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Die Geschichte von der hohlen Nuß

von Manfred Kyber, aus: Das Manfred Kyber Buch. Rowohlt, 1979. Siehe auch www.manfredkyber.de.


Es war einmal ein kleines Märchenkind, das war vom Himmel auf die Erde heruntergefallen, sozusagen aus Versehen. Es ist recht schmerzhaft, wenn man so vom Himmel auf die Erde herunterfällt. Wir alle haben das ja einmal erlebt, aber wenn man ein Märchenkind ist, tut es besonders weh. 

Das Märchenkind war sehr klein. Es war so klein, daß es gar nicht lohnt, zu sagen, wie klein es eigentlich war. Die Mär­enkinder sind alle so klein auf der Erde, denn ihre großen Seelen sehn ja die Menschen nicht, die alles nach der Elle messen und auf der Marktwaage wägen. So gingen alle die vielen Menschen an dem kleinen Märchenkind vorbei und bemerkten es gar nicht.

„Du, höre mal“, sagte das Märchenkind zu einem jeden, der vorbeikam, „gib mir doch bitte ein Königreich, damit ich darin wohnen kann.“
„Ich verstehe nicht“, sagten die Menschen, „wer hier etwas von einem Königreich spricht? Es ist doch gar niemand da. Was gibt es für sonderbare Sinnestäuschungen!“ 

Da wandte sich das Märchenkind an die Tiere, denn die Tiere reden nicht von Sinnestäuschungen und wissen ganz genau, wer ein Märchenkind ist. Sie wissen es schon darum, weil die meisten Menschen ihnen immer so deutlich zeigen, daß sie keine Märchenkinder sind.
Die Tiere waren sehr freundlich, sie wußten es auch nur allzu gut, was es heißt, vom Himmel auf die Erde heruntergefallen zu sein, und setzten sich um das kleine Märchenkind herum und gaben ihm gute Ratschläge. Man sah allgemein ein, daß das Märchenkind eine Wohnung haben müsse, und das heißt in diesem Falle natürlich ein Königreich, denn wo ein richtiges Märchenkind wohnt, da ist immer ein Königreich für Kinder und Tiere und für die wenigen großen Menschen, die das Kleine sehen können und nicht an gelehrten Sinnestäuschun­gen leiden. 

„Richten Sie sich bei mir ein“, sagte der Maulwurf, „in mei­nem Hause ist es angenehm kühl und feucht, und wenn Sie die Nase recht tief in die Erde stecken, so riechen Sie es schon von weitem, wenn ein fetter Engerling sich nähert. Es ist ein unnachahmlicher Duft.“
„Vielen Dank“, sagte das Märchenkind, „ich friere schon oben auf der Erde reichlich und finde es hier schon dunkel genug, ich will nicht noch tiefer hinein und es noch dunkler haben.“ „Das ist sehr töricht von Ihnen, liebes Kind“, sagte der Maul­wurf, „die fetten Engerlinge mit dem unnachahmlichen Duft sind nur zu haben, wenn man die Nase ganz tief in die Erde hineinsteckt.“ 

„Es ist gewöhnlich, mit der Nase herumzuschnüffeln und Engerlinge zu fressen“, sagte die Libelle, „und es macht die Sache nicht besser, wenn man dabei auch einen vornehmen Samtrock trägt. Sie müssen es wie ich machen und sich mehr auf das Luftige beschränken. Sie gaukeln einfach von Blüte zu Blüte und bespiegeln sich selbst im Wasser.“
Ich muß leider hinzufügen, daß die Libelle das in einem leichtfertigen Tone sagte und daß sie, wenn auch nicht über­mäßig, so doch merklich mit den Flügeln kokettierte.
„Das ewige Umhergaukeln ist auch nichts für mich, und wenn ich mich im Spiegel sehe, so fühle ich nur um so deutlicher, wie einsam ich bin“, sagte das Märchenkind, „ich möchte lie­ber in einer richtigen Wohnung seßhaft werden. Gerne würde ich, zum Beispiel, in der hohlen Nuß wohnen, die unter dem Haselstrauch liegt, aber ich weiß nicht recht, wie ich da hinein­kommen soll, die Löcher erscheinen mir so eng und klein.“ Denn wenn das Märchenkind auch klein war - die Löcher der hohlen Nuß waren noch viel kleiner. 

Wie das Märchenkind aber darüber nachdachte, wie man wohl in die hohle Nuß gelangen könne, dachte es sich einfach hin­ein und war mitten darin, noch ehe der Maulwurf einen Engerling gefunden und die Libelle ihre wippenden Flügel im Wasser bespiegelt hatte.

In der hohlen Nuß war es wunderschön, so schön, wie es in einer hohlen Nuß nur sein kann, wenn man sich erst richtig hineingedacht hat. Der Wurm, der den Kern verspeist hatte, war ein überaus tüchtiger Fachmann gewesen, und es lohnte sich schon, zu betrachten, wie sauber er die Wände gefeilt und wie hübsch und glatt und rund er die beiden Öffnungen ge­bohrt hatte, eine als Tür und die andere als Fenster. Ein paar rauhe Stellen hatte er sorgsam nachgelassen, so daß man Spinnweb und Marienfäden daran aufhängen konnte, und aus Spinnweb und Marienfäden spann sich das Märchenkind ein ganzes Königreich in die hohle Nuß herein.

Als aber alles fertig und es ein richtiges, eigengebautes König­reich geworden war, da holte sich das Märchenkind, weil es ja nun eine Prinzessin war, in das Königreich einen Prinzen, der eben vorüberging und keine Wohnung hatte, weil er auch gerade vom Himmel auf die Erde gefallen war.

So war nun das Märchenkind eine Prinzessin und hatte einen Prinzen und ein Königreich, und das alles in einer hohlen Nuß. Das war ja eigentlich recht viel auf einmal, aber es tat der Prinzessin doch sehr leid, daß sie den Himmel nicht auch in die hohle Nuß herunterholen konnte. Denn wenn man vom Himmel auf die Erde gefallen ist und es einem sehr weh getan hat, so sehnt man sich immer tüchtig nach dem Him­melreich.

Wie sich das Märchenkind aber so gehörig nach dem Himmel sehnte und nach ihm ausguckte, da kam plötzlich der ganze Himmel mitten in die hohle Nuß geflogen, und als die Prin­zessin näher hinguckte, was das eigentlich wäre, da wiegte sich ein kleines Kind in einer Wiege aus Spinnweb und Marien­fäden. Es lohnt gar nicht, zu sagen, wie klein das Kind war. Es war viel zu klein, um überhaupt viel darüber zu reden.

Ihr denkt nun vielleicht, daß das eine unwahrscheinliche Geschichte sei. Aber das ist sie gar nicht. Es ist sehr einfach, sich ein ganzes Königreich in einer hohlen Nuß zu bauen. Man muß bloß ein Märchenkind sein und sich ein bißchen hinein­denken können. Freilich muß man gerade vom Himmel her­untergefallen sein und sich auf der Erde weh getan haben. Und die Menschen müssen einem gesagt haben, daß sie einen gar nicht bemerken und daß man überhaupt nicht auf der Welt sei.

Und wenn es schon einfach, obwohl ein wenig schmerzhaft und einsam ist, sich ein Königreich in eine hohle Nuß zu bauen - so ist es doch sicherlich ganz einfach, den Himmel auf die Erde herunterzuholen. Sucht bloß ein paar richtige Kinderhände, die holen euch den ganzen Himmel auf die Erde herunter - und sogar in eine hohle Nuß.