Der weiße Reiter

von Joachim Sydow, in: Die Christengemeinschaft, 9-10/1949, S. 240-242.


Johannes war ein eigenartiger Knabe; mit angeborenem Frohsinn paarte er stille Zurückgezogenheit. Die Schönheiten der Erdenwelt nahm er mit offenen Sinnen, aber wie träumend auf. Wenn die anderen froh beim Spiele sich tummelten, saß er am Teiche oder stand auf dem schmalen Stege, der über den Wiesenbach führte, und schaute versonnen in das unter ihm dahineilende Wasser. Gern auch kletterte er auf den breitastigen Holunderbaum, der vor der Scheune mit den zwei Storchennestern stand, und sah den Wolken nach, die am blauen Himmel dahinzogen. Darüber konnte er Raum und Zeit vergessen. Mehr noch als Wasser und Luft fesselte ihn das Feuer. Als einst zwei nebeneinanderliegende Bauerngehöfte niederbrannten, starrte Johannes, wie auf den Fleck gebannt, in die Gluten; er stand vor einem unfaßlichen Wunder. Man mußte ihn spät abends suchen und nach Hause tragen. 

In der Märchenwelt war Johannes zu Hause. Wer ihm ein Märchen erzählte, dem tat er alles zuliebe. Und was er hier von Drachen, Elfen, Nymphen und Gnomen hörte, das fand er wieder, wenn er draußen seine Seele an Himmel und Erde träumend hingab.

Ein eigenartiges Verhältnis hatte Johannes von klein auf zu den Pferden. Er liebte und verehrte sie mit allen Kräften seiner Kindesseele; doch hatte er eine ängstliche Scheu vor ihnen. Oft, wenn er träumend den Lauf der Wolken verfolgte, sehnte er sich danach, auf einem stolzen, feurigen Pferde zu sitzen und es zu bändigen. Doch wenn er in Wirklichkeit einem Pferde nahekam, traute er sich nicht heran, es zu streicheln. Es fehlte ihm immer der rechte Mut.

Einmal besuchte der Knabe seinen Onkel, der auf einem entfernten Gute wohnte. Dieser Onkel hatte zwei kleine Ponys, einen gutmütigen alten Schimmel und einen etwas wilden Rappen. Johannes bat den Onkel stürmisch, doch einmal reiten zu dürfen. Der erlaubte es gern und befahl dem Stallknecht, den Schimmel zu satteln. Das Schicksal wollte es, daß dieser anderweitig beschäftigt war; so rüstete der Knecht das schwarze Pony und hob den kleinen Johannes hinauf. Solange der Knecht das Pferd führte, ging alles gut; doch als er es einmal losließ, stürmte es davon und warf den Knaben bald in hohem bogen in das Gras. Johannes, der sich an einem Finger leicht verletzt hatte, war erschrocken und stolz zugleich. Es war dies für ihn ein Ereignis, dessen innere Berechtigung er dunkel empfand.

Mit merkwürdiger, fast magischer Gewalt zog es ihn zu den Bildern aus dem alten Griechenland, auf denen Zentauren abgebildet waren. Stundenlang konnte er vor solchen Bildern sitzen und sich hineinvertiefen, wie sich hier der Mensch aus dem Pferdekörper herauslöste. Wie das Abstreifen einer Schale erschien ihm das Bild.

Nachts hatte er wiederholt folgenden Traum: Er stand innen vor der offenen Bodenluke der Scheune. Da merkte er, wie plötzlich das Strohdach in hellen Flammen stand. Bliebe er stehen, so wäre er verbrannt, spränge er hinab, so wäre er unten zerschmettert. In seiner Herzensangst wollte er davonlaufen; doch er war wie an die Stelle gefesselt. Da sah er, wie über ihm der weiße Qualm sich zusammenballte und aus Qualm und Feuersglut heraus hob sich ein Reiter auf schneeweißem Pferde in goldener Rüstung. Der ritt auf Johannes zu, zog ihn zu sich auf sein Roß und sprang mit ihm aus der Feuerlohe. Sanft, wie schwebend, glitten sie über den Holunderbaum hinweg und kamen unversehrt auf dem Erdboden an. In dem Augenblicke, wenn der weiße Reiter erschien, war bei dem kleinen Johannes immer sofort alle Angst verschwunden, und ein seliges Gefühl durchzog ihn, wenn er mit dem Pferde hinabschweben durfte.

Als Johannes größer wurde, kam er auf die Lateinschule. Hier ging es ihm sonderbar; fast ähnlich wie mit den Pferden. Er sehnte sich danach, viel aufzunehmen und zu lernen, doch wenn er darinnen saß, auf der Schulbank, wäre er am liebsten davongelaufen. Eine innere Wandlung vollzog sich bei ihm. Was er früher in der Natur erträumt hatte, die Drachen, Elfen, Nymphen und Gnomen, diese ganze Märchenwelt, die einst eine Wirklichkeit für ihn gewesen war, sie zerrann jetzt in Nichts. Er hatte einen alten Lehrer, der nur aushilfsweise Naturkunde unterrichtete und wenig Bescheid wußte. Der brachte einmal einen großen Glaskasten voller Schmetterlinge mit, die er zu erklären suchte; aber auf viele Fragen der Schüler nach Namen und Wesen der Tiere konnte er keine Antwort geben. Da wurde in Johannes´ Seele noch einmal vieles aus seiner ersten Kindheit lebendig. Die aufgespannten Schmetterlinge begannen lebendig zu werden; er sah sie da draußen im Freien umherfliegen. Er vergaß die Schule samt dem Lehrer und fing an, seinen Mitschülern zu erklären, wie der „Kiefernspinner“, wenn er mit zusammengefalteten Flügeln am Baum säße, kaum von der Rinde zu unterscheiden sei, wie man das „Sandauge“ nur verstehen könne, wenn man im Hochsommer am Rande eines Kiefernwaldes einen sandigen Weg entlanggehe, an der andern Seite weite Felder, über sich strahlend blauen Himmel und die ganze Luft durchmischt mit dem Duft der harzschwitzenden Kiefer und der goldgelben Luzerne.

Mitten im lebendigsten Schildern unterbrach ihn die etwas knarrende Stimme des Lehrers: „Na, Johannes, nun hast du wohl genug geschwärmt!“ Da war es ihm, wie wenn ein grauer Schleier sich über alle diese Dinge legte. Er hatte nun „genug geschwärmt“. In seinem Inneren gähnte eine öde Leere. –

Damals bekam auch sein Traum eine andere Gestalt. Nicht mehr trug ihn der weiße Reiter aus den Flammen, sondern aus stickigschwelendem dunklen Qualm wob sich ein schwarzer Hengst, der wild mit Johannes aus der Bodenluke der brennenden Scheune heraussprang und, da er nicht fliegen noch schweben konnte, mit zerschmetterten Gliedern unten auf dem Pflaster des Hofs liegen blieb, den Jüngling unter sich begrabend. In kaltem Schweiß gebadet wachte er nach solchem Träume auf.

In dieser Zeit sah Johannes eine Aufführung des Märchens „Die Gänsemagd“. Ein Bild aus diesem Märchen wollte nicht aus seiner Seele schwinden: Wie die Gänseliesel, die verworfene Königstochter, mit dem an das Tor genagelten Pferdehaupte Zwiesprache hielt:

„O Du Falada, der Du hangest.“

Da antwortete der Kopf:

„O Du Jungfer Königin, da Du gangest,
wenn das Deine Mutter wüßte,
Ihr Herz tät ihr zerspringen.“ 

Als Johannes 21 Jahre alt war, zog der Krieg ins Land. Da wurden in ihm die alten Märchen, in denen der Prinz auf weißem Rosse die verzauberte Königstochter erlöste, wieder lebendig. Nun mußte er selbst hinausreiten in die Welt der Abenteuer, um seine verzauberte Seele zu suchen. Ein gutes Zeichen war es ihm, daß er in eine Reiterabteilung kam, in der es nur Schimmel gab. Freude zog in sein Herz, als er merkte, daß er keine Furcht mehr vor den Pferden hatte. Mut fühlte er in seiner Brust, wie einen schützenden Panzer. Kraftvoll schwang er in der Rechten sein blitzendes Schwert, Geisteswille umstrahlte sein Haupt wie ein leuchtende Helm. So gerüstet zog er in den Streit auf seinem leuchtend weißen Schimmel. –

Eine Kugel hatte des Jünglings Brust durchbohrt. Sieben lange Tage rang der Engel mit dem Tode um sein Leben, sieben lange Tage lag Johannes, von dämmerndem Bewußtsein umfangen. Alles um sich erlebte er wie im Träume. Er sah wohl, was um ihn herum vor sich ging, aber alles erschien ihm halbwirklich, wie in verschwommenen Konturen. Ärzte und Schwestern sah er mit Farbenstrahlen umgeben, die einen in gütigem Violett, andere in sinnlichem Rotbraun, andere in giftigem Gelbgrün. Es war, wie wenn seine Seele weit über den Körper hinaus sich gebreitet hätte und, zwischen beiden Welten lebend, beider Auswirkungen wahrnahm.

Im Wundfieber kam sein Traum von einst in veränderter Wirklichkeit zu ihm. Nicht mehr rettete ihn der weiße Reiter, nicht mehr zog ihn zerschmetternd der schwarze Hengst in den Abgrund: Aus den Himmeln löste sich ein lediges weißes Pferd. Das bestieg Johannes, nun selbst zum weißen Reiter erwürdigt, und schweifte mit ihm durch weite Weltenräume dahin. Wolken senkten auf seine Schultern einen weißen Mantel. Der schützte ihn vor Hitze und Kälte. Und wie sie in ruhigem Gleiten an den Gestirnen vorüberschwebten, da fühlte Johannes in seinem Herzen die strahlende Leuchte-Kraft der Sonne, da ging ihm Sinn und Wesen der Planeten und Tierkreiszeichen auf, da verstand er das Wehen des Windes, das Brausen des Meeres. Aus allem ertönte ihm das göttliche Weltenwort, Sinn-offenbarend. –

Als das Pferd aus Ätherhöhen sanft gleitend sich auf die Erde herniederließ, erwachte Johannes zum ersten Male nach siebenmal vierundzwanzig Stunden zu klarem Bewußtsein, und ihm war, als sei ein Schleier von seinen Augen genommen. Klar stand vor ihm seine Lebensaufgabe: sich bewußt eine Weisheit zu erringen, die es ihm ermöglichte, die Offenbarungen der Sternenwelten in allem Irdischen zu erkennen.