Die Geschichte vom Judas Ischariot

aus: Adelheid Petersen: Christus-Märchen. Rose Verlag, 1963.


In Jerusalem lebte um die Zeit, als der Sohn Gottes zur Erde herabsteigen sollte, ein Fürst namens Ruben mit seiner sehr schönen, guten und frommen Frau.
Sie hatten einen präch­tigen Palast, herrliche Gärten und viel Geld und Gut. Die Menschen liebten sie, denn sie waren freundlich gegen ihre Diener, wohltätig gegen die Armen und immer hilfsbereit, wo es nötig war. Aber doch waren sie nicht ganz glücklich. Denn sie hatten kein Kind und wünschten es sich von ganzem Herzen.
Endlich nach langen Jahren stieg eine Seele vom Himmel herab in das Herz der schönen Frau, daß sie von ihr als Kindchen zur Welt gebracht werde.
Da war große Freude im Palast und alles wurde aufs Schönste vorbereitet.
In der gleichen Nacht, als zu Bethlehem im Stall das Christkind geboren wurde, bekam auch die Fürstin in Jerusalem ein Büblein, schön und kräftig mit großen dunklen Augen.
Aber in drei Nächten darauf erschien dem Vater ein ernster Engel und sprach zu ihm:
„Der Sohn, welcher dir geboren worden ist, wird seinen Vater töten und entsetzlichen Jammer über seine Mutter bringen.“ 

Es läßt sich denken, wie der Vater erschrak!
Zuerst wollte er die Gedanken daran wegschieben und vergessen. Aber als der Engel das zweite und dritte Mal wiederkam, fand er gar keine Ruhe mehr und erzählte schließlich alles der Mutter.
Der wollte fast das Herz brechen vor Kummer beim Gedanken, zu was für einem furchtbaren Schicksal ihr kleiner Sohn aufwachsen sollte.
Da sich die armen Eltern in ihrem Schrecken und Gram gar nicht zu helfen wußten, ging der Vater schließlich zu einem uralten, weisen, frommen Mann, welcher einsam weit draußen vor der Stadt in der Wüste wohnte, und vertraute ihm alles an: wie sehr sie sich auf ihr Kindchen gefreut hätten und was ihm nun durch den ernsten Engel vorausgesagt worden wäre. –
Der Weise antwortete: „Über deinem Sohn schwebt ein großes schweres Schicksal, und es wird an ihm liegen, wie er es wendet. Trage das Kind hinaus ans Meer und warte ab, was mit ihm geschieht. Das ist das Richtige.“
Der Vater gehorchte dem weisen Mann und ließ durch eine vertraute Dienerin - denn er selber hätte es nicht vermocht - das Kind in einem Körblein hinaus ans Meer tragen und dort niedersetzen.
Dann sollte sie von Weitem abwarten, was geschehen würde.
Im Palast aber wurde verkündet, daß der Kleine plötzlich gestorben sei, und ein leeres Särglein wurde begraben.
Die Mutter zog Trauerkleider an, die sie nie mehr ablegte, und weder sie noch der Vater konnten jemals wieder froh sein. – 

Der kleine Knabe in seinem Körbchen hatte zuerst geschlafen.
Als die Sonne höher stieg, wachte er auf, und als er nach einem Weilchen Hunger bekam, fing er an zu weinen.
Nun war gerade die Königin von Kariot - das ist eine Insel im Meer - in Jerusalem auf Besuch gewesen und wollte jetzt auf ihrem schönen Schiff wieder heimfahren zu ihrem Mann, dem König von Kariot.
Als sie das klägliche Kinderstimmchen hörte, schick­te sie eine Dienerin, um nachzusehen, was für ein Kind da denn so weine und schreie, ohne daß sich jemand darum kümmere...
Die Dienerin fand schnell das Körbchen und brachte es der Königin.
Die war sehr verwundert über das Büblein und nahm es auf ihre Arme, wo es sich beruhigte und sie anlachte.
Sie gewann es gleich lieb und nahm es mit nach Kariot. Dort gefiel dem König das schöne Kind in seinem kostbaren Kleidchen auch, und er dachte, es müsse von vornehmer Herkunft sein. Da sie keine Kinder und keinen Erben für ihr Königreich hat­ten, beschlossen sie, das Kind als ihr eigenes anzunehmen und zu erziehen.
Sie gaben ihm den Namen Judas, und er galt als Königssohn. 

Der kleine Judas wuchs zu einem schönen und klugen Kna­ben heran.

Aber je älter er wurde, desto stolzer und hochmüti­ger wurde er auch. Er ließ seine Spiel- und Lerngefährten füh­len, daß er mehr sei als sie, weil er der Königssohn war. Er ver­spottete sie, weil er der klügste und stärkste unter ihnen war. Er war heftig und jähzornig und schimpfte und schlug, wenn er sich über etwas ärgerte. Gegen die Diener war er herrisch und dankte ihnen niemals für ihre Arbeit.
Daher kam es, daß niemand ihn gern hatte außer dem König und der Königin, welche ihn so liebten, als sei er ihr eigenes Kind. Sie hatten auch streng verboten, zu Judas davon zu sprechen, daß er ein Findling sei.
Als Judas schon ganz herangewachsen war, geschah das Un­erwartete, an das niemand mehr gedacht hatte: der König und die Königin bekamen ein eigenes Söhnlein.
Darüber war großer Jubel am Königshofe und im ganzen Land, und der Feste war kein Ende.

Mit der Zeit aber merkte Judas, daß die Leute die Köpfe zusammensteckten und flüsterten, wenn sie ihn sahen. Seine Gefährten gaben ihm Widerreden und kümmerten sich nicht mehr weiter um ihn, und die Diener wurden ihm auf­sässig. Als er deshalb einmal einen von ihnen bedrohte, warf ihm der zur Antwort hin: er solle nur nicht mehr so groß tun, denn mit seinem Königwerden sei es ja nun vorbei, wo der König und die Königin einen eigenen Sohn hätten! Und alle seien froh darüber, daß sie ihn, den Unguten, Hochmütigen, der doch nur ein Findelkind sei, einmal nicht zum König bekämen!

Judas stürzte außer sich zum König und zur Königin, welche gerade beisammen auf einer Terrasse über dem Meer saßen und mit ihrem Büblein spielten.
Als Judas seine Klage über den Diener vorbrachte, nahm ihn der König bei der Hand und er­zählte ihm, wie die Königin ihn am Meer gefunden und mitge­nommen habe. Dann setzte er ihm auseinander, daß er jetzt, wo sie einen eigenen Sohn von Gott geschenkt bekommen hät­ten, nicht König werden könnte. Aber er bleibe nach wie vor ihr geliebter Sohn und solle immer der Erste nach dem König sein!
Auch die Königin sprach liebevoll zu Judas und sagte, daß sie ihr eigenes Söhnlein nicht lieber haben könne, als sie ihn liebe. Sie bat ihn, er möge doch seinen Stolz und Jähzorn ein wenig dämpfen. Sie hielt ihm das Büblein entgegen, das lächelnd nach ihm griff, und bat ihn, er möge es als seinen kleinen Bruder lieben.
Judas aber hörte aus allen guten Wor­ten nur das eine heraus, daß er nicht König werde und alle seine stolzen Zukunftsträume zerronnen seien.
Da überkam ihn eine solche Wut, ein solcher Haß gegen das kleine Königskind, daß er es - ehe er selber wußte, was er tat - vom Arm der Königin riß und ihm das Hälschen zudrückte, daß es auf der Stelle tot war. – 

Bei dem Aufschrei der Königin kam er aus der Rase­rei zu sich. Als er sah, was er getan hatte, stand er einen Au­genblick vor Entsetzen erstarrt. Dann aber sprang er über die Brüstung der Terrasse blind in die Tiefe.
Trotz der Höhe des Sprunges blieb er unverletzt und rannte an die Küste, sprang in den ersten Kahn, den er fand, zerhieb das haltende Seil mit seinem Schwert und ruderte voller Verzweiflung aufs Meer hinaus.
Die Diener wollten ihm nacheilen, um ihn zu fangen, aber der König verbot es ihnen.
„Er war mir wie mein eigenes Kind“, sagte er. „Er trägt die Folgen seiner Tat in sich. Wenn ihr ihn auch töten würdet, so wird dadurch mein Söhnlein ja nicht wieder lebendig. Über­laßt ihn seinem Schicksal.“ 

Judas in seinem Kahn ruderte Stunde um Stunde ohne Überlegung darauflos, bis er vor Hitze, Hun­ger und Durst und Müdigkeit nicht mehr konnte. Da zog er die Ruder ein und warf sich auf den Boden des Kahns, am liebsten - so dachte er - um zu sterben.
Er war ganz zerbrochen über seine Tat. Aber nicht eigentlich, weil er das Kind getötet und damit die größte Trauer über den König und die Königin ge­bracht hatte, welche ihm so liebevolle Eltern gewesen waren. Sondern deshalb, weil er sich selbst sein ganzes Leben verdor­ben hatte.
Jetzt dachte er, daß es doch besser gewesen wäre, in Kariot der Erste nach dem König zu sein, als nun heimatlos und flüchtig in der Welt herumirren zu müssen!

Schließlich. überwältigte ihn die Erschöpfung, so daß er die Besinnung ver­lor und wie tot im Kahne lag.
Der aber wurde von den Wellen des Meeres immer weiter getragen und einem prächtigen großen Schiff entgegengetrieben, das mit seidenen Purpursegeln, von zahlreichen Ruderern getrieben, stolz daherschoß.
Die Männer auf dem Schiff bemerkten den Kahn mit dem schönen Jüng­ling in vornehmer Kleidung, der wie tot erschien. Sie holten ihn auf ihr Schiff herauf und bemühten sich, ihn wieder ins Leben zurückzubringen. 

Die Männer auf diesem Schiff waren Römer. Die Römer waren damals das mächtigste Volk der Erde, und ihr Kaiser in Rom - Cäsar hieß er in der Sprache der Römer - hatte sich fast alle Länder und Völker unterworfen und hatte überall seine Vertreter, seine Statthalter, wie man sie nannte, welche in sei­nem Namen regierten.
So war auch das Land Palästina ihm untertan, und auf diesem Schiff war sein Statthalter namens Pontius Pilatus auf dem Wege nach Jerusalem, um dort für den Cäsar Hof zu halten.
Er saß auf dem Verdeck unter einem seidenen Zeltdach, welches ihn gegen die heißen Sonnenstrahlen schützte, und befahl, daß man den Unbekannten zu ihm füh­ren solle, sobald er dazu fähig sei.
Allmählich kam Judas zu sich und begriff zuerst gar nicht, was mit ihm geschehen sei. Sie labten ihn mit Speise und Trank und führten ihn dann zum Statthalter.

Pilatus fragte nun Judas um Namen und Her­kunft und wie es gekommen sei, daß sie ihn verlassen und be­wußtlos gefunden hätten.
Judas war zuerst ratlos und verwirrt und unsicher, was er antworten solle. Aber da er nicht ein noch aus wußte, erzählte er schließlich dem Statthalter seine Ge­schichte, wie es gewesen war und sich zugetragen hatte.
Pilatus hörte ihm ernsthaft zu und fragte dann: „Bist du nicht ver­folgt worden? Jedes größere Schiff hätte dich mit Leichtigkeit eingeholt.“
Judas verneinte. Kein Schiff habe sich gezeigt.
Pila­tus betrachtete ihn eine Weile schweigend und sagte schließlich: „So haben sie dich dem Walten deines Schicksals überantwor­tet. Es scheint ein Geheimnis über dir zu sein. Zweifellos bist du von edler Abkunft. Du gefällst mir. Ich nehme dich mit. Willst du mir dienen? In römischem Schutz wirst du gesichert sein, selbst wenn deine Tat bekannt werden würde. Wenn du dich bewährst, kannst du zu hohen Ehren kommen.“ 

Etwas Besseres konnte Judas sich nicht wünschen. So kam er mit dem römischen Statthalter nach Jerusalem.

Sie nannten ihn Judas von Kariot, das hieß in ihrer Sprache Judas Iskariot. Da er sich zu allem vorzüglich befähigt zeigte und alles, was ihm aufgetragen wurde, gewissenhaft ausführte, stieg er bald zu wichtigen Ämtern auf und wurde schließlich des Pilatus Kämmerer und sein oberster Schatzmeister, dem alles Geld und die Verwaltung von allem Besitz anvertraut war.
Er wohnte im Palast, ging kostbar gekleidet, hatte seine eigenen Diener und fuhr in glänzendem Wagen mit schönen Pferden durch die Stadt, wo er als Günstling des Statthalters untertänig gegrüßt wurde.
Das alles behagte ihm sehr. Er liebte Macht und Glanz und war in seinem Herzen stolz und heftig wie früher, wend er auch gelernt hatte, sich äußerlich höflich und beherrscht zu betragen.

Der Palast des Pilatus war von herrlichen Gärten umgeben, und unmittelbar daran grenzten die Gärten des alten Fürsten Ruben. Da dieser seine Gärten sehr liebte und sich viel darin aufhielt, und auch Pilatus und Judas sich oft in den seinigen ergingen, lernten sie sich kennen.
Ruben wurde auch von Pilatus bei Festlichkeiten eingeladen, so daß der alte Fürst und Judas öfters miteinander sprachen, ohne zu ahnen, daß sie Vater und Sohn waren. Aber ohne zu wissen warum, hatten sie beide eine Scheu voreinander. Namentlich dem alten Fürsten Ruben war dieser Groß-Schatzmeister des Pilatus unheimlich, so daß er ihn möglichst mied. 

Mit der Zeit wünschte Pilatus, seine Gärten noch zu erwei­tern. Vor allem hätte er gern einen Obstgarten gehabt, welcher Ruben gehörte, und in welchem die kostbarsten und seltensten Fruchtbäume wuchsen.
Er beauftragte Judas, mit ihm zu ver­handeln, damit er ihn dem Statthalter verkaufe.
Judas suchte Ruben auf und wurde zu ihm in jenen Obstgarten geführt, wo er sich am Anblick der schönen Bäume mit der Fülle ihrer Früchte erfreute.
Judas brachte das Anliegen des Pilatus vor, aber Ruben wollte nichts davon wissen. Er sagte, daß er keinen Fuß breit von seinen Gärten hergebe, denn diese seien seine größte Freude. Judas stellte ihm vor, daß es der römische Statthalter, der Vertreter des Cäsar sei, welcher ihn darum angehe. Ruben aber blieb hartnäckig und erklärte, es sei ihm ganz gleich­gültig, wer da seinen Garten haben wolle.

Und nun ging es, wie es so oft zum Unglück zwischen Menschen geht. Sie wurden den beide heftig und begehrten auf, denn der alte Fürst Ruben war ebenso stolz und jäh, wie es Judas war, und haßte im ge­heimen die Römer, die Eindringlinge im Lande.
Ein Wort gab immer schärfer und böser das andere, bis plötzlich bei irgend­einer Äußerung des Fürsten Judas von seinem Jähzorn über­mannt wurde und mit seinem Schwert den Fürsten niederschlug. 

In diesem Augenblick eilte von der einen Seite Pilatus herbei, der den Streit von weitem gehört hatte und schlichten wollte. Von der anderen Seite kam die Fürstin, von einigen Frauen begleitet.
Als sie ihren Mann niederstürzen sah und Judas mit dem Schwert in der Hand erblickte, ging ihr vor Entsetzen der Atem aus. Sie wurde von den andern gestützt und rang müh­sam nach Luft. Dabei starrte sie unentwegt Judas an, denn er war das genaue Ebenbild seines Vaters, als dieser noch so jung gewesen wie Judas es jetzt war.

Aus dem Palast und den Gär­ten waren alle Leute zusammengelaufen. Darunter waren manche alte Diener, welche den Fürsten und seine Frau in jun­gen Jahren gekannt hatten und im Hause gewesen waren, als seinerzeit der kleine Sohn geboren worden war. Sie alle sahen die Ähnlichkeit von Judas mit dem alten Fürsten aus der Zeit seiner Jugend. Es war auch die Dienerin da, welche damals das Kind in seinem Körbchen ans Meer getragen und beobach­tet hatte, wie eine vornehme schöne Frau es mitnahm.
Nun gab es eine große Aufregung und viel Rufen, Fragen und Reden. Die Fürstin erzählte die Weissagung der ernsten Engelerschei­nung, und als Judas schließlich berichtete, wie er als Findling beim Königspaar von Kariot aufgewachsen war, konnte kein Zweifel mehr bestehen, daß er dieser damals geborene Sohn sei und daß er nun im Jähzorn seinen Vater erschlagen habe.
Da wurde es lautlos still unter all den Menschen. Sie wichen von ihm zurück und sagten leise: „Gott hat ihn gezeichnet. Er ist zu Schlimmem bestimmt.“
Und auch Pilatus wurde von ei­nem Grauen angerührt. Die Fürstin, des Judas Mutter, aber seufzte noch einmal auf und fiel tot in die Arme ihrer Diene­rinnen. 

Judas stand da, zerschlagen und vernichtet von seiner Tat.

Jetzt war es nicht wie damals, als er das kleine Königskind auf Kariot getötet hatte: daß er nur dachte, wie er sich dadurch ge­schadet hätte. Jetzt erfüllte ihn Jammer und Verzweiflung um des Furchtbaren willen, das er getan hatte, und das nicht hätte zu geschehen brauchen, wenn er sich in seinem Jähzorn gezügelt hätte!
Er schaute den Vater an, den er gemordet hatte und ne­ben den man nun die Mutter niederlegte, die aus Schrecken und Trauer gestorben war. Er schaute sich nach den Umherstehen­den um, aber alle wendeten sich ab vor seinem Blick. Da fiel ihm das Schwert aus der Hand, und es war ihm, als würde er fortgeschoben aus aller Gemeinschaft der Menschen.
Und er ging - willenlos und ohne zu wissen wohin - durch die Stadt und hinaus immer weiter und weiter, bis tief hinein in die Wüste, wo kein Mensch und kein Tier mehr war, kein Quell und kein Gras, nur Sand und Stein.
Da fiel er hin und wollte so liegen bleiben, bis er sterbe.

In der Nacht aber erschien ihm der ernste Engel, welcher seinem Vater erschienen war, und sprach zu ihm:
„Steh auf, Judas, denn dein Leben ist noch nicht erfüllt! Zwei Prüfungen deines Schicksals hast du nicht bestanden. Die dritte, größte, wartet noch auf dich. Geh hin und suche Jesus Christ, den Sohn Gottvaters, der als Mensch auf die Erde kam, um die Menschen und die Erde aus der Gewalt des Bösen zu erretten. Er wird dich aufnehmen, wo kein anderer Mensch dich mehr aufnehmen würde nach deinen furchtbaren Taten.“
Dann ver­schwand der Engel.

Am Morgen machte sich Judas auf.
In einem kleinen Flecken tauschte er seine schönen Kleider gegen einen Kittel um, wie ihn die Bauern trugen und wanderte weiter, um Jesus Christ zu suchen.
Wenn ihn hungerte, bettelte er an den Türen um ein Stückchen Brot, und überall fragte er nach Jesus Christ.
Und überall hörte er von seinen Taten, seinen Heilungen, seinen starken, liebeswarmen Worten. Die Menschen leuchteten, wenn sie von ihm sprachen.
Judas begegnete auch solchen, die sich in Not und Unglück nicht mehr zu helfen gewußt und solchen, die eine böse Tat begangen hatten und nun von ihr in Reue und Ge­wissensnot gequält wurden.
Allen hatte er geholfen, hatte er die Herzen gestärkt und sie getröstet, daß sie sich wie neu erschaffen vorkamen.

Judas wurde von großer Sehnsucht nach Jesus Christ erfüllt, als er dies alles hörte. Aber er mußte lange wandern, ohne ihn zu finden. Denn Jesus Christ zog mit seinen Jüngern überall im Lande herum.
Wo Judas ihm nachfragte, wies man ihm den Weg, den Jesus Christ gegangen war, aber niemals konnte er ihn einholen. Wohin er kam, war Jesus Christ gerade wieder weitergezogen.
Fast wäre Judas mutlos geworden. Er dachte, daß es ihm, der so Furchtbares getan hatte, vielleicht nicht gegönnt sei, Jesus Christ zu begegnen. Aber er wanderte dann doch immer wieder neu seinen Spuren nach. 

Und eines Tages, als er müde und hungrig halb im Traum eine heiße staubige Straße hinschlich, wurde ihm wunderlich zumute.
Es schien ihm, als sei er nicht mehr allein, sondern als gingen Viele mit ihm.
Er fühlte auch seine Müdigkeit und seinen Hunger nicht mehr. Die drückende Hitze wich einer wunderbaren erfrischenden Milde. Es duftete nach Blumen und es war ihm zuletzt, als werde er ganz leicht über den Boden hinweggetragen.
Als er schließlich seinen herabgesunkenen Kopf hob und sich umschaute, sah er unzählige leuchtende Wesen, die mit ihm in gleicher Richtung über die Erde und durch die Luft hinzogen. Das waren die Engel und Geister, welche sich über­all um Jesus Christ scharten.

Da bog auch der Weg schon um eine Ecke und vor ihm in der Tiefe lag blauleuchtend der See Genezareth mit seinen schimmernden Ufern.
Dicht vor ihm aber auf einer weiten grünen Matte saßen und lagen viele, viele Menschen, wohl ein paar tausend, und zwischen ihnen gingen einzelne Männer herum und teilten Brot und Stücke von ge­bratenem Fisch aus.
In der Mitte aber, über einem kleinen Hügel, welcher ganz von Blumen überwuchert und überrankt war, schaute Judas einen goldenen Glanz, vom Regenbogen ge­säumt. Darin saß Jesus mit einem ganz kleinen Körblein vor sich, aus dem er wieder und wieder Brot und Fisch hervorlangte und weitergab an die austeilenden Jünger.
Und ringsherum waren Himmel und Erde erfüllt von unzähligen Engeln und Geistern, welche alle Jesus Christ zuschauten. 

Judas stand wie verzaubert und sah unverwandt zu Jesus Christ hinüber, so daß er gar nicht merkte, daß auch ihm einer der Männer Brot und Fisch anbot.

In diesem Augenblick gab Jesus Christ das Körblein einem Knaben zurück, der neben ihm stand.
Das goldene Licht, die Engel und Geister verschwanden vor dem Auge des Judas, auch die vielen Menschen sah er nicht mehr.
Er lag plötzlich vor Jesus Christ auf den Knien und weinte und weinte, als ob er sich seine ganze Seele ausweinen wollte.
Er konnte nicht sprechen, aber er fühlte, daß Jesus Christ alles von ihm wußte.
Es war ihm auch, als spreche Jesus Christ ganz leise zu ihm, und die Worte zogen wie ein süßes seliges Glück in sein Herz und stillten da eine furchtbare Angst, die plötzlich wie eine Finsternis in ihm aufstieg, aber er konnte sich nachher nicht mehr darauf besinnen, was Jesus Christ gesagt hatte.
So durfte er nun dableiben und Jesus Christ zählte ihn als zwölften seinen Aposteln zu und hieß ihn, das Geld zu verwalten, wel­ches ihnen von dankbaren Menschen zu ihrem Unterhalt ge­schenkt wurde. 

Judas liebte Jesus Christ mit glühender, fast übermäßiger Liebe.
Er war glücklich, wenn er ihm nahe sein durfte, und wenn er ihm einen Dienst tun konnte, war ihm kein Weg zu weit, keine Mühe zu groß. Er horchte auf jedes seiner Worte und bewahrte es in sich. Wohin er kam, redete er begeistert zu den Menschen von Jesus Christ, dem Erlöser und Heiland, und es machte ihn unglücklich, wenn sie über Jesus Christ lachten und spotteten oder gar ihn schmähten und beschimpften.

Jesus Christ hatte viele Feinde unter den Mächtigen, Herr­schenden im Lande, den obersten Priestern, den Gelehrten, den Reichen. Denn er tadelte sie offen vor allem Volk wegen ihrer Härte und Herrschsucht, wegen ihres Hartmutes, ihrer Geld­gier.
Sie waren nur auf ihren eigenen Vorteil und auf ihre Macht und Gewalt bedacht, und es stachelte sie, daß überall das Volk Jesus Christ zuströmte, daß er gerade denen half, welche sie verachteten und nach ihrem Willen beherrschen wollten: den Armen, den Sündern, den Bresthaften und Leidbeladenen, zu denen er sagte: „Kommt her zu mir ihr alle mit eurem Leid und eurer Mühsal, ich will euch stärken.“
Sie klagten ihn an wegen seiner Heilungen und sagten, der Teufel helfe ihm dabei. Vor allem aber tobten sie, weil er von sich sagte, daß er der Sohn Gottvaters sei, dessen Kommen von alters her verheißen war.
Das wollten sie nun gar nicht wahrhaben, denn sonst hätten sie ihn ja verehren und seine Worte annehmen müssen. Das aber paßte ihnen nicht. So sagten sie, der verheißene Erlöser, der Sohn Gottvaters, werde mit Glanz und Herrlichkeit kommen, nicht als ärmlicher Landstreicher. Sie nannten Jesus Christ des­halb einen Gotteslästerer und beschlossen, ihn umzubringen.

Aber es war ein Geheimnis um Jesus Christ.
Wenn er so in der Mitte seiner Jünger und vor allem seiner zwölf Apostel, welche ihm die nächsten und liebsten waren, dahinzog oder in den verschiedenen Ortschaften und Städten inmitten des Volkes sprach und heilte, dann konnten seine Feinde nicht an ihn her­an, wenn sie ihn greifen wollten.
Sie fanden ihn nicht. Die Liebe und Treue der Apostel umgab ihn wie ein unsichtbarer Schutzwall, durch den der Haß und die Feindschaft nicht durch­dringen konnten.
Unter den Gegnern und Verfolgern von Jesus Christ waren aber sehr kluge Männer von bösem Herzen und voll List und Tücke. Die erspürten dies Geheimnis und sagten sich, daß sie Jesus Christ nur in ihre Gewalt bringen würden, wenn sie einen der Apostel für sich gewinnen könnten, so daß er in sei­nem Herzen Jesus Christ die Treue bräche. Dann würde der Schutzwall der Liebe um ihn her eine Lücke bekommen, durch die ihre böse Gewalt einbrechen konnte. 

So kam es ihnen nun darauf an; einen der Apostel in ihre Ränke einzuspinnen. Sie kannten aber von ihnen nur den Judas, welcher häufig zu ih­nen kam.
Mit Judas war es nämlich allmählich so gegangen: trotz seiner heißen Liebe für Jesus Christ, trotz seinem lodern­den Eifer für ihn, konnte er äußeren Glanz, äußere Macht nicht vergessen.
Es wurmte ihn, daß Jesus Christ gerade von den Vor­nehmen, den Großen und Mächtigen im Lande nicht anerkannt wurde, und er dachte im stillen, warum Jesus Christ sich nicht vor aller Welt in seiner himmlischen Macht und Glorie offen­bare, von der Judas an jenem ersten Abend ein wenig hatte schauen dürfen.
Es ging ihm oft durch den Sinn, was die ober­sten Priester von dem königlichen Glanz des erwarteten Hei­lands sagten. Warum trat Jesus Christ nicht auf als der, wel­cher er war: der König über alles? Dann würde niemand mehr an ihm zweifeln können. Und würde ihm das nicht besser anstehen, als so mit den Armen und Elenden herumzuziehen, selber arm und dürftig? 

Im Grun­de wartete Judas immer darauf, daß Jesus Christ sich eines Tages so, umgeben von allen Engelscharen, zeigen, und als Kö­nig auf der Erde herrschen werde. Er malte sich das manchmal aus, wie wunderbar dann das Leben sein werde. Ja, er begann heimlich Geld zu sammeln, um dann - wenn es soweit war - schöne Kleider, Pferde und sonst alles nötige kaufen zu können.
Weil er in solche Träume verstrickt war, suchte er überall, be­sonders aber in Jerusalem, die Vornehmen und die obersten Priester auf, um sie für Jesus Christ zu gewinnen.
Ach, Judas merkte nicht, daß ihn der Hochmutteufel wieder im Garn hatte. Denn der Teufel bemüht sich nie so sehr um einen Menschen, als wenn er sich zum Guten, zu Jesus Christ wendet. Dann versucht der Teufel alles, ihn wieder für sich zu gewinnen. Er schlüpft richtig in ihn hinein und benützt alle seine Schwächen, um ihn zu täuschen. Wenn der Mensch dann nicht auf sich selber acht gibt, kann es dem Teufel wohl gelingen, ihn dorthin zu lenken, wohin er ihn haben wollte. 

Judas hatte es unzählige Male von Jesus Christ gehört, daß sein Reich das ewige Lebensreich des Himmels ist, aus dem die Menschen herstammen, in dem sie dereinst mit Jesus Christ le­ben werden, wenn sie alles auf Erden gelernt haben werden, was sie lernen müssen, und wenn sie die Erde wieder so rein und himmlisch gemacht haben werden, wie sie war, ehe der Teufel Macht über die Herzen der Menschen bekam.
Jesus Christ ist nicht gekommen, uns ein Erdenkönigreich zu errichten, sondern um die Menschen auf der Erde an das Reich des Himmels zu erinnern, um das sie sich nicht mehr kümmern!
In ihren Herzen sollen die Menschen Jesus Christ finden und erkennen, nicht weil er ihnen in äußerem Glanz entgegentritt. Jesus Christ sagt: es kommt nicht darauf an, ob man ein König ist oder der ärmste geringste Arbeiter; es kommt darauf an, ob man ein guter Mensch ist, ob man ein guter König, ein treuer Arbeiter ist.
Das alles hatte Judas von Jesus Christ vernommen. Aber er hatte nicht achtgegeben auf seinen Stolz, seine Ehrsucht.
So wirkte nun der Teufel in ihm und blies ihm all seine Träume ein: wie Jesus Christ König der Menschen sein sollte! Und er, Judas, würde dann ein Großer sein in seinem Dienst. 

Und weil er so verblendet war in all diesen hochfliegenden Gedanken, merkte er es nicht, daß die Feinde von Jesus Christ, um die er sich bemühte, ihn schlau aushorchten, ihn durchschau­ten und ihn nun für ihren Zweck benützten, um Jesus Christ zu verderben.
Sie redeten ihm vor, daß es lauter Mißverständnis sei, wenn man glaube, daß sie Jesus Christ haßten.
Sie taten, als geschähe ihnen Unrecht damit. Sie behaupteten, Jesus Christ sehr zu ver­ehren und sagten, daß sie sich gern mit ihm bereden wollten, wie man die Römer aus dem Lande vertreiben könnte, damit Jesus Christ, den das Volk doch vor allen liebe, König werden könnte. - Dann sollte Judas oberster Feldherr werden.
Das klang ihm süß in den Ohren. Vergessen war alles, was er von Jesus Christ über diese Gewalthaber vernommen hatte. Vergessen waren die Klagen der Armen über ihre aussaugende Härte. Er hätte ja nur ihre kalten Gesichter, ihre lauernden Augen anschauen müssen, um ihre Tücke und Falschheit zu er­kennen. Aber der Teufel hielt ihm die Augen zu.
So ging er ihnen in die schlau gestellte Falle und brach in seinem Herzen Jesus Christus die Treue - und er merkte es nicht einmal.

Sie schlugen ihm nun vor, daß sie ihm eine Schar Soldaten geben wollten, mit der er, von einigen Vornehmen begleitet, zu Jesus geben sollte, damit sie ihn feierlich in den Palast des obersten Priesters holen sollten. Dort sollte dann alles beredet werden, wie man Jesus Christ zum König machen könne.
Sie schenkten Judas einen kostbaren Beutel mit 30 großen Silber­münzen, von denen jede einzelne einen unermeßlichen Wert hatte. Das sollte er schon im voraus haben für alle Dienste, wel­che er Jesus Christ und ihnen noch leisten würde.

Und Judas glaubte ihnen!

Den Aposteln und den anderen Jüngern gegenüber schwieg er über dies alles.
Er war so verfan­gen in all seinen trügerischen Gedanken, daß er es gar nicht merkte, wie Jesus Christ ihn immer traurig und mitleidig ansah, wenn er in seiner Nähe war.
Jesus Christ wußte ja, wie es um Judas stand und was ge­schehen würde. Aber Jesus Christ greift nie in das Tun und Las­sen eines Menschen ein. Er läßt den Menschen immer sich frei entscheiden. Er hat in das Herz des Menschen die Kraft ge­legt, das Wahre und Richtige zu erkennen, wenn er sich inner­lich zu Jesus Christ wendet und sich überwindet.
Aber Judas öffnete sein Herz nicht mehr für Jesus Christ. Er fand nicht mehr heraus aus seiner Verstrickung und dachte, ihm im Sinn von irdischer Größe und Glanz richtig zu dienen. 

So ging alles seinen Weg.

Eines Abends, als Jesus Christ mit den elf Aposteln auf dem Ölberg im Garten Gethsemane war, zog Judas an der Spitze einer prunkend aufgemachten Hä­scherschar mit Fackelträgern, von ein paar der Priester beglei­tet, dorthin, um - wie er wähnte - Jesus Christ huldigend einzuholen.
Sie fanden Jesus Christ auch wirklich mit seinen Aposteln im Ölgarten, und als Judas ihn sah, eilte er voller Freude auf ihn zu und küßte ihn.
Jesus Christ aber sah ihn an und sagte leise: „Judas, mit diesem Kuß hast du dein Bestes verraten.“ –

Nun stürzten sich die verkleideten Häscher auf Jesus Christ, banden ihm die Hände, verjagten die Apostel und trieben Jesus Christ mit Schlägen vor sich her und davon.
Das war alles so schnell gegangen, daß Judas erst begriff, was da geschehen war, als die Häscher mit Jesus Christ schon den Gar­ten wieder verlassen hatten.
Plötzlich überkam ihn innere Klar­heit und er sah seine Verblendung bin, sah, was er angerichtet hatte und wußte, daß Jesus Christ getötet werden würde. 

Wieder - wie bei der Tötung des kleinen Königskindes und seines Vaters - erkannte er die begangene Tat, als es zu spät war.
Wie ein Rasender rannte er nun nach dem Palast des obersten Priesters, wo alle Feinde von Jesus Christ versammelt waren, um auf ihn zu warten.
Judas wollte mit ihnen reden, aber sie lachten ihn aus, verspotteten ihn, daß er ihnen so gut gedient hatte und zeigten auf den herannahenden Häscherhaufen, wie er Jesus Christ unter Hohn und Schlägen herbeischleppte.
Da überkam Judas eine solche Verzweiflung, daß er in die Nacht hinausstürzte.
Draußen riß er den Gürtel von seinem Kleid her­unter und erhängte sich damit an dem Ast eines Baumes; denn er hatte ein solches Grauen vor sich selbst, daß er nicht mehr leben wollte. 

Als nach dem Sterben seine Seele aus der Bewußtlosigkeit des Todes wieder zu sich kam, stand der Teufel vor ihm, lachte; und sagte: „Jetzt gehörst du mir.“

Da aber trat der ernste Engel herzu und sprach: „Nein! Jesus Christ schickt mich, damit du ihn nicht an dich reißest. Wohl hat er Übel getan und Jesus Christ an seine Feinde ausgeliefert, so daß sie ihn töten. Aber gerade durch seinen Tod, von dem er auferstehen wird, geschieht der Erde und den Menschen Heil. Judas hat dem Bösen gedient. Aber Jesus Christ wendet es zum Guten für alle Ewig­keit. Judas war verblendet, aber er hat Jesus Christ doch geliebt. Er wird viele Leiden zu erdulden haben um seiner Tat willen, aber er wird Jesus Christ immer lieben und suchen, und er wird ihn finden. Jesus Christ hat Gnade für alle.“

Da mußte der Teufel von Judas ablassen. Der ernste Engel aber nahm Judas in seine Hut und führt ihn alle Wege, die er weiter gehen muß.