklichkeit insgesamt. Denn sie wird nicht mehr gesehen. Novalis zeigt auf, dass nicht der Idealismus die Welt verzaubert, sondern sein Gegenteil – und die ,Operation’ des magischen Idealismus erlöst die Welt gerade, da wieder ihre Wirklichkeit in Erscheinung tritt.

In der Begegnung mit dem größten der Romantiker kehren sich die Dinge gerade um – und das ganze hässliche Gesicht der Schein-Wirklichkeit, in der wir uns zu leben gewöhnt haben, tritt zutage. Die Anthroposophie Rudolf Steiners schließlich hat diese umfassenden Fragen für das heutige Bewusstsein wieder verstehbar und erlebbar gemacht und in größte Zusammenhänge gestellt.

Der Protagonist des Romans ist ein Mann, der sich durch ein jahreslanges Leben mit dieser Spiritualität zugleich zu einer tiefen Wahrhaftigkeit erzogen hat.

Er ist in einem winzigen Bio-Versandhandel tätig, den eine verschworene Gemeinschaft von nur vier Menschen am Laufen hält. Die ,Corona-Krise’ macht jedoch auch hier nicht Halt, und als die einzige Frau ihres Kreises, Kerstin, Angst vor der Krankheit entwickelt und auch am Arbeitsplatz Masken möchte, droht dem bisher untrennbaren Team eine existenzielle Krise – die nur Clemens durch eine ergreifende Ansprache, die in allen Beteiligten tiefe gegenseitige Verständniskräfte aufruft, zunächst zu einem guten Ausgang führen kann.

Nach langen Monaten des ,Lockdowns’ meldet sich auch sein Freund wieder, und es stellt sich heraus, dass er dessen Tochter Laila, mit der er sich in früheren Jahren einzigartig gut verstanden hatte, Nachhilfe geben soll. Das inzwischen fast zwölfjährige, empfindsame Mädchen ist durch den ,Online-Unterricht’ hoffnungslos unter die Räder gekommen – und hatte bereits davor schon große Lücken in Mathematik und anderen Fächern.

Clemens vermag es, Laila wieder Vertrauen zu schenken, ihre Hingabekräfte für die Zahlen zum Aufblühen zu bringen – und in einer ebenso dankbaren, glühenden Hingabe an ihn, ihren Lehrer, beginnt das Mädchen mit Feuereifer, das Verlorene aufzuholen. Erschüttert von der Unschuld und Tiefe des Mädchens fühlt auch Clemens sich fortwährend beschenkt.

Schließlich gesteht Laila ihm, dass sie das Kuscheln mit ihrem Vater vermisst, der damit vor einiger Zeit aufgehört habe – und Clemens schenkt ihr auch diese Erfahrung wieder neu. Gerade in dieser intimen Vertrautheit kann das Mädchen dann auch tiefe Fragen aussprechen, über die es sonst mit niemandem reden kann und mit denen es bisher völlig allein war. Nur eine unter vielen ist die Frage nach ,den Tagen’ und den Worten der Mutter, sie werde jetzt ,langsam zur Frau’. Dieser seelenlosen Aufklärung und der leidvollen Frage des Mädchens, was es denn jetzt sei, kann Clemens Antworten entgegensetzen, die Laila tief erfüllen und glücklich machen.

Dann aber muss er sie einmal vom Ballett abholen, und der kurze Eindruck, den er hier hat, schlägt in seine empfindsame Seele so sehr ein, dass er sich von dem zarten Eros der Mädchenanmut geradezu zu Asche verbrannt fühlt. Er kann diesen Eindruck nicht mehr vergessen, und verfällt gleichsam der ganzen berührenden Anziehung seiner unschuldigen Schülerin...

Als er Kerstin gegenüber nur aufgrund einer Frage ihrerseits diesen berührenden Eindruck erwähnt, ist sie sofort bestürzt über seine ihrer Ansicht nach ,pädophilen’ Empfindungen. Er versucht, zu erklären, dass es keineswegs ein Begehren ist, sondern ein an dessen Grenze befindlicher, noch ganz reiner Eros, im Grunde nur die Anziehung selbst. Seine Kollegin will davon jedoch nichts wissen und schlägt mit groben Deutungen immer wieder in dieselbe Kerbe, bis er tief verletzt von diesen Unterstellungen nach Hause geht. Am nächsten Tag bittet sie ihn um Verzeihung, weil sie begriffen hat, wie sehr sie das Mädchen nur als Objekt behandelt hatte.

Bald darauf fordern auch Lailas Eltern bei einem gemeinsamen Abendessen eine Stellungnahme zu dem ,Kuscheln’, das das Mädchen auf Nachfrage hin erwähnen musste. Clemens kann ihnen eindrücklich erlebbar machen, wie sehr sie die Bedürfnisse ihrer eigenen Tochter missachten, wenn sie sie auf dem Altar des inzwischen herrschenden Dogmas opfern, Zärtlichkeit habe nur bis zu einem bestimmten, sehr frühen Alter ihre Berechtigung – und sobald auch nur irgendeine Anziehung beginne (was gar nicht ausbleiben könne), müsse damit ,Schluss’ sein. Laila ist zutiefst erleichtert, dass sie weiter zu ihm kommen darf.

Als sie ihn aber dennoch fragt, ,wie’ sie ihn anziehe, kann er ihr nur hilflos und in voller Aufrichtigkeit die ganze Art seiner Liebe beschreiben ... und ihr zugleich umfassend begreiflich machen, dass sie angesichts dessen nicht die geringste Verpflichtung fühlen dürfe. Das unschuldige Mädchen liebt ihn nun aber nicht weniger, und ihr vertrauensvolles Kuscheln verliert nichts von seiner Zartheit. Zu ihrem Geburtstag wünscht Laila sich dann sogar eine noch grenzenlosere Erfahrung von Zärtlichkeit...

                                                                                                                             *

Dieser Roman wirft in einer erschütternden Dichte eine der größten Fragen unserer Zeit auf. Es ist die dreifache Frage: Wie sehr muss sich Zärtlichkeit heute bereits rechtfertigen? Wie sehr steht sie im gesellschaftlichen Urteil bereits am Rand eines Verbrechens? Und wie sehr ist ein Mädchen von der Bildung dieses Urteils bereits ausgeschlossen?

Diese Fragen sind umfassend. Es ist unfassbar, in welchem Ausmaß es bereits akzeptiert ist, dass Zärtlichkeit angeblich nur ein Bedürfnis kleiner Kinder sei – denn gerade dieses Dogma verschleiert den Blick darauf, wie brutal unsere heutige Welt fast jeglicher Zärtlichkeit entleert wurde. Ohne diese Verschleierung (und das heißt: mit einem Blick von Novalis) würde man zutiefst erkennen, wie sehr der Kapitalismus in all seinen Erscheinungen reinster Missbrauch ist.

Der Missbrauchsdiskurs wiederum hat nicht nur zu einer dringend notwendigen Bewusstmachung geführt, sondern auch zu einer unglaublich weitreichenden Angst, ja Verurteilung von Zärtlichkeit, sobald sie auch nur existiert. Die Konstellation ,Mann und Mädchen’ steht nicht etwa nur unter Generalverdacht (was pervers genug wäre), sie steht unter General-Verurteilung. Im öffentlichen Urteil ist damit Zärtlichkeit in dieser Konstellation tatsächlich zu einem Verbrechen geworden.

Und das am meisten Erschütternde ist, dass dasjenige Wesen, um das es geht – nämlich das Mädchen –, von allem völlig ausgeschlossen worden ist. Es wird zutiefst missbraucht, indem man es zu einem bloßen Objekt macht – und in seiner heuchlerischen ,Sorge um die Mädchen’ gar nicht mehr merkt, dass man sich längst absolut blind für den Einzelfall gemacht hat. Es ist soweit gekommen, dass die Vorurteils-Schubladen bereits zuschnappen, bevor man auch nur einmal das Mädchen selbst angehört hat – für dessen Aussage man sich überhaupt nicht interessiert (damit aber auch für das gesamte Mädchen nicht, das einfach nur Statistik wird, bloßes Objekt der eigenen Selbstgerechtigkeit und Verurteilungssucht).

Möglich ist dies nur durch das Dogma, ein zwölfjähriges Mädchen könne noch nichts wirklich beurteilen, es könne zwischen aufrichtiger und unaufrichtiger Zärtlichkeit nicht unterscheiden – und die Konsequenz ist: es dürfe Zärtlichkeit daher gar nicht wollen. Und selbst wenn es sie wolle, dürfe es nicht mitreden. Damit wird rein über das Mädchen hinweg entschieden – was in seinen Mechanismen derselbe Missbrauch ist wie der der Missbraucher. Ein Mädchen, das nicht entscheiden darf, welche Zärtlichkeit es bekommen möchte und von wem, wird missbraucht.

Es ist an der Zeit, den brutalen Dogmen, die dies möglich machen, ins Auge zu sehen – und es ist an der Zeit, zu begreifen, wie tief eine Liebe zwischen Mann und Mädchen sein kann, selbst wenn sie von jeweils anderer Art ist. Ja, wie geradezu lebensrettend für das Mädchen.

Und im 250. Geburtsjahr von Novalis muss auch wieder davon gesprochen werden, dass Mädchen zunächst einmal eines sind: die berührendsten Wesen auf dieser Erde – und vielleicht die Wesen, die diese Erde eines Tages retten werden ... falls die Menschheit lernt, sich von ihnen wieder berühren zu lassen. Bis dahin jedoch werden Jahr für Jahr Millionen von Mädchen Opfer werden – Opfer eines seelenlosen Schulsystems und eines noch seelenloseren Kapitalismus (die beide nicht zuletzt auch seelenlose Männer hervorbringen, die einem Mädchen ebenfalls etwas antun können).

Wann werden wir den wirklichen Missbrauch erkennen – und den Wahnsinn, stattdessen die Zärtlichkeit verbieten zu wollen?

Leseprobe 1


Und Laila, so unbeholfen und unsicher sie war, folgte ihm vertrauensvoll und setzte zart Schritt für Schritt, wie er sie für sie vorbereitet hatte ... und gewann Vertrauen, in die Zahlen, in die Brüche, in die Wege, zu rechnen, und zart begannen ihre knospenhaften Fähigkeiten aufzublühen, zaghaft und vorsichtig...

Und dann kuschelten sie wieder. Es waren jene Viertelstunden, die sich auch zu Dreiviertelstunden aneinanderreihen konnten, die sie heimlich am meisten ersehnte. Und natürlich waren ihre Heimlichkeiten für ihn ein offenes Buch – er sah ja, wie sehr dies immer der Höhepunkt ihrer Besuche war ... dieses Sich-hingeben-Können, die Geborgenheit, dieses Mysterium des Zärtlichen an sich...

Als sie sich diesmal wieder in seine Arme gekuschelt hatte, in einer Vertrautheit, die bereits einer süßen Selbstverständlichkeit ähnelte, war er von dieser so erschüttert, dass er innerlich für einige Momente fast nicht atmen konnte. Es war buchstäblich so: Die Fülle, die grenzenlose Fülle an Vertrauen, die ein Mädchen haben konnte, konnte einem wirklich den Atem nehmen, konnte atemberaubend sein. Aber was waren all diese Worte, diese realen Phänomene? Sie waren doch wiederum nur reale Offenbarungen, wie sehr der gesamten übrigen Menschheit etwas fehlte! Was allein konnte einem denn den Atem rauben? Etwas, was überwältigte. Aber warum überwältigte dies? Weil es geradezu utopisch schien. Das aber war bereits der Sündenfall der modernen Menschheit. Sie hatte das Ziel, die Erfüllung, ihre eigene tiefste Sehnsucht, in die Utopie getrieben...

Ein Mädchen war atemberaubend, weil es die Utopie in die volle Gegenwart trug, jetzt und hier, vor aller Augen, ein offenbares Geheimnis. Es raubte einem den Atem, weil es einem zeigte, wie man atmen sollte. Man hatte diesen Atem gar nicht – und deswegen konnte man auf einmal nicht mehr atmen. Das Mädchen selbst sagte einem gleichsam: ,Wann lernst du, Vertrauen zu atmen? Wann lernst du, aus Vertrauen zu bestehen? Wann lernst du, in deinen Adern reinstes Vertrauen fließen zu lassen...? Wann lernst du, ein Mädchen zu werden...?’

Utopie... Menschheitszukunft... In einem Mädchen war sie lebendige Gegenwart... Lebendige Mahnung... Zarte, zarteste Mahnung... In zarter Tragik vergebliche Mahnung, denn die meisten Menschen würden es nicht einmal sehen. Und selbst wenn sie es sähen, nicht verstehen, was sie sehen...

„Was denkst du, Clemens...?“

Er wurde durch ihre Worte aus seinen Gedanken gerissen. Unwillkürlich strich er ihr einmal über den Kopf.

„Nichts...“, erwiderte er zärtlich. „Ich habe nur ein bisschen meine Gedanken schweifen lassen...“

Er konnte ihr all diese Dinge nicht sagen. Sie wäre damit einfach überfordert. Es würde ihr auch alle Unbefangenheit nehmen.

„Und wohin hast du sie schweifen lassen?“

Die zarte Beharrlichkeit einer unschuldigen Seele...

„In die Menschheitszukunft, Laila...“ – solange er es allgemein hielt, konnte er mit ihr davon sprechen – „Ich habe über die Zukunft nachgedacht...“

„Und was hast du gedacht?“, fragte sie ehrfürchtig, vorsichtig, und wieder erkannte er, wie sehr sie all diese Dinge bereits mitempfinden konnte – weil auch sie darüber nachdachte, bereits empfand, was auf der Welt geschah, was nicht geschah und was geschehen sollte.

„Dass einst ... alle Menschen einander mit tiefstem Vertrauen begegnen sollten ... nein ... werden... Und dass dann das Vertrauen sozusagen wirklich das Lebensblut sein wird, was in den Herzen der Menschen fließen wird. Dann, wenn alle Menschen einander als Brüder und Schwestern empfinden werden...“

Laila schwieg. Eine leise Angst beschlich ihn, dass er sie vielleicht doch etwas überfordert hätte.

Schließlich sagte sie leise:

„Das ist so schön – – –“

...

Leseprobe 2


Wenn die Seele wieder alles würde heiligen können, adeln, in den Geheimnisstand erheben – so würde sie zugleich damit wieder ihr eigenes wahres Wesen wiederfinden. Wieder kehrte er zu den vier Zeilen zurück. Dem Gemeinen einen hohen Sinn... Dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn...

Und wieder fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Bei dem Mädchen war dies alles bereits gegeben! Der volle Eindruck der wenigen Sekunden jener Ballettstunde, die ihn wie ein Mysterium heimgesucht hatte, stand ihm wieder vor dem Bewusstsein... Ein Mädchen war bereits das Gegenteil von allem Gemeinen, trug in sich den höchsten Sinn – die Unschuld selbst; es war geheimnisvoll und heilig. Es war das schlechthin Unbekannte... Und es trug den unendlichen Schein geradezu wie einen persönlichen Besitz an sich, ja dehnte ihn über alles aus, was es berührte, wie die Märchenfee.

Ein Mädchen war das Unendliche schlechthin. Und es war kein Widerspruch dazu, dass die Mädchenzeit nur acht Jahre dauern mochte – oder neun, oder zehn. Gerade dies war die in die Endlichkeit hineinragende Unendlichkeit. Das Mädchen war wirklich das Gestalt gewordene Mysterium. Geheimnis, hoher Sinn, das Unbekannte, der unendliche Schein, die Botin der Ewigkeit... Der ewigen Verheißung des Menschen – seines heiligen Zieles...

[...]

Laila aber berührte in allem. Wie konnte es auch anders sein, wenn sie in sich trug, was die Zukunft des Menschen war? So rein... So unschuldig...

Wieder stand ihm die Ballettstunde vor Augen. Großer Gott – diese schutzlose Schönheit! Eros, der die Menschen retten wollte, aber die Menschheit ließ es gar nicht zu. Sie ließ es nicht zu, gerettet zu werden, sie wollte es nicht! Sie machte die Mädchen zu Objekten – und sei es zu ,Schutzobjekten’ – und beachtete sie im Weiteren gar nicht.

Warum ließ man sich nicht wenigstens verführen? Unendlich zart, wie sie waren, diese Mädchen? Warum ließ man sich nicht betören? Schwindlig machen von ihrer ätherischen Ausstrahlung? Und wurde dadurch ein besserer Mensch? Warum tat man das nicht? Weil man es nicht wagte! Man wagte es nicht, ihrer Verführung zu erliegen – und sich von ihrer Schönheit zu Asche verbrennen zu lassen und als neuer Mensch aufzuerstehen! Man wollte es nicht! Man leugnete die läuternde Kraft dieser Schönheit – und nahm sich so das Recht heraus, sie gar nicht erst zu sehen.

Man war wie Petrus, der Christus dreimal verleugnet hatte. Oder sogar wie die Pharisäer, die Christus nicht einmal erkannt hatten. Man verleugnete das Mädchen und schlug es an das Kreuz seines eigenen, erwachsenen ,Narrativs’: ,Das Mädchen ist ein Missbrauchsopfer sonst nichts.’ ,Wenn du das Mädchen begehrst, bist du ein Perverser, sonst nichts.’

Dass man möglicherweise seine eigene Menschheitszukunft begehrte, eine grenzenlose Schönheit, die einmal das Wesen jeder Seele sein sollte, das war diesen anderen Seelen nicht einmal denkbar. Sie vegetierten im Urteilen und Verurteilen dahin und versäumten darüber die ,idealische Operation’, von der Novalis sprach. Jedes Begehren eines Mädchens war idealischer als das dumpfe Dahinleben von Materialisten. Denn im Mädchen begehrte man, ob man es wusste oder nicht, das Unendliche – und damit seine eigene Heimat. Denn jeder Mensch war ein unendliches Wesen, und im Mädchen trat es einem sichtbarlich vor Augen, ob man es begriff oder nicht, aber es entzündete die Sehnsucht.

...