Weihnacht 1944

aus: Adelheid Petersen: Christus-Märchen. Rose Verlag, 1963.


Als ich einmal tief um Mitternacht wachte und über vieles nachsann, saß plötzlich ein großer, wunderbarer Schmetterling auf meiner Hand.

Ich weiß nicht, woher er kam und wie er so auf einmal da war. Seine dunklen samtenen Flügel waren weit ausgebreitet und erschienen mit silbernen Sternen übersät, daß es wie ein ganzer Himmel war und ringsherum ein zartes Licht leuchtete. Er bewegte seine Flügel sacht auf und ab und hob sein Köpfchen mit den Fühlern mir entgegen, als ob er mir etwas sagen wollte.
Und wie ich ihn anstaunte und mich gar nicht satt an ihm sehen konnte, geschah das Wunderbare, daß seine Flügel wie ein Buch wurden und die Sterne darauf eine Schrift, die ich lesen konnte. 

Und ich las die Geschichte, die ich nun erzählen will: von einem armen Soldaten, der in diesen Tagen einmal nachts ganz allein weit weit draußen auf einem kahlen Hügel saß. Den ganzen Tag über war eine große Schlacht gewesen. Viele tausend Soldaten hatten aufeinander geschossen. Die Ka­nonen hatten gedonnert. Die Panzer waren dahergerast und hatten Feuer gespien, daß alles auf ihrem Weg verbrannte. Die Flieger hatten ihre Bombenlasten abgeworfen, und es war ein Getümmel und Getöse gewesen, daß die Erde gebebt und in der Luft ein heulender Sturm sich entfacht hatte.
Jetzt war es zu Ende. Alle, die noch lebten, schliefen in tiefer Müdigkeit. Die Dörfer ringsum brannten aus, und auf dem wei­ten Gelände, wo die Schlacht gewesen war, lagen die unzähli­gen Gefallenen in der Stille.
Der einsame Soldat aber auf seinem Hügel mußte Wacht hal­ten und aufpassen, ob irgend etwas sich regte oder der Feind etwas unternähme.
So saß er und wehrte sich gegen das Ein­schlafen, denn auch er war todmüde.
Am Himmel standen die Sterne. Das war ihm so tröstlich nach allen Schrecken des Ta­ges. Er schaute zu ihnen hinauf, wie sie still und schön im tiefen Nachtblau leuchteten. 

Und wie er so hingegeben schaute, fiel ihm ein, daß ja Weihnacht sei, und er erschrak darüber, daß er das so ganz hatte vergessen können. Aber wie wäre es auch anders möglich gewesen bei dem schrecklichen Kriegsleben, das er führen mußte.
Jetzt erinnerte er sich mit einem Male an all die vielen schönen Weihnachtsfeste, die er als Kind und auch noch später, als er groß war, mit seinen Eltern und seinen Brü­dern gefeiert hatte.
Er sah das Weihnachtszimmer vor sich mit dem großen Lichterbaum und der Krippe darunter, in der das Christkind seine Arme ausbreitete. Er besann sich auf die Ge­dichte, die er gelernt und aufgesagt, auf die Weihnachtslieder, die sie miteinander gesungen hatten; auf alle Geschichten, die ihnen über das Christkind erzählt worden waren.
Es war ihm, als ob er das Glockengeläut vom Turm seiner Heimatstadt hörte, und immer mehr Erinnerungen kamen ihm aus seiner Kinderzeit: an alle Plätze im Garten, im Wald, auf den Wiesen, wo er mit den Brüdern und den Kameraden gespielt hatte; an die Schulwege, an die schönen Jahre, wo er immer größer und verständiger geworden war, viel gelernt und viel gelesen hatte, wo soviel Sonnenschein gewesen war. –
Und jetzt? Seine Brü­der und seine Kameraden waren gefallen. Seine Heimat war von den Fliegern verbrannt und zerstört. Seine Eltern hatten kein Haus, kein Hab und Gut mehr, sondern mußten in einem kalten Kämmerlein bei fremden Leuten wohnen, die nicht gut zu ihnen waren. Bei diesem Gedanken wurde dem Soldaten das Herz so schwer, daß ihm die Tränen kamen und der Kopf ihm auf die Brust fiel. 

Nun sah er die Sterne nicht mehr. Aber dafür war es ihm, als könne er über die ganze Erde hinschauen, und wohin er auch schaute: überall war Verwüstung und Jammer und Not.
Er sah die schönen Städte und Dörfer als rauchende Trümmerhaufen, unter denen viele Tote begraben waren. Die Menschen standen weinend davor und mußten dann fortwandern ins Ungewisse, arm und heimatlos.
Er sah das fruchtbare Land zerstampft und zermahlen, die Wälder und Obstbäume verbrannt, die Gärten verdorben, die Tiere verscheucht oder getötet. Er sah die Schlachtfelder. Er sah die Lazarette, wo die Verwundeten in ihren Schmerzen lagen. Er sah die Menschen zugrunde gehen in Kälte, Hunger und Kummer, und das Herz war ihm ganz zerrissen vor Traurigkeit. 

„Wie kann das nur sein, daß Men­schen das alles einander antun?“ dachte er. „Wie kann das nur sein, daß so viel Böses geschieht? Haben wir nicht immer Weih­nacht gefeiert, weil Jesus Christ geboren worden ist? Und heißt es nicht, daß er uns von der Macht des Bösen erlöst habe, daß er aus dem Tode auferstanden sei, um der Erde das Heil zu bringen -, den Frieden? So haben ja auch die Engel in der Weihnacht gesungen: Friede auf Erden und Heil für die Men­schen! Aber wo ist denn davon etwas zu merken? Noch nie ist so Fürchterliches gewesen wie dieser Krieg. Noch nie haben die Menschen so gegeneinander gewütet. Und Jesus Christ läßt es geschehen! Warum hilft er nicht, wenn er da ist? Aber vielleicht ist er überhaupt nicht da? Vielleicht ist alles gar nicht wahr, was von ihm erzählt wird, und nur so ausgedacht? Wer glaubt denn überhaupt noch an ihn? K a n n man denn noch an ihn glauben, wo das Leben nur noch eine Hölle ist? Ach, nie mehr werden wir Weihnacht feiern!“
So trostlos war der arme Soldat, daß er ganz wild hinaus­rief: „Ach, die ganze Welt ist des Teufels!“ 

Und als er das gerufen hatte, da s a h er den Teufel.
Der war aber nicht so, wie er ihn manchmal auf Bildern gesehen hatte: wie ein Tier mit Hörnern, Schwanz und Klauen. Er stand über­groß und mächtig da, wie ein Ritter in schwarzem Harnisch, mit einem weiten schwarzen Mantel, der ihn wie Fledermausflügel umflog. Er hatte ein düsteres Gesicht und seine Augen glühten im Dunkel.
„Du hast recht“, sagte er zu dem Soldaten, der auf einmal vor Kälte zitterte. „Du hast recht. Die Welt gehört mir.“
Er wehte dem Soldaten mit seinem Mantel über das Gesicht und dieser sah plötzlich ein Gewimmel unzähliger schwarzer Wesen, die aus dem Boden herausquollen und überall herum­huschten und liefen.
Sie wanden sich den Menschen um die Füße, sie krallten sich an ihre Hände, kletterten an ihnen hinauf und zischten ihnen in die Ohren. Der Teufel aber schwang seinen Mantel umher, daß Finsternis über den Menschen war, aus der sie sich nicht mehr herausfanden. Aber sie ahnten nichts vom Teufel und seinen schwarzen Dienern.
„Nun siehst du es“, rief der Teufel. „Ich habe die Macht über die Erde und die Menschen. Auch über dich!“

„Nein“, sagte eine Stimme dicht neben dem Soldaten.
Der sah sich betroffen um. Es saß jemand an seiner Seite. Eine Ge­stalt, die hell durch die Nacht schimmerte. Ein Mensch, der ihn anschaute.
Und dem Soldaten war es unter seinem Blick, ab säße er mitten im warmen Sonnenschein.
„Wer bist du?“ fragte er.
„Ich bin gekommen, um Weihnacht mit dir zu feiern, damit du nicht mehr so traurig sein sollst.“
„Weihnacht feiern!“ sagte der Soldat. „Hier, wo der Teufel los ist, das soll möglich sein?“
„Gewiß“, sagte der neue Gefährte und nahm die kalten Hän­de des Soldaten in seine warmen Hände.
Da ging eine große Freude im Herzen des Soldaten auf, wie er sie als Kind gehabt hatte, wenn die Türe des Weihnachts­zimmers geöffnet worden war und der Christbaum mit seinen Lichtern vor ihm leuchtete.
„Wer bist du?“ fragte er noch einmal. „Ich meine immer, daß ich dich kenne. Aber doch kann ich mich nicht darauf besinnen.“
„Du kennst mich auch“, sagte der Gefährte, „und du wirst mich auch wieder erkennen. Deine Augen sind dir nur krank und verdorben von allem, was du erlebt und gesehen hast, so daß du nur noch das Dunkle sehen kannst. Und so wie dir geht es fast allen anderen Menschen auch. Aber ich zeige dir das Licht der Welt in der Finsternis zur Weihnachtsfeier. Schau nur um dich!“
Dem Soldaten war es, als höbe sich der Hügel, auf dem sie saßen, in die Höhe und er fühlte sich wie von Flügeln getragen, aller Schwere und Enge frei. Am Himmel sah er wieder unver­wölkt die Sterne leuchten.
Unter ihm lag die Erde mit ihren Schlachtfeldern und Trümmerstätten, mit der Gebietergestalt des Teufels und dem Umtrieb seiner bösen Helfer. 

„Schau“, mahnte der Gefährte noch einmal.
Da wich am Himmel das tiefe Nachtblau auseinander und ein Licht erschien, wie eine Rosenknospe von ganz zartem rötlichem Glanz. Aber es wuchs und dehnte sich, wurde golden und die Rose erschloß sich. Aus der Mitte dieser Lichtrose aber quoll ein solcher Glanz hervor, daß der Soldat ihn nicht ertrug, son­dern geblendet die Augen abwenden mußte, herunter auf die Erde.
Aber was gewahrte er da?
Er konnte durch die Erde hindurch in ihr Inneres hineinschauen, und er sah unter der Oberfläche die finsteren Höhlen und Schlünde, aus denen die schwarzen We­sen herauskamen und in die sie die Menschen hineinzuzerren versuchten.
Aber je tiefer er hinunterschaute, je heller wurde es. Und im allerinnersten Grunde der Erde sah er die gleiche Licht­rose leuchten, wie droben in der Himmelshöhe.
Doch hier blen­dete sie ihn nicht, sondern er konnte immer tiefer in ihren Glanz hineinschauen und erkannte, daß all dieser Glanz unzählige Engel waren, größere und kleinere, und alle schauten nach der Mitte hin, deren Licht am Himmel den Soldaten geblendet hatte.
Nun aber durchdrang es sein Blick, und er sah mitten darin das Christkind liegen, wie er es daheim im Kripplein un­ter dem Weihnachtsbaum hatte liegen sehen. Und auch hier hob sich der Weihnachtsbaum über der Krippe empor, hoch und höher, daß man seine Spitze nicht sehen konnte, und seine Aste zeigten kein Ende, sondern breiteten sich über den ganzen Him­mel.
Die Sterne waren die Lichter daran und silberne Fäden woben sich von einem zum andern hin und her. Die Engel aber sangen von der Herrlichkeit Gottes und dem Frieden der Erde und dem Heil, das die Menschen empfingen. Und alles war so schön, daß man es nicht beschreiben kann. 

Den Soldaten aber überkam gerade im Anschauen all der Herrlichkeit und bei dem Engelsgesang der ganze Jammer, der unter den Menschen herrscht, so daß er in bittere Tränen aus­brach und rief:
„Wie soll ich das verstehen, daß die Engel in solcher Glorie Weihnacht feiern und von Friede und Freude singen, wo wir im Elend des Krieges zugrunde gehen und der Böse auf der Erde herrscht! Das ist grausam und du hättest mir das lieber gar nicht zeigen sollen.“
„Du hast noch nicht alles gesehen“, sagte sein Gefährte. „Laß mich deine Tränen trocknen und dann schau weiter.“
Der Soldat fühlte eine kühlende sanfte Hand auf seinen Augen, die ihm den Brand seiner Tränen fortnahm.
„Schau“, sagte der Gefährte nochmals, „damit du die Wirk­lichkeit siehst.“
Da entdeckte der Soldat auf einmal, daß über­all aus der Dunkelheit, die über der Erde lag, unablässig un­zählige Sternlein aufgingen, und er wunderte sich, daß er sie vorher nicht gesehen hatte.
„Deine Augen waren nicht aufgetan dafür“, sagte der Ge­fährte.

Und weiter sah der Soldat, daß aus der himmlischen Glorie um das Christkind her ein ununterbrochenes Wandeln vieler Engel war über die silbernen Sternfäden des großen Weltweih­nachtsbaumes herunter auf die Erde und ebenso viele zogen wie­der aufwärts zum Himmel.
Es war ein wogendes Hinauf und Hinab. Unten sah er die Engel Gottes weithin über die Erde wandeln und überall die Sternlein aus dem Dunkel in ihren weißleuchtenden Gewändern sammeln, wie man Blumen pflückt oder Apfel liest.
Wenn sie genug gesammelt hatten, trugen sie sie zum Himmel hinauf, und andere Engel kamen, um weiter zu sammeln, denn die Sternlein wuchsen immer wieder nach. über­all wo die Engel wandelten, leuchteten ihre Fußspuren golden am Boden.
Sie kümmerten sich nicht um den Teufel und seine schwarzen Diener, als wären sie gar nicht da.
Die aber wichen vor ihnen zurück, denn das Licht der Engel lähmte und ver­tilgte sie. 

„Was ist das alles?“, fragte der Soldat. woher kommen alle diese Sternlein? Ich sehe sie überall aus den Häuptern, den Herzen, den Händen und Füßen der Menschen hervorgehen, und nur bei wenigen ist es ganz finster und die Schwarzen, Bö­sen halten sie ganz umkrallt. Sage mir bitte, was das bedeutet.“
„Das will ich gern tun, da du mich darum fragst“, antwortete der Gefährte. „Was du da als Sterne aus den Menschen aufgehen siehst, das ist alles, was sie Gutes, Liebes, Rechtes denken und tun. Die Sterne leuchten aus den Häuptern auf, wenn die Men­schen gute, richtige Gedanken haben; aus den Herzen, wenn sie wahrhaftig und liebevoll sind, aus den Händen, wenn sie gern ihre Arbeit tun; aus den Füßen, wenn sie auf rechten We­gen gehen.
Du siehst, sie sind unterschiedlich, größer und klei­ner, stärker oder bescheidener in ihrem Licht, je nachdem die Menschen geartet sind. Aber sieh die vielen Kleinsten, die am allerhellsten und lustigsten funkeln, das sind die Sternlein der frohen, friedsamen Kinder.
Und sieh: jedes von ihnen hat noch seinen ganz besonderen goldenen Schein um sich her, wie ein Mäntelchen, das ihn schützend umhüllt. Das ist die Liebe der Eltern und die Freude, die sie an ihren Kindern haben. Und die Engel lächeln, wenn sie diese Sternlein sammeln.“ 

„Aber da sind viele Sterne, fast die meisten, die ganz schwach und trüb sind und immer flackern, als ob sie auslöschen wollten. Und viele löschen auch wieder aus, was ist mit denen?“
„Ach“, antwortete der Gefährte traurig, „weißt du, in ihrer innersten Seele sind die Menschen gut und liebevoll, denn sie kommen ja aus dem Himmel herab auf die Erde, um hier viel zu lernen und immer mehr aus freien Stücken das Gute zu er­kennen und zu tun. Und sie steigen wieder zum Himmel hin­auf, wenn ein Erdenleben zu Ende ist. Aber jetzt gerade ist es so, daß die Menschen nichts mehr vom Himmel wissen wollen, wenn sie auf der Erde sind. Sie glauben nur noch an die Dinge der Erde. Sie glauben nicht mehr an ihre eigene himmlische Seele und wollen nur alles hier von der Erde haben. Das war früher anders und wird auch wieder anders werden.
Aber jetzt eben ist es so, und dadurch hat die finstere Welt große Macht über sie, wie nie vorher. Und wenn sich nun das Herz der Men­schen regt in seiner wahren Wärme, dann vergiften es die Schwarzen, Bösen mit selbstsüchtigen, unguten Gedanken, mit Lüge und Kälte und Neid - und die Sternlein bleiben schwach und trüb oder löschen wieder aus.“ 

„Was für Licht kommt denn überall aus den Trümmern der Städte hervor?“, fragte der Soldat. „Schau, wie herrlich das ist! Es wölbt sich als Regenbogen über den Himmel hin. Es steigt wie goldene Springbrunnen hoch empor und breitet sich aus, und ich meine immer, viele Bilder und Gestalten darin zu sehen. Aber das alles wandelt und wechselt zu schnell. Sage mir doch, was ist das?“
„Ja“, antwortete der Gefährte, „die Städte liegen in Schutt und Asche, und Unzähliges ist zerstört und verschwunden: die alten Dome und Kirchen, die mit so viel Frömmigkeit erbaut worden sind, - Schlösser, Burgen und Paläste, Häuser, in de­nen die Menschen gelebt und gearbeitet haben, - alles was ihr besessen habt, die Dinge, die Geräte, die vielen Kostbarkeiten und großen, Werke, welche durch die Jahrhunderte hin er­dacht, geschaffen und bewahrt worden sind, - alles ist euch genommen und ihr müßt darum trauern. Aber die Seele des Menschen fließt hinein in alles, was der Mensch ersinnt, erbaut und schafft, und lebt heimlich und verzaubert darin. Wenn nun das Äußere zerfällt, dann werden alle Gedanken und Gefühle und Kräfte, die der Mensch auf seine Werke gewendet hat, wieder frei, und du siehst ja, wohin sie gehen.“ 

Der Soldat saß eine Weile ganz versunken und nachdenklich da und schaute auf alles Wunderbare vor ihm, auf das Wandeln der Engel, wie sie die Sternlein der Menschen sammelten, auf, das Himmelsbild des Christkindes in seiner Lichtrose tief im Erdengrunde, und auf die Massen der Finsternis, wie sie immer heranwogten, gegen das Licht.
Endlich sagte er: „Wenn die Seele der Menschen in allem ist, was sie tun und schaffen, ist sie dann auch in all dem fürchterlichen Werkzeug des Krieges - in den Flugzeugen mit ihren Bomben, den Pan­zern und Geschützen und all dem andern, mit dem gemordet und verwüstet wird?“
Der Gefährte seufzte.
„Nein“, antwortete er und seine Stimme klang sehr traurig, „nein, der Krieg mit all seinem Elend und all seinen schlimmen Dingen kommt nicht aus der Seele der Menschen selber, aber aus dem Bösen, dem sie Eingang in ihre Seele gegeben haben. Nun flüstert der Teufel ihnen alles ein, durch das sie sich un­glücklich machen. Er wendet ihre Klugheit und ihren erfinderi­schen Geist so, daß sie all diese furchtbaren Werkzeuge des Tö­tens und Vernichtens ersinnen und herstellen und stolz darauf sind. Er will den Menschen ihre himmlische Seele aussaugen, um dadurch für sich die Macht zu gewinnen. Eine große Zahl von Menschen denkt heute nur noch die Gedanken des Teufels und ist ihm dienstbar, ohne zu wissen. Du siehst die ganz stern­los dunklen Menschen, das sind die, welche um ihrer Macht willen den Krieg wollen und lenken. Der Teufel aber trium­phiert heute und glaubt sich seines Sieges sicher.“ 

Da schrie der Soldat ganz verzweifelt:
„Wo ist denn Jesus Christus, daß er uns nicht beisteht in die­ser größten Not! Was hilft es uns denn, daß die Engel noch ein bißchen Licht aus unserer Seele sammeln und es in ihre Hellig­keit hinauftragen? Bald werden wir vor lauter Elend ganz in die Gewalt des Bösen geraten, daß es nur noch finster in uns ist! Was hilft es uns denn, daß einmal das Christkind geboren wurde und nun bei den Engeln in seiner Glorie leuchtet, wenn wir zugrunde gehen, weil Jesus Christ nicht da ist!“

„Er ist da!“ sagte der Gefährte, „nur eure Augen sind nicht klar genug, um ihn zu sehen. Aber du sollst ihn nun sehen.“
Und noch einmal rührte er die Augen des Soldaten an und berührte auch sein Herz.
Plötzlich wurden diesem die Herzen der Menschen durchsichtig und er sah in jedem tief drinnen in seiner goldenen Lichtrose lebendig das Christkind liegen. Aus seinem Lichte gingen die Sterne der Menschenliebe und alles Gu­te, was Menschen tun, hervor, und mit jedem Stern leuchtete das Christkind heller.
Auch in den Herzen der ganz sternlosen Menschen war es wie ein schwach glimmender Hauch.
Als der Soldat das erschaute und ganz hingenommen davon war, verwandelte sich ihm das Christkind in die Gestalt seines Gefährten und er erkannte ihn. 

„Jesus Christ“, sagte er ganz leise und Tränen liefen ihm über das Gesicht, aber es waren Tränen vor Glück.
„Ja“, sagte Jesus Christ, „ich bin bei euch, auch wenn ihr es nicht wißt und nicht wissen wollt. Ich bin auch bei denen, die mich heute hassen und dem Teufel dienen. Ich warte, ob sie nicht doch noch - vielleicht erst nach vielen Erdenleben - sich zu mir wenden. Ich wohne in jedem von euch Menschen jetzt noch wie das kleine, kaum geborene Kind. Mein Licht versiegt nie, trotzdem es jetzt ringsum finstere Nacht ist, wie es Nacht war, als das Kind in Bethlehem geboren wurde. Durch jedes bißchen Gute, was ein Mensch tut, wachse ich in ihm, und wachse von Leben zu Leben, bis schließlich einmal alles Dunkle, Böse in mein Licht verwandelt sein wird.“ 

Da tat sich über dem großen Weltweihnachtsbaum der gol­dene Himmelssaal auf mit den grenzenlosen Scharen aller En­gel. Gottvater auf seinem Thron hielt alles - Himmel und Erde, Sonne, Mond und Sterne und auch den Teufel in seiner Finsternis - mit seinem Mantel umfaßt, und Jesus Christ stand vor ihm, dicht an seinem Herzen.
Um das Christkind aber in einer goldenen Lichtrose sah der Soldat die Tausende und Tau­sende der gefallenen Soldaten aller Völker und die vielen Men­schen, die durch den Krieg umgekommen waren. Ihnen trugen die Engel alle gesammelten Sternlein zu und sie formten daraus einen neuen, großen, herrlich strahlenden, Stern und sagten: „So wird einmal die Erde werden.“
Aus dem Licht, das aus den zerstörten Städten, aus allen ver­nichteten Werken der Menschen aufstieg, bauten und schufen sie alles neu, aber verwandelt und verklärt, viel schöner und voll­kommener als es vorher gewesen war, und schmückten damit den neuen Stern, daß er schöner als alle anderen war. Die Engel halfen ihnen dabei. 

„Sieh“, sagte Jesus Christ, „wie glücklich sie, die ihr tot nennt, bei ihrem Schaffen sind. Sie sind auferstanden mit allem, was durch das Böse auf Erden zugrunde gegangen ist, und bereiten eine helle Zukunft vor, wenn sie mit ihren himmlischen Werken zu neuem Erdenleben wiederkehren. Den Krieg mit seinem Elend und Jammer kann ich nicht von euch nehmen. Ihr selber habt ihn über euch gebracht durch alles Böse, Falsche und Ver­kehrte, was ihr in eure Seelen aufgenommen habt. Ihr müßt ihn erleiden bis ans Ende und müßt erleiden, was als seine Folgen weiter über euch kommen wird. Aber ihr lernt viel daran und büßt viel Schuld daran ab. Das Böse wird nicht siegen, denn ich bin da.“
Und alle Engel sangen, und alle Gefallenen und Verstorbenen sangen, und viele Menschen auf der Erde, viele frohe Kinder sangen: „Uns ist der Heiland heut geboren.“

Da war der große Schmetterling vor mir mit seinen Sternen­flügeln selber zum Himmel mit dem großen Sternenweihnachts­baum geworden und ich hörte auch den mächtigen Gesang - - - aber dann war auf einmal alles verschwunden und ver­stummt.