Das Märchen vom Osterhasen

aus: Adelheid Petersen: Christus-Märchen. Rose Verlag, 1963.


In einer wunderbaren Sonntagsfrühe um Frühlingsanbruch bin ich auf einer Wiese hoch oben am Berg dem Osterhasen be­gegnet; und ihr sollt seine Geschichte hören, wie er sie mir er­zählt hat.

Der Osterhas, das ist ja kein gewöhnliches Häslein, wie sie im Wald und auf den Feldern herumhüpfen!
Er ist ein Hasengeistchen, wie es Blumengeistchen, Moos- und Quellgeistchen und viele andere gibt.
Heute glauben die Menschen nicht mehr an diese Geisterwelt, weil sie sie nicht sehen. Und sie sehen sie nicht, weil sie so ganz in Anspruch genommen sind von ihrem Leben, wie es durch all die Maschinen geworden ist, die sie er­funden haben: Eisenbahnen und Autos und alle die Kriegsma­schinen und Flugzeuge und alle Maschinen, die in den Fabriken sind, alle Maschinen, die nun auch der Bauer hat - alle diese Dinge bis zu den Nähmaschinen und Schreibmaschinen!
Darüber haben die Menschen den Blick für die Geisterchen verloren. Aber das wird auch wieder anders werden. Die Menschen werden dann zu ihrer Maschinenwelt dazu die Welt all der Geister sehen können. Schon jetzt gibt es Menschen, die das können. 

Der Osterhase ist größer als die gewöhnlichen Erdenhäslein und ist wie aus lauter Licht und Glanz zusammengewoben. Sein Fellchen leuchtet, wie Sommerwölkchen leuchten können, wenn die Sonne sie beglänzt, und es ist ein goldener Schein um ihn her wie von Sonnenstrahlen.
Er saß aufrecht und schaute gerade hinauf in die Sonne hinein, die über dem Berg gegenüber herauf­kam, und war gar nicht geblendet von ihrem Glanz. Die vorde­ren Pfötchen hatte er zusammengelegt, als ob er betete.
Dann aber sah er mich, nickte mir zu und sagte:
„Grüß dich Gott! Es kommt mir vor, als wolltest du etwas von mir?“
„Da hast du recht gesehen, lieber Osterhas“, antwortete ich. „Und zwar wollte ich dich bitten, daß du mir etwas erzählst.“
„Das kann wohl geschehen“, meinte er, „und was möchtest du denn von mir hören?“
„Ach, lieber Osterhas“, antwortete ich, „erzähle mir doch, wie es gekommen ist, daß du der O s t e r h a s wurdest; daß d u zum Osterfest gehörst, wo wir die Auferstehung von Jesus Christus nach seinem Tod am Kreuz feiern, und wo alles nach dem Winter zur Frühlingsfreude auf­ersteht.“
Da wurde er sehr nachdenklich und besann sich eine ganze Weile.
Dann sagte er: „Ich kann dir das schon erklären. Aber es ist eine ernste und lange Geschichte. Willst du sie trotzdem hören?“
„Aber gewiß, lieber Osterhas“, sagte ich. „Bitte er­zähle.“
Er schwieg und schaute in die Sonne hinauf, die immer höher und leuchtender am Himmel heraufstieg.
Dann sagte er: 

„Ja, wo soll ich da nun anfangen! Davon hast du ja an Weihnachten schon erzählt, daß die Welt von allen Engeln Gottes nach seiner Anweisung erschaffen worden ist, damit der Mensch als Ge­schöpf Gottes darin gut und glücklich sein sollte, und daß der Teufel sich in diese Welt hereinschlich, um sie den Engeln Got­tes zu entreißen.
Der Teufel war auch einmal ein Engel Gottes gewesen und sogar einer von denen, die an seinem Thron stehen und sein Wort vernehmen. Aber er wurde dadurch stolz und hochmütig und eigenwillig. Er hielt sich für mehr als die anderen Engel. Er wollte nicht mehr mit ihnen im Himmel dem Willen Gott­vaters dienen, sondern er wollte ein eigenes Reich haben, wo alles nach seinem Willen und nach seiner Macht gehen sollte.
Wie er nun solche Gedanken in seinem Herzen hatte und seine Engelbrüder verachtete und Gottvater nicht mehr liebte, begannen seine herrlichen großen Flügel, die voller Sterne leuchteten, zu schrumpfen und dunkel zu werden. Sie trugen ihn nicht mehr und er fiel herunter aus dem Himmel in kalte Finsternis und hatte gar nichts mehr.
Das geschah lang, ehe Gottvater die Erde und den Menschen durch seine Engel erschaffen ließ. 

Als aber nun die Erde und der Mensch erschaffen waren, wurde der Teu­fel gierig darnach und dachte, er wolle den Menschen für sich gewinnen und dann die Erde mit dem Menschen zu seinem Reich machen.
So schlich er sich heran und fing an, alles, was er in sei­nem Herzen hatte, den Menschen einzuflüstern, um sie abspen­stig zu machen Gott gegenüber.
Und es gelang ihm! Die Men­schen wurden wie er: hochmütig und stolz, ungut, lieblos, zänke­risch, lügnerisch und kümmerten sich nicht mehr um den Him­mel, in den sie bis dahin immer hatten hineinsehen können.
Das hast du ja auch schon erzählt, daß darüber im Himmel große Trauer war; daß der Weltenmantel Gottes sich verdunkelte und alle Engel bangten und klagten, daß aber dann aus dem Herzen Gottvaters der herrlichste, mächtigste aller Engel hervortrat, den Gottvater lächelnd seinen lieben Sohn nannte.
Und du hast auch schon erzählt, daß der Sohn sagte, er werde auf die Erde hinuntergehen, um die Erde und die Menschen vor dem Teufel zu beschützen.
Dann bat er die Engel, alle ihre Geister hinunterzuschicken auf die Erde, damit sie nicht ganz öde und finster werde. Denn ehe der Teufel sich an die Menschen herangemacht hatte, war die Erde noch durch und durch leuchtend und war eigentlich noch gar nicht vom Himmel getrennt und die Men­schen lebten noch zusammen mit den Engeln und ihren Geistern.
Aber dann wurde durch das Böse in dem Menschen die Erde dunkel, und der Himmel wurde vor den Menschen verschlos­sen.
Allmählich hätte alles Schöne auf der Erde - die Blumen und Bäume, die Schmetterlinge und Vögel, die guten Tiere - alles hätte allmählich zugrunde gehen müssen, weil ja alle Gei­ster im Himmel geblieben waren.
Aber nun zogen sie - die Blu­mengeister, die Tiergeister, die Kristall- und Edelsteingeister, die Feuer-, Luft-, Wasser- und Erdgeister - alle hinunter zur Erde, damit sie immer schön, blühend und fruchtbar sei. Sogar eine Anzahl Engel zog mit, um all die vielen Geister und Geister­chen zu hüten, für sie zu sorgen, und sie abwechselnd immer wieder für eine Zeit in den Himmel hinaufzuschicken, damit sie ihre Kraft nicht verlieren würden. 

Anfangs, als die Menschen den Himmel noch nicht so völlig vergessen hatten, wie es heute der Fall ist, konnten sie diese Engel noch über die Erde wandeln sehen.
Sie nannten sie Götter und Göttinnen, bauten ihnen Tem­pel und verehrten sie.
Und einer der schönsten von diesen En­geln ist der Frühlingsengel, der über die Erde zieht, wenn der Winter vorbei ist. Es ist fast nicht zu beschreiben, wie wunder­schön dieser Engel ist!
Wen er anschaut, der wird von innerster Freude ganz erfüllt. Sein Gewand ist aus Frühlingsblumen ge­woben - aus Veilchen, Anemonen, Schneeglöckchen, Leber­blümchen, Himmelsschlüsseln. Alle Geister der Baumblüte um­schweben und umkränzen ihn: die zartrosa Pfirsichblüten, die schneeweißen Kirschblüten, die rötlich angehauchten Apfelblü­ten und was sonst alles im Frühling zu blühen und zu leuchten anhebt. Die goldenen Bienlein ringen eine Krone um sein Haupt. Die silbernen Quellgeisterchen springen vor ihm her. Die Vögel begleiten ihn jubilierend, und alle jungen Tierlein drängen sich zu ihm; die kleinen Lämmer, die Kälbchen, die Rehlein, und dicht neben ihm, wo seine Füße schreiten, ist mein Platz, den ich nur verlasse, wenn er mich ausschickt, Botschaft von seinem Kommen zu tragen, weil ich am schnellsten über Berg und Tal hineilen kann. Aber immer kehre ich schnell zu ihm zurück, weil ich diesen Engel über alles lieb gehabt habe von Anfang an.
Und wohin unser Zug kommt, da fängt es an zu grünen und zu blühen! 

In den Zeiten, wo die Menschen den Engel und seine Geister noch sehen konnten, bereiteten sie ihm Feste, wenn er kam. Sie knieten nieder vor ihm und nannten ihn bei seinem Namen: O s t a r a . Und mich, weil sie mich immer bei ihm sahen, nannten sie Ostaras Hasen!“
Er machte eine lange Pause und sah vor sich hin, so lang, daß ich dachte, er hätte mich ganz vergessen.
Schließlich sagte ich leise: „Und wie geht es nun weiter, lieber Osterhas?“
„Richtig“, sagte er, ich muß ja noch weitererzählen! Wenn dir die Geschichte nur nicht zu lang wird!“
„Aber ganz gewiß nicht“, antwortete ich, laß mich nur hören.“ 

„Was ich dir bis jetzt erzählt habe“, fing er nun wieder an, „das war in den ganz alten Zeiten, lange bevor Gottes Sohn als Christkind auf die Erde herunterkam.
Und allmählich bekam nun der Teufel immer mehr Macht über die Herzen der Menschen, wie ich es ja schon gesagt habe. Wenn sie nun den Boden ackerten und säten, pflanzten und ernteten, wenn sie die Tiere züchteten, wenn sie die Dinge herstellten, die zum Leben nötig waren, taten sie das nicht mehr mit frommen Gedanken, sondern habsüchtig und gierig nach gutem Leben und nach Gewinn, nach Reichtum und nach Macht, die aus dem Reich­tum kommt. Sie gruben Gold und Silber aus dem Innern der Erde, machten es zu Geld und betrogen, beraubten, ja ermor­deten einander um des Geldes und Gutes willen.
Durch diese schlechten Gedanken und Taten der Menschen aber bekam der Teufel Macht auch über die Kräfte der Erde und konnte sie nach und nach verderben, trotzdem die Engel und ihre guten Geistchen da waren.
In den frühen Zeiten war die Erde viel strahlender und schöner als wie sie dann später wurde. Alle Früchte waren größer und süßer. Das Korn trug Ähren den ganzen Halm entlang und alles blühte, wuchs, fruchtete viel rei­cher. Aber das nahm immer mehr ab.
Der Teufel konnte manche Pflanzen vergiften, viele Tiere wurden wild und reißend, und die Erde wurde immer härter und kälter und finsterer in ihren Tiefen, so daß sich der Teufel freute und seines Sieges schon ganz gewiß war. 

Gottes Sohn aber war immer noch nicht zur Erde herabge­kommen, um sie zu erretten, wie er verheißen hatte.
Die Engel gingen hinauf in den Himmel, wo er auf dem Thron zu Füßen Gottvaters saß, und baten ihn, er möge auf die Erde kom­men, ehe es zu spät sei.
Aber er antwortete traurig: `Ich habe noch keine Menschen auf der Erde gefunden, die so rein und gut sind, daß sie mir Vater und Mutter sein könnten. Denn dem Sohne Gottvaters können auf der Erde nur Menschen Vater und Mutter sein, in deren Herzen niemals ein schlechter Gedanke gekommen ist, die niemals ein zorniges, böses Wort gesprochen, die niemals einem Menschen oder einem Tier weh getan haben. Noch habe ich keine solchen Menschen gefunden, so kann ich noch nicht herunter zur Erde kommen.´
Es verging noch lange Zeit. Immer mehr nahm die Macht der Engel und ihrer Gei­ster ab auf der Erde. - Wenn auch alles noch fruchtbar war, wuchs und gedieh, wenn auch Sonne, Mond und Sterne freund­lich schienen, die Erde war doch vergiftet vom Bösen. Sterben und Verderben war für sie im Gang.

Die Menschen merkten noch nichts davon. Sie wurden unzufrieden, weil die Ernten nicht mehr so groß, wie in alten Zeiten waren.
Die Engel aber er­lebten es, wie ihre guten, helfenden Geister immer mehr zurück­getrieben wurden von einem wüsten, schlimmen Teufelsgezücht, das sich seine Kraft aus lieblosen harten Menschenherzen sog und die ganze Erde allmählich in ihr Höllenreich verwandeln wollte.
Wie sollte das noch werden?
Als aber die Engel der Erde wieder einmal in schwerer Trau­rigkeit alle ihre Sorgen hinauf zum Throne Gottvaters trugen, empfing sie dort der Sohn Gottes mit großer Freude und sagte: `Nun habe ich die zwei Menschen gefunden, die so rein und gut sind, daß sie mir auf Erden Eltern sein können. Nun werde ich kommen und werde in Menschengestalt unter den Menschen sein und werde sie mit der Erde vom Bösen befreien!´ 

Ich habe das alles miterlebt, mußt du wissen. Denn ich hatte mich in den weiten Falten seines Gewandes versteckt, als der Engel Ostara in den Himmel hinaufstieg und so war ich mit ihm vor dem Thron Gottes und sah den Sohn Gottes zu Füßen von Gottvater sitzen und sah gerade in seine ganze strahlende Herrlichkeit hinein!
Sie leuchtete so golden und wunderbar, daß die Sonne, wie man sie hier auf Erden scheinen sieht, ganz dunkel dagegen ist. Und man spürte, daß er alle Wesen liebte. Das ging von ihm aus, und es durchdrang mich ganz, daß ich mich so froh und selig fühlte, wie ich es gar nicht ausdrücken kann in eurer Menschensprache!
Aber nun kniete mein Engel Ostara vor dem Thron nieder und sagte: `O Herr, daß du den Teufel besiegen und die Menschen und die Erde von ihm er­lösen wirst, das wissen wir. Aber willst du uns nicht sagen, wie du das Erlösungswerk vollbringen wirst? Vielleicht können wir dir doch dabei dienen und dir beistehen.´

Der Sohn Gottes antwortete: `Ich will dir und deinen Brü­dern wohl sagen, wie ich mein Werk auf Erden tun werde. Aber helfen kann mir niemand dabei. Ich muß das ganz allein vollbringen. Seht, die Erde, die so rein und schön als Paradies erschaffen war, muß geheilt und gereinigt werden. Sie ist krank und verdorben worden durch alles Böse, was die Menschen den­ken und tun. Denn was die Menschen denken und tun, ob es nun gut oder böse ist, das wirkt bis in das Innerste der Erde hinein. Ach, und die Menschen tun und denken viel mehr das Böse als das Gute. Ihr erlebt es ja, daß die Erde in sich selber abstirbt und so allmählich zur dunklen Wüste werden müßte, wo nur noch der Teufel herrscht. Sie kann aber nur geheilt und geheiligt werden, wenn ein Mensch, - der nie du leiseste Böse auch nur denkt, der alle Wesen und Dinge liebt, der nie etwas für sich will, - die ganze Kraft und Liebe Gottvaters und seiner Engel auf die Erde hinunterträgt und über alles aus­gießt, was da ist, - und wenn dann dieser Mensch freiwillig und ohne sich zu wehren, sich von seinen Feinden, den bösge­willten Menschen, umbringen läßt. Aus seinen Händen, aus sei­nen Füßen, aus seinem Herzen muß sein Blut hinunter in die Erde fließen. Mit den Händen tun die Menschen viel Falsches. Mit den Füßen gehen sie oft böse Wege. Im Herzen haben sie oft schlimme Gedanken. Deshalb muß das Blut des Menschen, der Gott auf die Erde hinunterbringt, aus seinen Händen und Füßen und aus seinem Herzen in den Erdboden hineinfließen. Dieses Blut, in dem nur Gottes Güte und Liebe lebt, wird die Erde heilen. Es ist so stark, daß es die Erde ganz durchdringen wird. Es wird immer lebendig bleiben, und wird immer stär­ker werden, so daß es allmählich im Inneren der Erde anfangen wird zu leuchten wie die Sonne. - Dieser Mensch werde ich sein. Denn dieses Werk kann nur der Sohn Gottvaters in einem Menschen vollbringen.´

Da neigten sich alle Engel tief vor dem Throne Gottes und wendeten sich, um wieder zur Erde hinunterzugehen.
Dabei entdeckte mich der Engel Ostara in seinen Gewandfalten. Er hob mich auf seine Arme und ich sah, daß er weinte. Und alle Engel weinten über das, was Gottes Sohn auf Erden zu er­leiden haben würde.
Ich schaute über die Schulter des Engels zurück in den Himmel und sah den Sohn Gottes in seiner gan­zen Herrlichkeit sich erheben und seine Arme ausbreiten. Sein Glanz erfüllte die ganze Welt und den ganzen Himmel, so daß mir schließlich die Augen davon übergingen.

Dann warteten wir, daß er käme.
Und bald in einer Winternacht stieg einer der ganz hohen Himmelsengel herab und verkündete uns und den Menschen, die es hören konnten, daß das Christkind ge­boren sei, und Jesus genannt werde. – 

All die Geschichten von Ihm, wie er heranwuchs, sich als Gottes Sohn offenbarte, wie er mit seinen zwölf Aposteln herumwanderte und überall den Menschen Gutes tat, Kranke heilte, Hungrige speiste, Tote wie­der zum Leben rief und die Menschen zum Guten ermahnte, all die Geschichten kennst du ja.
In den Jahren, wo er herum­zog und auf alles seine Liebe ausgoß, begleiteten ihn die Engel auf seinen Wegen und vor allem der Engel Ostara verließ ihn nie. So war ich auch immer in seiner Nähe. Und wenn er aus­ruhte und die Füße ihn schmerzten, legte ich mich darunter, daß es weich und lind für sie war. Und er lächelte und streichelte mich.
In jenen Jahren gab es keinen Mißwachs, keinen Hagel­schlag. Alles blühte und reifte nebeneinander durch die Jahres­zeiten hindurch und die Ernten waren so reich und mühelos, daß die Menschen sagten, es sei, wie es in den alten Paradieseszeiten gewesen sein müsse. 

Du weißt ja, wie es weiterging. Viele Menschen erkannten den Gottessohn, der vom Himmel zur Erde gekommen war und nannten ihn auch so: Jesus Christ! Die Menschen aber, über die der Teufel Macht gewonnen hatte, haßten ihn und verfolgten ihn und beschlossen ihn zu töten. Das konnten sie aber nur, wenn einer von den zwölf Aposteln, die um Jesus Christ waren, dem Teufel Einlaß verschaffte, der dann die Feinde an Ihn heranführte.
Da wäre nun viel zu erzählen über Judas, durch den das geschah. Das ist eine sehr geheimnisvolle Ge­schichte, über die ihr Menschen noch wenig wißt. Aber die er­zähle ich dir später einmal. –

Nun, es kam alles, wie du es ja weißt. Die bösen Menschen nahmen Jesus Christ gefangen, quälten und verhöhnten ihn und schlugen ihn schließlich ans Kreuz.
Es war Frühlingszeit damals. Noch nie hatte der Früh­lingsengel so viele Blumen erblühen lassen.
Man sah kaum noch ein Stückchen Boden, so drängten sich die Veilchen, die Krokus, die Narzissen, Anemonen, Himmelsschlüssel zu einem dichten Teppich unter Seinen Füßen. Die Bäume standen strahlend weiß und rosa in Blüten eingehüllt, daß man das Holz ihrer Aste und Zweige nicht mehr sehen konnte. Wir verließen Ihn nie und zogen auch am letzten Abend seines Erdenwandelns mit ihm hinauf auf den Ölberg in den Garten Gethsemane, den Er be­sonders liebte.
Dort hatte der Engel Ostara zwischen den gro­ßen, alten Ölbäumen unzählige Veilchen und Anemonen ge­weckt. Mond und Sterne schienen herab und in ihrem Licht schwebten Engel auf und ab. Von allen Seiten kamen unzäh­lige Geisterlein herbeigewandert: Licht- und Luftelfen, die gu­ten Undinen, die Zwerglein, die Feuerprinzen und Moosleutlein - alle, die es nur gibt: denn alle wußten, daß der Verräter mit den Bewaffneten unterwegs sei und daß Jesus Christ nun ge­fangen genommen und getötet werden sollte. Alle wollten ihm nah sein, um ihm beizustehen.
Er aber wies uns fast mit Strenge zurück und hieß uns schnell davongehen. Was nun geschehe, vollbringe er ganz allein. Da verschwanden und verwehten sie alle. 

Der Engel Ostara aber nahm mich auf den Arm und raffte aus dem Nachtdunkel ein Schattentuch auf, in dem er sich und mich ganz verhüllte. So haben wir von weitem allem zuge­schaut, was mit ihm geschah.
Als Er am Kreuz hing, wollte der Frühlingsengel kühlenden Veilchenduft zu Ihm hinhauchen.
Aber es kam Finsternis, Sturm und Erdbeben. Vor Seinem Kreuz riß sich die Erde auf, und ich sah Sein Blut aus Händen, Füßen und dem Herzen hinabfließen, tief bis ins Innerste der Erde.
Dann starb Er. Seine Jünger nahmen Ihn vom Kreuz und be­gruben Ihn in einem Grab, das in einem Felsen war. Dann gin­gen sie davon.
Nun warf der Frühlingsengel sein Schattentuch ab und setzte sich mit mir nicht weit von Seinem Grabe nie­der. 

Und wieder wanderten nun alle Geister herbei, und wir warteten, was geschehen würde. Denn Jesus Christ hatte gesagt, daß Er nach Seinem Tode auferstehen und wiederkommen werde. Darauf warteten wir.
Aber die Nacht verging und auch der Tag. Die Welt war kalt und grau und leer. Alle Blumen und Blüten waren abgestorben. Der Sturm hatte die Bäume leergefegt. Die Vögel sangen nicht, die Quellen flossen nicht, kein Feuer wollte brennen, so daß die Menschen kein Essen bereiten konnten. Der Himmel war von finstern Wolken ver­hangen. Alles war totenstill, als sei überhaupt kein Leben und kein Licht mehr in der Welt. Und wie der Tag so verging und wieder eine finstere Nacht kam, wurden die vielen Geisterlein bang und müde und schliefen ein.
Aber der Frühlingsengel Ostara wachte mit mir, denn ich verließ ihn nicht. 

Als es gegen Morgen ging und die erste Dämmerung kam, begann der Erd­boden wie aus seinen Tiefen herauf ganz leise zu erklingen, und in der Luft wehte auch ein Tönen zu uns her wie von fer­nem wunderbarem Gesang.
Die Felswand aber, in der das Grab war, fing an, golden zu glänzen, als wollte im Felsen drinnen die Sonne aufgehen.
Der Frühlingsengel sprang auf und rief: `Er kommt! Er kommt! Schnell Häslein, ruf alle meine Geister, damit wir Ihm einen Garten bereitet haben, wenn Er erscheint.´
Ich schoß davon und hin und her, daß mir fast der Atem ver­ging und holte alle herbei. Und alle waren geschäftig, und der Engel leitete sie an und half überall mit und es erblühte ein Frühlingsgarten, so wunderbar schön, wie noch keiner auf der Erde gewesen war.
Und immer mächtiger und herrlicher wurde das Klingen und Singen; immer goldener wurde der Schein, der aus der Felswand hervorging und seine Gestalt leuchtete wie die Sonne. Um Ihn her war der ganze Himmel mit allen En­geln. Und ich sah Gottvater auf seinem Thron lächeln. Sein Mantel strahlte und umhüllte die ganze Welt mit allen Wesen und Dingen.
Der Engel Ostara war niedergekniet und ich drückte mich an ihn. 

Jesus Christ trat heran und sagte:

`Jetzt ist es vollbracht. Jetzt hat das Licht über das Dunkel und das Gute über das Böse gesiegt. Ich habe das Licht und die Liebe des Himmels bis ins Innerste der Erde hinuntergetragen und es ist stärker als der Tod und der Teufel. Nun bin ich der Herr der Erde, und bleibe bei den Menschen, bis alles Böse ausgetrie­ben ist, das sich eingenistet hat in ihren Herzen.
Es wird sehr lang dauern. Viele Male werden die Menschen immer wieder auf die Erde kommen. Viel Böses wird noch geschehen, viel furchtbare Kriege, viel Leid; denn der Teufel wird immer wie­der kämpfen, um sich die Menschen und die Erde zu erobern.
Es wird Zeiten geben, wo die meisten Menschen nichts von mir wissen wollen, wo sie mich verspotten und beschimpfen, weil sie nicht verstehen, was vorgeht; und sie glauben nicht an mich, weil sie mich nicht sehen können.
Aber ich bin bei ihnen und schließlich werden mich alle sehen. Dann ist die Erde wieder leuchtend geworden wie die Sonne.
Immer aber wird es Men­schen geben, die mich lieben und die im Andenken an mich ihre Feste feiern: Das Winterfest der Weihnacht, wo ich als klei­nes Erdenkind geboren wurde, und das Frühlingsfest meiner Auferstehung!
Und du, lieber Frühlingsengel, der du hier auf mich gewartet und den Garten für mich geschmückt hast, sollst der Engel dieses Festes sein, und Osterfest soll es heißen nach deinem Namen.
Du aber, kleiner Hasengeist´, wandte er sich dann zu mir, `der du dich so oft meinen Füßen zum Ausruhen dargeboten hast, du sollst O s t e r h a s e heißen. Dich schicke ich zu den Kindern, daß du ihnen Freude bringst zum Aufer­stehungsfest. Schenke ihnen die Frühlingseier, welche das Bild der goldenen Sonne in ihrem Innern haben, male sie bunt mit allen Farben des Himmels und der Erde.´“ 

„Siehst du“, schloß der Osterhas, „das ist die lange Geschichte, wie ich der Osterhas geworden bin! Willst du sie aufschreiben?“ –
„Gewiß will ich das“, antwortete ich, „und ich danke dir viel­mals dafür, daß du sie mir erzählt hast.“ 

Die Sonne stand nun schon hoch am Himmel und gab einen solchen Glanz über den Osterhasen, daß es mich blendete und ich ihn nicht mehr sehen konnte. Er war im Sonnenschein verschwunden.