Einleitende Gedanken

Wenn über Michael gesprochen wird, kommt man unweigerlich mitten in die Anthroposophie hinein – also in dasjenige, was Rudolf Steiner in seinem 360-bändigen Gesamtwerk in Schriften und Vorträgen als einen umfassenden Blick auf die geistige Wirklichkeit der Welt und ihrer Erscheinungen entfaltet hat.

Kommt man mit diesem Blick, der ganz neue, über den heutigen Materialismus hinausgehende Tiefen der Welt erschließt, zum ersten Mal näher in Berührung, kann man darauf ganz verschieden reagieren: Von einer Art „selbstverständlichem Wiedererkennen“ bis hin zu einer antipathischen Ablehnung gibt es alle Zwischenstufen. Fest steht, dass man völlig umdenken muss, wenn man bisher den Menschen als höheres Tier mit einigen psychologischen Besonderheiten und die Welt als Summe physikalisch-chemischer Naturgesetze anzusehen gelernt hat. Es ist da kein geringerer Schritt nötig, als wenn – bildlich gesprochen – ein Möbelpacker plötzlich die Kunst des Klavierspiels oder die höhere Mathematik erlernen soll.

Die Anthroposophie hat schon immer Widerstand hervorgerufen. Meist spielen hier in schwierig zu entwirrender Weise mehrere Faktoren zusammen: Eine berechtigte Ablehnung gegen irrationalen Mystizismus (die aber für die Anthroposophie nur unberechtigerweise geltend gemacht werden kann), eigene negative Erfahrungen mit dogmatischen „Anthroposophen“ (die Rudolf Steiner damals auch schon machen musste und heftig kritisiert hat) und eine unbewusste Furcht vor der Wirklichkeit des Geistes (denn diese verändert letztlich alles, vom „Weltbild“ bis zum Handeln...). Wenn man aber erkennt, dass es in der Anthroposophie nicht um Glaubenswahrheiten, sondern um einen Erkenntnisweg geht, wenn man lernt, die Anthroposophie von den Negativbeispielen unter den „Anthroposophen“ sauber zu unterscheiden, und wenn man die Wirklichkeit dessen, was Rudolf Steiner schildert, allmählich an der eigenen Lebenswirklichkeit als Tatsache erleben lernt – dann ist die Anthroposophie ein Abenteuer, wie es spannender, bereichernder und lebens-verändernder kein zweites gibt.

Man kommt mit der Anthroposophie und gerade mit der Frage nach Michael unmittelbar zu ganz zentralen Fragen wie: Wie gehen wir miteinander um? Wer bin ich? Warum ist die Welt so wie sie ist? Wo steuern wir hin? Woher nehme ich die Kraft für den Alltag? ... Man kommt auch zu Antworten, aber ganz sicher nicht zu abschließenden Antworten – denn sonst wäre Anthroposophie kein Erkenntnisweg, sondern eine Heilslehre... Viel wichtiger als die Antworten sind zunächst die Fragen!

Was das Wesen Michaels betrifft, so hoffe ich, dass die Aufsätze – aber z.B. auch die Gedichte! – dieser Seiten jedem unbefangenen Leser eine erste fruchtbare Annäherung an die hier gemeinten Realitäten ermöglichen.

Die Bilder geben einen Eindruck, wie frühere Zeiten Michael und die Widersachermächte in imaginativer Weise erlebt haben – und wie sich heute anthroposophische Künstler um eine „geist-nähere“ Darstellung des imaginativen Erlebens bemühen. Bei alledem gilt, was Emil Bock in einem Aufsatz sagte: Wir dürfen uns durch die alten Michaelsbilder nicht mehr festlegen lassen, sondern müssen lernen, Michael da zu finden, wo er heute steht.