Der Sonnengarten

aus: Adelheid Petersen: Christus-Märchen. Rose Verlag, 1963.


Das war vor ur-uralten Zeiten.

Gottvaters Schöpferengel hatten noch nicht die Erde erschaffen mit den Menschen, den Tieren, den Pflanzen und Steinen der Erde. Auch die Sterne waren noch nicht da. Einzig nur die Sonne. Sie war aber viel größer und mächtiger, viel strahlender als unsere Sonne heute ist, und der Regenbogen umleuchtete sie mit seinen sieben Farben. Das Licht auf dieser Sonne war so rein und stark, daß der Himmel nicht hell darüber stand wie bei uns, wenn die Sonne scheint, sondern er war ganz dunkel anzuschauen, wie um Mitternacht.

Es gab da nichts Hartes, Dichtes, Schweres, sondern alles war aus lauter goldenem Licht gewoben, in dem die Farben des Regenbogens leuchteten, und die Glorie Gottvaters lebte sichtbarlich darin.

Über die ganze Sonne dehnte sich ein zauberhafter Garten mit Tausenden und aber Tausenden der wunderbarsten Blumen. Inmitten des Gartens saß Gottvater auf seinem Thron, eingehüllt in seinen Mantel, der aus den Bildern von allem gewoben war,
was Gottvater je ersann oder noch ersinnen wird durch die Zeiten hin in alle Ewigkeit.

Um ihn her standen seine höchsten Schöpferengel, die Geister der Liebe und des Lichtes – man nennt sie auch die Seraphim und Cherubim – und die Geister seines göttlichen Willens, welche die Grundfesten der Erde tragen. Sie empfingen Gottvaters Wort und Weisung und gaben sie weiter an die Engel der göttlichen Weisheit. Denen war die Lenkung und Ordnung alles Lebens auf der Sonne übertragen. Sie wandelten in dem weiten Garten und teilten den helfenden, dienenden, lernenden Engeln ihre Arbeit zu. Denn wie bei den Menschen gibt es auch in der Welt der Engel ältere und jüngere, Lehrer und Schüler, Fortgeschrittene und Anfänger, und immer sind solche da, die gerade reif sind, um die Geheimnisse der Welt­schöpfung zu erfahren und an ihrem Fortschritt mit Wissen mit­zuarbeiten.

Heute haben wir als Menschen der Erde diese Be­stimmung. Damals auf der Sonne waren es die Erzengel mit ihrem goldstrahlenden Fürsten Michael. Sie waren die beson­deren Lehrlinge der hohen Weisheitsengel und wurden von ihnen in der Wartung des Gartens, in der Pflege der Blumen sorgfältig unterwiesen.

Aber wie soll man nun diesen Sonnengarten schildern, der sich über Berge und Täler hinzog mit Seen, Strömen und Bächen aus Licht, - wie soll man ihn in seiner Herrlichkeit beschreiben?

Alles, was es nur auf Erden an Blumen gibt, - die Blumen der Gärten, die Blumen der Wiesen und Wälder, wie sie so unzählig blühen vom Schneeglöckchen und Veilchen an durch die Rosen- und Lilienzeit und den Herbst der Astern und Zeit­losen hin bis zur Christrose, - die Blumen der Alpen, die Blumen des Südens mit ihrer Glut, die Blumen der kalten, kar­gen Gegenden, der Heiden, Moore, Steppen: alle, alle wuchsen im Garten der Sonne, aber doch ganz anders als bei uns, unend­lich viel schöner und vollkommener, so daß unsere Blumen ganz armselig daneben wären.

Sie strahlten durchsichtig in allen Farben des Regenbogens, die sich dauernd in ihnen verwandelten, so daß - was eben als rote Rose leuchtete, nun wie eine stille blaue Glockenblume erschien; oder eine Feuerlilie wurde wie eine Narzisse; oder eine Osterglocke wie der Stern eines Edelweiß, oder ein blühen­der Apfelbaum zerfiel in ein Feld von Vergißmeinnicht.

So war immerwährendes Wechseln und Bewegen in immer neuen Farben und Formen, und das geschah in einer wunderbaren Ordnung und war begleitet von einer herrlichen Musik. Denn die Farben des Regenbogens erklangen bei jedem Wechsel in vielfältigen Harmonien, und die Blumen strömten Düfte aus, welche die ganze Sonne erfüllten.

Die Erzengel nun hatten dafür zu sorgen, daß dies ganze Leben, Weben und Wandeln sich richtig vollziehe und rein zu­sammenstimme, daß alle Blumen ihre richtige Entfaltung hatten und keine in ihren Kräften verkümmere.

Sie tränkten sie aus goldenen Krügen mit dem reinsten Licht. Das schöpften sie aus den Händen der Weisheitsengel, welche sie ihnen wie eine Schale darboten. Und der Garten gedieh unter ihrer Obhut.

Oft kam Gottvaters Sohn, der Christus, um sich im Garten zu ergehen. Dann waren alle Engel voller Freude, und die Blumen erschienen schöner als sonst. Denn wer in seine Nähe kam, wurde ganz durchwärmt von der Liebe und Güte, die von ihm ausging. Vor allen andern eilte ihm immer der Erzengel Michael entgegen und folgte ihm dann überall nach. Denn er liebte Christus über alles und wollte nichts, als ihm in alle Ewigkeit dienen.

Christus war fast immer von einem Engel begleitet, den er wie einen Bruder liebte und der alle andern an Schönheit und Erhabenheit, an Weisheit und Kraft über­ragte. Seine Flügel strahlten machtvoll. Seine Krone war ein Abbild der ganzen Sonne und trug sieben Sterne in den Farben des Regenbogens. Er hieß Luzifer, das heißt: Träger des Lichts. Alle Engel bewunderten ihn und manche waren da, die ihn höher stellten als den Christus.

Er aber ging kalt und stolz zwischen ihnen hin; denn er wußte, daß ihm keiner gleichkam. Christus sah ihn oft mit einem Blick voller Liebe, aber auch voller Sorge an. Es war, als wolle er ihn um etwas mahnen, um etwas bitten. Aber Luzifer achtete dessen nicht. Mit seiner Weisheit und Macht war auch sein Hochmut gewachsen. Er war nur noch vom Gefühl seiner eigenen Größe und Bedeutung erfüllt und verachtete seine Gefährten.

Als nun zu einer Zeit alles im Garten in seiner höchsten Ent­faltung stand, geschah es, daß Gottvater durch den Garten ging, um alles anzuschauen und zu prüfen, ob die Dinge nach seinem Worte geschehen seien. Vor ihm her schritten die Geister des göttlichen Willens. Die Seraphim und Cherubim umgaben ihn.

Alle Engel waren auf die Knie gesunken. Nur Christus und Luzifer standen zur Seite, wo Gottvater des Weges kam. Christus neigte sich tief und strahlte seine ganze Liebe Gott­vater entgegen. Luzifer stand aufrecht in seiner ganzen Majestät. Als Gottvater Christus sah, lächelte er und winkte ihn an seine Seite. Luzifer aber beachtete er nicht. Da schoß eine böse Flam­me in diesem auf und verdunkelte seine Krone.

Und Gottvater begann zu sprechen.

Alle Engel lauschten mit gesenkten Häuptern und hatten die Hände vor der Brust gekreuzt. Nur Luzifer hielt den Blick erhoben.

Gottvater aber sagte: „Meine Schöpfung ist gediehen, kraftvoll und rein. Ihr alle, die ihr daran mitgearbeitet habt, vom Größten bis zum Geringsten, habt es mit Liebe und Freude getan. Dieser Garten bezeugt es. Ihr sollt dafür gesegnet sein. Eure Arbeit und Mühe wird euch wieder zuwachsen als Erhö­hung eures ganzen Wesens, daß ihr zunehmen, werdet in allen euren Kräften und immer mehr die Seligkeit erlebt, die aus meinem Schöpferworte quillt.“

Da ging ein Jubel durch die ganze Sonne. Nur Luzifer hatte etwas wie Trotz und Hohn in seinem Gesicht.

Und Gottvater überschaute die ganze Sonnenwelt mit all ihren Wesen und segnete sie. Dann sagte er:
„Wer eine Frage an mich tun will, komme heran.“

Da trat nach einer kleinen Pause der Erzengel Michael her­vor und kniete vor Gottvater nieder.
„Sprich“, sagte Gottvater freundlich. „Was möchtest du fragen?“
Und Christus, der neben Gottvater stand, schaute liebevoll auf den Erzengel.

„Herr“, antwortete Michael, „wir wissen, daß all dein Werk in einem ständigen Werden und Wachsen ist und sich aus deinem Wort immer neu wandelt und aus dei­ner Macht zu einem Ziel geführt wird. Herr, ich liebe diesen Garten mit meinem ganzen Herzen und hege ihn aus meinen besten Kräften. Dürfen wir erfahren, was in diesen Blumen als ihre Zukunft ruht? Was hast du ihnen bestimmt? Zu welcher Frucht sollen sie reifen?“

„Du hast eine gute Frage getan“, sagte Gottvater. „Ich will dir und die es erschauen können, ein Bild von dem zeigen, was dereinst aus diesen Blumen werden soll.“

Er hob aus den Falten seines Mantels ein Bild, entrollte es und ließ es in der Höhe schweben, daß es groß und leuchtend weithin sichtbar war.

Das Bild aber war ein Bild unserer Erde mit ihren Ländern und Meeren, ihren Pflanzen und Tieren und uns Menschen. Und die Erde mit all ihren Geschöpfen strahlte in himmlischer Glorie, und die Gestalt der Menschen war ein Abbild der hohen Schöpfergeister und war so schön, daß alle, die es sahen, in Entzücken darüber gerieten. Das Bild erschien in lebendiger Bewegung und zeigte das Leben der Menschen, zeigte, wie die Jahreszeiten sich folgten in Blühen und Reifen, das ohne Mißwachs, ohne Sturm und Hagel, ohne Dürre oder Wassernot war, und der Winterschnee deckte sanft ohne töten­den Frost das Land. Es herrschte weder Not noch Krankheit. Friedlich ohne Zank und Streit lebten die Menschen mitein­ander - ohne Verbrechen und Laster. Ihre führenden Engel waren unter ihnen, lehrten sie und halfen ihnen. War ein Mensch alt geworden, so trug ihn sein Engel in den Himmel, wo er neu verwandelt wurde.

„Dies Bild wird einmal Wirklichkeit werden“, sagte Gott­vater, „und dies zukünftige Geschöpf, der Erdenmensch, schlum­mert heute in diesen Blumen und träumt von der Welt, die ihn umhegt. Jede dieser Blumen trägt den künftigen Menschen in sich. Ihr sollt sie weiter betreuen. Und wenn sie zu Menschen geworden sind - in einer fernen Zeit - werdet ihr sie be­schenken mit all euren Gaben. Ich werde meinen Geist in sie einsenken, daß sie ewiges Leben empfangen, wie ihr es habt, und dereinst aus freien weisheitsvollen Kräften selbst an der Welt mitschaffen können. Vor allen andern von euch ist Luzifer erwählt, Helfer und Lehrer der Menschen zu sein mit dem Weis­heitslicht, das er sich erworben hat.“

Gottvater blickte auf Luzifer, als erwarte er eine Antwort von ihm. Luzifer aber leuchtete wohl vor Stolz; jedoch er blieb stumm. Gottvater wartete ein Weilchen. Da aber Luzifer be­harrlich schwieg, sprach er weiter:

„Nun sollen aber die Men­schen nicht nur weiterbilden, was sie von euch erhalten werden, sondern ich habe ihnen das Allerhöchste zugedacht, - das, was aus meinem allerinnersten Herzen stammt. Sie sollen meine Liebe verwirklichen. Sie sollen für die Welt Träger und Brin­ger der Liebe sein.“

Nach diesen Worten Gottvaters jauchzten und jubelten die Engel.
Nur Luzifer stand kalt und unbewegt. In seinen Au­gen funkelte ein zuckendes Feuer.

„Damit aber dies geschehe“, fuhr Gottvater fort, „muß einer unter euch sein ganz besonderes Amt aus meinen Händen emp­fangen, um den Menschenseelen die göttliche Liebe einzupflan­zen. Das kann er nur, wenn er sich selbst, seinen eigenen Willen, seinen eigenen Sinn ganz zurückstellt; wenn er sich selbst ge­ring achtet vor dem Wohl aller anderen und der ganzen Welt. Wenn er sich ganz hingibt an mich. Dann kann ich ihn mit mei­ner ewigen Liebe ganz durchdringen, daß er sie den Menschen bringe und sie Geschöpfe der Liebe seien und die Erde die Welt der Liebe werde.“

Und Gottvater wendete sich zu Luzifer und fragte ihn: „Willst du dies tun?“

Luzifer kämpfte etwas in sich aus. Das war deutlich zu sehen. Es zog ihn hin zu Gottvater, aber zugleich wehrte er sich da­gegen. Er blickte auch einmal zu Christus hin, der sich ihm mit ausgestreckten Händen zuneigte. Er sah auch Michael in sei­ner Nähe stehen und ihn ernst, fast zornig anschauen.

Noch war ein Zaudern in ihm. Aber dann ergriff ihn plötz­lich eine rotlodernde Flamme und er rief:

„Nein!“

Das dröhnte wie ein noch nie gehörter Donner durch die Sonne. Die Engel schraken zusammen und die Blumen schwank­ten auf ihren Stengeln.

„Nein“, rief Luzifer nochmals, „nein, ich will nicht! Ich will nicht mehr immer nur demütig dienen, immer nur deinem Wil­len folgen! Warum habe ich denn eigenen Willen, eigene Weis­heit, eigene Kraft, wenn ich sie nicht anwenden soll, wie ich will? Ich will nicht mehr gehorchen! Ich will ich selbst sein! Ich will für mich aus meinem Willen handeln! Ich will freier Ge­bieter sein in einem Reich, das ich nach mir gestalte, und seine Wesen sollen mir folgen!“

Unter diesen Worten wuchs er zu immer stolzerer Größe auf. Aber seinen wunderbaren Goldglanz fraß die rote Flamme, die mit ihm wuchs.
Das Bild der Erde zitterte und bebte in sich selbst. Es trübte und verwandelte sich.
Die menschliche Ge­stalt verlor ihre himmlische Schönheit. Es war, als schrumpfe sie zusammen, werde gegen vorher derb und rauh. Nun sah man die Menschen miteinander streiten, man sah Häßlichkeit an ihnen, Krankheit und schließlich das Sterben.

„Du Tor“, sagte Gottvater zu Luzifer, „du hast die Prüfung deiner Weisheit und Größe nicht bestanden. Du hast das Ge­heimnis deiner selbst nicht erkannt. Bist du nicht herange­wachsen und gereift in all deinen Gaben und Kräften, warst du nicht gesegnet und geborgen mit all deinem Leben und Tun, da du mich Vater nanntest und nach meinem Geheiß tatest? Hast du dich nicht zur ganzen Macht deines Wesens empor­gehoben bis dahin, wo du dich frei in dir selbst entscheiden konntest? Mein Wille lenkt und trägt alle meine Geschöpfe, bis sie so weit sind, daß sie frei ihren weiteren Weg wählen können. Als ich dich fragte, warst du ganz frei. Meine Frage war deine Prüfung. Hättest du ein Ja gesagt, so wäre dir offen­bar geworden, daß du zur unbegrenzten Freiheit und Gewalt deines Wesens gelangt wärest, indem du dich ganz an mich hingegeben hättest. Zu allem, was du schon besitzest und was dir noch geworden wäre, hättest du noch die Seligkeit der göttlichen Liebe hinzugewonnen. Jetzt hast du verspielt in Hochmut und Eigensinn. Du hast dich aus meinem Herzen herausgerissen. Du wirst nicht mehr weiter schreiten. Du bleibst stehen als der, welcher du bist. Deine Wünsche werden dich ver­zehren. Ruhelos wirst du ihrer Erfüllung nachjagen und ungeachtet deines feindseligen Trotzes wirst du unstillbares Heim­weh erleiden nach der Heimat, von der du dich geschieden hast. Nun trifft dich das furchtbare Los, Unheil in die Welt zu bringen, wie es in urlangen Zeiten vor dir schon einen andern getroffen hat.“

Bei diesen Worten Gottvaters klaffte ein finsterer Abgrund in der Tiefe auf und für einen Augenblick schaute das düstere Haupt des Satans hervor, der Luzifer winkte. Dann schloß sich alles wieder zu.

Luzifer reckte sich noch höher und loderte in zorniger Glut und eine ganze Schar von Engeln drängte sich zu ihm. Er schlug seine Flügel wild auseinander, daß ein Sturm durch den Sonnengarten pfiff und die Blumen durcheinander zerrte und ver­wüstete. Die Erzengel, als erster Michael, eilten sie zu beschützen vor weiterem Schaden.

Luzifer aber schrie:

„So werde ich Unheil bringen in deine Welt! Ich werde ge­gen dich und deine demütigen Knechte sein! Ich werde dir dei­nen Garten verderben und aus ihm mein Reich gründen! Hört es alle, mein Reich wird ein Reich der Schönheit und des Ge­nusses sein, wo jeder sich selber leben kann! Folgt mir alle, die dies erstreben! Mir wird die Erde und ihre Menschen gehören!“

Und er stürzte mit einem Sprung vorwärts, die Hände gestreikt, die Finger gespreizt, als wolle er die Blumen an sich raffen und ausreißen. Und der Sturm tobte wild und wilder.

Michael warf sich ihm entgegen - aber plötzlich begann Luzifer zu sinken, als wiche ihm der Boden unter den Füßen. Seine herr­lichen Flügel welkten. Seine Krone erlosch und die Sterne fie­len von ihr ab. Mit ihm versanken die Engel, die sich um ihn geschart hatten, und verloren ihr goldenes Licht.

Als sie alle verschwunden waren, schien die ganze Sonne ver­dunkelt. Alles sah fahl aus, die Blumen hingen krank und matt herab, und zum ersten Male weinten und klagten alle Engel und der Regenbogen erklang nicht.

Gottvater schwieg.

Endlich aber winkte Christus, dem die Tränen aus den Augen strömten, daß die Seufzer und das Schluchzen schwei­gen sollten. Als es endlich still geworden war, fragte er:
„Vater, was wird nun werden?“

Gottvater erwiderte traurig:

„Er wird tun, wie er gesagt hat. Er wird die Erdenmenschen mit all seinen Gaben beschenken, daß sie herrliche Werke auf Erden schaffen und in allen Künsten und Wissenschaften Mei­ster sein werden. Aber er wird ihre Seelen verderben. Er wird sie hochmütig, selbstsüchtig, ehrgeizig machen wie er selber ist. Er wird sich mit dem uralt Gestürzten verbünden, der die Wahrheit haßt und nach Machtgewalt giert! Gemeinsam werden sie die Menschen umstricken und verblenden, werden sie mit allen bösen Trieben erfüllen, werden ihnen alle Täuschungen vorgaukeln und ihnen Haß einpflanzen, der wuchern wird in wildester Kraft, daß sie sich gegeneinander wenden und sich und ihre Werke vernichten; daß sie sich gegen mich wenden und schließlich sagen: Gott ist nicht! Um ihr ewiges Erbe, um die Liebe und das Leben in der unsterblichen Liebe sollen die Men­schen betrogen werden. Mit der Erde sollen sie in Vernich­tung und Tod fallen und den beiden Verderben gehören, die man Teufel und Satan nennen wird.“

Ab die Engel das vernahmen, hob der Jammer noch stärker an als zuvor.

Aber Christus gebot abermals Stille und fragte:
„Vater, gibt es denn keine Rettung? Muß es so kommen, daß die Erde und die Menschen, deine liebsten Geschöpfe, denen, du das Größte und Seligste zugedacht hast, zugrunde gehen?“

„Wohl gibt es Rettung“, antwortete ihm Gottvater. „Aber es ist ein schweres Werk und ich sehe keinen unter allen Engeln, der fähig wäre, es zu vollbringen.“

„Vater“, bat Christus, sage, was geschehen muß, damit Ret­tung werde.“
Und aus seinem Herzen quoll das Licht seiner, Liebe hervor wie noch nie.
Alle Engel wiederholten seine Bitte: „Herr sprich, was muß geschehen?“

Gottvater schaute alle an; jeden, wie weit er auch von ihm entfernt war, erfaßte sein Blick und durchdrang ihn ganz.
Es war ein tiefes Schweigen überall.

Endlich hob Gottvater an:

„Wer die Erde und die Menschen retten will vor dem Ver­derben, der muß unendlich viel mehr tun als das, wovon ich zu Luzifer geredet habe. Er muß nicht nur alles eigene Verlangen von sich abtun und ganz zum Werkzeug meiner Liebe werden, damit er den Menschenseelen die Liebe einverweben könne. Nein, er muß seine himmlische Herrlichkeit ganz ablegen. Er muß hinuntersteigen in den harten, schweren Erdenleib, wie ihn Luzifer und Satan verderbt haben werden. Er muß ein Mensch werden unter den Menschen. Er, in dem ich und mein ganzes himmlisches Wesen leben werde; er, der den Haß und das Böse nicht kennt, der nur lieben, leiden, helfen kann, - er muß leben mitten unter den Elenden und Bösen. Er wird gehaßt und ver­folgt, verspottet und gequält und grausam blutig getötet wer­den.“

Alles, was Gottvater sprach, war während seiner Worte auf dem großen Erdenbilde erschienen, und die Engel schauderten zurück vor allem Furchtbaren, allem Bösen, allem Elend, das sich im Leben der Menschen zeigte: denn es gab viel mehr Übles als Gutes, viel mehr Unglück ab Glück, viel mehr Haß als Liebe unter ihnen.

Als aber ein Kreuz aufgerichtet dastand, an dem ein Mensch verblutete, der in all seinen Qualen ein  goldenes Licht auf seine Henker und Feinde ausstrahlte, konn­ten die Engel den Anblick nicht ertragen und verhüllten ihre Angesichter.

Christus aber schaute alles an, tief und fest. Dicht hinter ihn war Michael getreten und schaute mit ihm und überwand sei­nen Schrecken. Sie schauten aber weiter, wie der Gekreuzigte begraben wurde von einer kleinen Schar, die ihn liebte und ihm gefolgt war. Sie schauten, wie er sich nach drei Tagen aus dem Grabe erhob in seinem Menschenleibe, der aber nun aus rei­nem Sonnenlicht gewoben und so war, wie der Menschenleib nach Gottvaters Willen hatte sein sollen. Sie schauten, wie sein Blut, das in die Erde getropft war, von dieser getrunken wurde und in ihr zu leuchten und sie von innen her immer stärker mit Licht zu durchdringen begann. Sie schauten, wie der Auferstan­dene durch lange Erdenzeiten hin mit Luzifer und Satan kämp­fen und ringen mußte, um die Menschen, die ihnen immer wie­der in die Schlingen fielen. Nicht viele Menschen waren es an­fangs, die sich dem Auferstandenen zuwandten, ihn erkannten, ihn wirklich liebten, ihm wirklich in seinem Sinne folgten. Aber ihre Zahl wuchs, während die der Bösen, Verstockten immer we­niger wurde. Die aber dem Auferstandenen dienten, glichen ihm schließlich auch in ihren Leibern. Und die Erde wurde ihrer Schwere, ihres Dunkels ledig und wurde leuchtend wie die Sonne, der Gewalt des Widersachers entrissen.

Da trat Christus vor Gottvater hin und sagte: „Vater, ich bitte dich, laß mich dieses Werk vollbringen.“

Er hatte leise gesprochen. Aber seine Worte hallten mächtig in den Klängen des Regenbogens, der wieder ertönte. Ein neues Licht erfüllte die ganze Sonne.

„Du willst dies Leiden auf dich nehmen“, sprach Gottvater, „dies Leiden über jedes erdenkbare Leiden hinaus, du, mein ewiger Sohn?“
,Ja, ich will es“, antwortete Christus und sah mit unendlicher Liebe über den Garten hin, wo die Blumen plötzlich neue Kraft gewannen, ihre Kelche aufrichteten und erschlossen, so strahlend wie nie zuvor.

Zwischen ihnen wandelten nun wieder die Erzengel, Licht schöpfend aus den Händen der Weisheitsengel und es ausgie­ßend aus ihren goldenen Krügen über die Blumen, die von Au­genblick zu Augenblick schöner würden.

„Bitterer als jedes Leiden“, sagte Christus, „wäre der Ge­danke, daß diese Schöpfung deines Willens, deiner Weisheit und Liebe, in die das Leben all deiner Engel eingeflossen ist, zugrunde gerichtet werde.“

„Ich werde dir folgen“, rief Michael und warf sich vor Christus nieder. „Ich werde dir immer Diener sein. Ich werde kämpfen gegen Luzifer und Satan mit allem, was ich vermag.“
Christus reichte ihm die Hand, hob ihn auf und sagte: „Sei es so!“
Dann wies er auf die Blumen: „Sei ihnen ein treuer Pfleger und Schützer. Nicht nur jetzt, sondern wenn die Zeiten der Gefahr für sie kommen, wenn sie aus ihren himmlischen Träu­men erwachen, Menschen werden und die Widersacher sich in sie einschleichen, wenn sie durch den Abgrund des Bösen gehen müssen. Sieh immer in ihnen die Lichtblume aus dem Sonnen­garten, auch wenn sie in der ärgsten furchtbarsten Schlechtig­keit verstrickt sind. Dann wirst du mein großer Helfer sein.“
Michael küßte Christi Hände und wurde von ihm gesegnet.

Gottvater aber öffnete seinen Mantel und sprach zu Christus: „Komm, daß du vorbereitet und geweiht werdest für dein Werk!“

Er bestieg seinen Thron, hüllte Christus in seinen Man­tel und verschwand mit ihm in einem Glanze, der so groß war, daß keines Engels Auge ihn durchdrang.

Und alles geschah, wie Gottvater es vorausgesagt hatte.
Christus wurde als Jesuskind geboren. Er wurde gekreuzigt und stand auf aus dem Tod.

In jedem von uns lebt die Lichtblume aus dem Sonnengarten. Sie ist verborgen im innersten Herzen.
Wenn sie in einem Men­schen blüht, dann hört er Jesus Christ zu sich sprechen und wird ihn einmal auch erblicken.