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Der Tod und das kleine Mädchen

von Manfred Kyber, aus: Das Manfred Kyber Buch. Rowohlt, 1979. Siehe auch www.manfredkyber.de.


Es war einmal ein kleines Mädchen, das war immer sehr ein­sam. Es sei ein sonderbares Kind, sagten die Großen, und es sei dumm und es vertrage keinen Lärm, sagten die Kleinen - und darum spielte niemand mit ihm. Ihr werdet nun gewiß denken, daß das sehr langweilig und sehr traurig für das kleine Mädchen war. Ein bißchen traurig war es manchmal schon, aber langweilig war es gar nicht, denn das kleine Mädchen langweilte sich niemals. Es kamen immer so viele Gedanken zu ihm zum Besuch, und diese Gedanken sah es auch alle und sprach mit ihnen, als ob sie leibhaftig vor ihm stünden. Es war eine Sprache ohne Worte, und diese Sprache kennen alle, zu denen die Gedanken zum Besuch kommen.

Die Gedanken, die zu dem kleinen Mädchen kamen, waren alle sehr verschieden, und sie waren auch ganz verschieden angezogen, wenn man das von einem Gedanken überhaupt sagen kann. Es waren traurige darunter in grauen Kleidern, frohe in rosafarbenen mit goldenen Sternen darauf, rote und lustige, die Fratzen machten, und blaue, die von Märchenlän­dern erzählten und deren Augen immer irgendwo hinaus in eine weite Ferne sahen. Es muß sehr still um einen herum sein, wenn so viele Gedanken zu einem zum Besuch kommen. Darum ging das kleine Mädchen am liebsten ganz allein auf den Dorffriedhof und setzte sich zwischen alle die Gräber unter den hohen Bäumen. Das kleine Mädchen kannte alle die Gräber mit Namen, und es war wirklich merkwürdig zu beobachten, welche Gedanken an den verschiedenen Gräbern zum Besuch kamen und an welchen Gräbern die Gedanken fortblieben. Es war, als ob es ihnen da nicht recht gefiele. Lehr­reich und unterhaltend war es auch, was die Gedanken an dem einen oder anderen Grabe sagten, wenn sie zum Besuch kamen. Was sie sagten, war nicht immer schmeichelhaft für die Toten in den Gräbern, aber das kleine Mädchen konnte daraus sehen, an welchen Gräbern man am besten sitzen und sich mit seinen Gedanken unterhalten konnte.

Als nun das kleine Mädchen wieder einmal auf dem Friedhof saß und sich von seinen bunten Gedanken besuchen ließ, da kam eine Gestalt im schwarzen Gewande durch alle die Grab­hügel geschritten und ging gerade auf das kleine Mädchen zu.

„Bist du auch ein Gedanke?“ fragte das kleine Mädchen. „Aber du bist so sehr viel größer als die Gedanken, die mich sonst besuchen, und du bist so schön, wie keiner von meinen vielen Gedanken jemals war.“
Die schöne Gestalt im schwarzen Gewand setzte sich neben das kleine Mädchen.
„Du fragst ein bißchen viel auf einmal. Ich bin wohl ein Ge­danke und doch wieder auch etwas mehr. Es ist für mich gar nicht so leicht, dir das zu erklären. Sonst täte ich es gewiß eine.
„Bemühe dich nicht meinetwegen“, sagte das kleine Mädchen, „ich brauche dich gar nicht zu verstehen, es ist auch sehr schön, dich bloß anzusehen. Aber ich möchte gerne wissen, wie du heißt. Meine Gedanken sagen mir immer alle, wie sie beißen, und das ist sehr lustig.“
„Ich bin der Tod“, sagte die schöne Gestalt und sah das kleine Mädchen sehr freundlich an. Man mußte Vertrauen zum Tod haben, wenn man ihm in die Augen sah, denn es waren schöne und gute Augen, die der Tod hatte. Solche Augen hatte das kleine Mädchen noch nicht gesehen.
Das kleine Mädchen erschrak auch gar nicht. Es war nur sehr erstaunt und überrascht, und fast freute es sich, daß es so ruhig neben dem Tod sitzen konnte.
„Weißt du“, sagte es, „es ist so komisch, daß alle Menschen Angst haben, wenn sie von dir sprechen, wo du so nett bist. Ich möchte gerne mit dir spielen. Es spielt sonst niemand mit mir.“
Da spielte der Tod mit dem kleinen Mädchen - wie zwei Kinder miteinander spielen, mitten unter den Gräbern auf dem Friedhof. 

„Wir wollen Himmel und Erde bauen“, sagte das kleine Mäd­chen, „hoffentlich verstehst du es auch. Wir machen den Himmel aus den hellen Kieseln und die Erde aus den dunkeln. Du mußt aber fleißig Steine suchen.“
Der Tod suchte kleine Steine zusammen, und er gab sich viele Mühe, um das kleine Mädchen zufriedenzustellen.
„Jetzt haben wir genug“, sagte das kleine Mädchen, „ich finde, daß du sehr schön spielen kannst. Willst du nun den Himmel bauen und ich die Erde oder umgekehrt? Mir ist es einerlei. Du kannst dir aussuchen, was dir mehr Spaß macht. Ich er­laube es dir.“
„Ich danke dir sehr“, sagte der Tod, „aber siehst du, ich bin kein Kind mehr und verstehe nicht mehr so zu bauen, wie man das als Kind versteht. Du bist ja noch ein Kind, und ich denke, du baust dir deinen Himmel und deine Erde selber. Aber ich will dir bei beidem helfen.“
„Das ist nett von dir“, sagte das kleine Mädchen und baute sich seinen Himmel und seine Erde aus den bunten Kiesel­steinen. Der Tod sah zu und half dem kleinen Mädchen dabei.
„Jetzt paß auf“, sagte das kleine Mädchen, „hier ist der Him­mel, und drin wohnt der liebe Gott, und hier ist die Erde, und da wohne ich. Nun mußt du auch noch eine Wohnung haben. Aber ich weiß ja noch gar nicht, wo du wohnst?“
„Ich wohne zwischen Himmel und Erde“, sagte der Tod, „denn ich muß ja die Menschenseelen von der Erde zum Him­mel führen.“
Richtig“, sagte das kleine Mädchen, „dann kriegst du eine Wohnung aus hellen und dunklen Steinen zusammen. Es soll eine feine Wohnung werden, du wirst schon sehen.“

Der Tod freute sich und sah zu, wie das kleine Mädchen ihm seine Wohnung baute.
„Höre mal“, sagte das kleine Mädchen, „du hast doch eben gesagt, daß du die Menschenseelen von der Erde zum Himmel führst. Erzähle mir mal ein bißchen davon, wie du das machst - und warum müssen wir überhaupt sterben? Kann man denn nicht einfach in den Himmel 'rüberlaufen?“

Als das kleine Mädchen das fragte, läuteten die Glocken Feier­abend.
„Hörst du die Glocken läuten?“ sagte der Tod. „Siehst du, mit den Menschenseelen ist das ganz ähnlich wie mit den Glocken. Jede Menschenseele ist eine Glocke, und du hörst sie läuten, wenn du ordentlich aufpaßt, in frohen und in traurigen Stun­den. Bei manchen läutet sie nur noch ganz schwach, und das ist dann wirklich sehr schlimm. Wenn ich nun zu einem Menschen komme, dann läutet seine Glockenseele Feier­abend - ich hänge die Glocke dann in den Himmel, und dort läutet sie weiter.“

„Läuten sie denn da alle durcheinander?“ fragte das kleine Mädchen, „das muß gar nicht schön klingen, denn jede läutet doch sicher ganz anders. Es ist gewiß nicht angenehm für den lieben Gott, sich das immer anhören zu müssen.“
„Das ist schon wahr“, sagte der Tod, aber siehst du, die Glockenseelen kommen so oft auf die Erde zurück und werden so lange umgegossen, bis sie alle ihr eigenes richtiges Geläute haben und alle zusammenklingen. So lange aber muß ich die Menschen von der Erde zum Himmel tragen.“
„Das tut mir sehr leid für dich“, sagte das kleine Mädchen, „es ist gewiß eine sehr mühsame Arbeit. Aber paß nur auf, es wird schon mal besser werden, und dann hast du gar nichts mehr zu tun, und wir beide spielen immer so nett zusammen wie heute.“ Der Tod nickte, und seine Augen sahen in eine sehr, sehr weite Ferne.

„Deine Wohnung ist jetzt fertig“, sagte das kleine Mädchen, „ist sie nicht sehr hübsch geworden?“
„Sie ist sehr hübsch“, sagte der Tod, „ich danke dir auch. Aber es ist spät, und du mußt jetzt nach Hause gehen. Es war schön, mit dir zu spielen.“
Und der Tod reichte dem kleinen Mädchen die Hand.
„Guten Abend“, sagte das kleine Mädchen und knickste, „kommst du nicht auch einmal mich besuchen? Ich bin so viel allein.“
„Ja“, sagte der Tod freundlich, „ich werde dich sehr bald be­suchen, weil du so allein bist.“ 

Bald darauf wurde das kleine Mädchen sehr krank, und die Leute meinten alle, daß es wohl sterben müsse. Die Leute waren traurig, denn es erschien ihnen immer traurig, wenn einer starb, und besonders, wenn es ein Kind war, das das Leben noch vor sich hatte, wie sie sagten. Aber es war ja ein sonderbares Kind, das die Großen nicht verstanden und mit dem die Kleinen nicht spielen mochten. Am Ende war es so auch besser.
Als die Glocken Feierabend läuteten, da trat der Tod zu dem kleinen Mädchen ins Zimmer.
„Das ist nett von dir, daß du mich besuchen kommst“, sagte das kleine Mädchen.
„Es ist Feierabend“, sagte der Tod und setzte sich zu dem kleinen Mädchen aufs Bett.
„Ach ja“, sagte das kleine Mädchen, „davon hast du mir da­mals so schön erzählt, als wir zusammen Himmel und Erde bauten. Dann kommst du gewiß, um meine Glockenseele zu holen. Hoffentlich klingt sie aber auch hübsch, so daß sich der liebe Gott nicht ärgert.“
„Sie sehnen sich im Himmel nach einer reinen Glocke“, sagte der Tod, „darum haben sie mich gebeten, zu dir zu kommen.“
„Muß ich dann sterben?“ fragte das kleine Mädchen.
„Das brauchst du gar nicht so zu nennen“, sagte der Tod, „siehst du, es ist ganz einfach: An deiner Tür stehen zwei Engel, und die führen dich dann zum lieben Gott in den Himmel“.
„Ich kann aber die Engel nicht sehen“, sagte das kleine Mädchen.
„Ich werde dich mal auf den Arm nehmen“, sagte der Tod, „dann wirst du die Engel gleich sehen.“
Da nahm der Tod das kleine Mädchen auf die Arme, und als er es auf die Arme genommen hatte, da sah es zwei strahlende Engel in weißen Kleidern mit schimmernden Flügeln, und die Flügel führten es zum lieben Gott in den Himmel. Die Glockenseele des kleinen Mädchens aber läutete, und es war lange her, daß eine so reine Glocke oben ihren Feierabend ge­läutet hatte. 

Im Himmel war es sehr schön, und da war das kleine Mäd­chen kein sonderbares Kind mehr, denn die großen Engel ver­standen es, und die kleinen spielten mit ihm. Auch der liebe Gott war sehr zufrieden und freute sich, daß er eine so reine Glocke bekommen hatte. Das kleine Mädchen fand es nur sehr traurig, daß der Tod unten auf der Erde bleiben mußte. Es sah ihn auf dem Friedhof stehen, wenn es mal herunter­guckte, und dann nickte es ihm zu.
„Kannst du hören, wenn ich von oben 'runterrufe?“ fragte das kleine Mädchen.
„Ja“, sagte der Tod, „du brauchst auch nicht so laut zu rufen, denn für mich sind Himmel und Erde so nahe beieinander, wie wir sie einmal zusammen aus Kieselsteinen gebaut haben.
„Das freut mich“, sagte das kleine Mädchen, „es ist bloß sehr schade, daß ich nicht mehr mit dir spielen kann. Jetzt spielt niemand mehr mit dir. Sei bloß nicht zu traurig drüber. Hörst du?“
„Es war schön, daß du mit mir gespielt hast“, sagte der Tod, „und wenn ich einmal traurig werde, dann höre ich oben deine Glockenseele läuten und freue mich darüber, daß ein­mal ein Kind mit mir gespielt hat.“
„Ja, tue das“, sagte das kleine Mädchen, „und ich will dir auch etwas Wunderhübsches sagen, was mir die großen Engel er­zählt haben. Die großen Engel sagen, daß einmal eine Zeit 'kommen wird, wo alle Glockenseelen zusammenklingen und alle Menschen mit dem Tod wie die Kinder spielen werden.“