Kostbarkeiten der Dichtung


Hier sind einige wenige, besonders kostbare Gedichte versammelt, die einen das ganze Leben begleiten können...

Das Mädchen aus der Fremde (Schiller)
Das Fundament (Meyer)
(Ein Reinstes zu erreichen) (Rilke)

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Das Mädchen aus der Fremde

In einem Thal bei armen Hirten
Erschien mit jedem jungen Jahr,
Sobald die ersten Lerchen schwirrten,
Ein Mädchen, schön und wunderbar.

Sie war nicht in dem Thal geboren,
Man wußte nicht, woher sie kam;
Und schnell war ihre Spur verloren,
Sobald das Mädchen Abschied nahm.

Beseligend war ihre Nähe,
Und alle Herzen wurden weit;
Doch eine Würde, eine Höhe
Entfernte die Vertraulichkeit.

Sie brachte Blumen mit und Früchte,
Gereift auf einer andern Flur,
In einem andern Sonnenlichte,
In einer glücklichern Natur.

Und theilte Jedem eine Gabe,
Dem Früchte, Jenem Blumen aus;
Der Jüngling und der Greis am Stabe,
Ein jeder ging beschenkt nach Haus.

Willkommen waren alle Gäste;
Doch nahte sich ein liebend Paar,
Dem reichte sie der Gaben beste,
Der Blumen allerschönste dar.

Friedrich Schiller (1759-1805)

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Das Fundament


Sei wahr und wirf ihn weit zurück
Den Schleier über Deinem Blick
Und sieh Dich wie einen Andren an
Und benenn es alles was du getan!
Die Wahrheit ist ein scharfes Schwert
Das mitten durch die Seele fährt.
Der Zauber weicht, es flieht der Schein,
Die Luftgebäude stürzen ein
Und wenn der Staub verronnen ist,
So nimm Dich selber, wie Du bist.
Und baue wieder und bau zu End
Auf dieses bescheidene Fundament.

Conrad Ferdinand Meyer (1825-1898)

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(Ein Reinstes zu erreichen)

Nicht Geist, nicht Inbrunst wollen wir entbehren:
eins durch das andre lebend zu vermehren,
sind wir bestimmt; und manche sind erwählt,
in diesem Streit ein Reinstes zu erreichen,
wach und geübt, erkennen sie die Zeichen,
die Hand ist leicht, das Werkzeug ist gestählt.

Das Leiseste darf ihnen nicht entgehen,
sie müssen jenen Ausschlagswinkel sehen,
zu dem der Zeiger sich kaum merklich rührt,
und müssen gleichsam mit den Augenlidern
des leichten Falters Flügelschlag erwidern,
und müssen spüren, was die Blume spürt.

Zerstörbar sind sie wie die andern Wesen
und müssen doch (sie wären nicht erlesen!)
Gewaltigstem zugleich gewachsen sein.
Und wo die andern wirr und wimmernd klagen,
da müssen sie der Schläge Rhythmen sagen,
und in sich selbst erfahren sie den Stein.

Sie müssen dastehn wie der Hirt, der dauert;
von ferne kann es scheinen, daß er trauert,
im Näherkommen fühlt man wie er wacht.
Und wie für ihn der Gang der Sterne laut ist,
muß ihnen nah sein, wie es ihm vertraut ist,
was schweigend steigt und wandelt in der Nacht.

Im Schlafe selbst noch bleiben sie die Wächter:
aus Traum und Sein, aus Schluchzen und Gelächter
fügt sich ein Sinn ... Und überwältigt sie's,
und stürzen sie ins Knien vor Tod und Leben,
so ist der Welt ein neues Maß gegeben
mit diesem rechten Winkel ihres Knie's!

Rainer Maria Rilke (1875-1926)