Michael und die Jungfrau von Orleans

aus: M.J. Krück von Potorzyn: Aus dem Leben der Jungfrau von Orléans. Zit. nach: Ineke Verschuren: Der Drache mit den sieben Köpfen.


In der Stadt war alles schon auf den Beinen, Bürger und Kriegsleute drängten sich durch die Straßen. Als Johanna ihr Roß bestieg, ordnete man sich ein und folgte ihr.

„Wohin?“

„Zum Osttor.“

Das Tor war geschlossen. Breitbeinig, das Schwert gezückt, stand Raoul de Gaucourt davor. In dem geöffneten Visier drohten zwei zornige Augen und ein mächtiger Schnurrbart. „Das Tor bleibt geschlossen! Befehl des obersten Kriegsrates!“

Lärm erhob sich in dem bunten Haufen, er schwoll an wie Meeresrau­schen im Sturm, Waffen klirrten, Pferde wieherten. „Macht auf! Die Jung­frau will es!“

Johanna ritt dicht an Gaucourt heran. „Ihr seid ein schlimmer Mann. Ob Ihr wollt oder nicht, die Leute werden ausziehen.“

Fäuste und Äxte hoben sich, Gaucourt sah sich vergebens nach Hilfe um, schon war er überrannt, die großen Riegel öffneten sich, das Tor flog auf. „Wer mich liebt, folgt mir!“ rief das Mädchen. Es schlug sieben Uhr, als die Franzosen zu kämpfen begannen um die Wallgräben unter dem Vorwerk „Boulevard“. Es gereicht dem Bastard von Orleans und allen Feldhauptleu­ten zu Ehren, daß sie jetzt, da die Entscheidung getroffen war, vollzählig angeritten kamen. Der Steinbau des Forts hatte zwei Türme und war am südlichen Ende der Brücke, doch auf festem Land errichtet, durch eine Zug­brücke mit La Tourelle verbunden.

Von großen Holzschilden gedeckt, die sie nach Art der Schildkröten auf dem Rücken trugen, sprangen die Franzosen durch den tiefen Graben, leg­ten Leitern an die Befestigungsmauern, kletterten hinauf, obwohl die Eng­länder mit Beilen und Äxten dreinhieben und flüssiges Blei heruntergossen. Die Steinkugeln hagelten, die Pfeile schwirrten, und die Luft roch schweflig vom Rauch der Geschütze. Zwanzigmal stürmten die Franzosen, „als ob sie sich für unsterblich hielten“, aber die Sonne stieg, es wurde Mittag, immer noch hielten sich die Godons auf den Wällen des Vorwerks.

Johanna stand selbst auf einer Leiter, ein Pfeil schwirrte, aus nächster Nähe abgeschossen, gegen ihren Panzer, das Kunstwerk des Schmiedes von Tours gab nach, das Geschoß durchbohrte das Eisen und verhakte sich im Fleisch über der linken Brust. Sie taumelte.

„Die Hexe! Die Hexe ist getroffen!“ johlten die Engländer über ihr. War nicht eine Hexe unschädlich, sobald ihr Blut zu fließen begann? Zwei ver­wegene Engländer kletterten die Wälle herunter, beugten sich nieder, streckten die Hände nach ihr aus [...]

Da drängte sich wahrhaftig der Herr von Gamaches, derselbe, der sich nicht von einer Jungfer befehligen lassen wollte, breitbrüstig vor und hieb mit der Streitaxt gegen die frechen Hände. „Nehmt mein Pferd!“ schrie er Johanna zu.

Geschickte Fäuste hoben das Mädchen von der Leiter und auf ein Pferd. Im Buschwerk am Ufer nahm der Feldscher den Brustpanzer ab, und jetzt erst sah er, daß sie weinte.

„Wir sprechen die Zauberformel, dann hört das Blut gleich auf zu flie­ßen.“ Jeder Landsknecht vertraute dem Spruch. Aber Johanna schüttelte heftig den Kopf. Zauber wollte sie keinen, lieber würde sie sterben. Ehe der Feldscher es hindern konnte, faßte sie den Pfeil und riß ihn selbst aus dem Fleisch. Dann durfte der Kundige Olivenöl auf die Wunde träufeln und ein kleines Stück Schweineschmalz obenauf legen. Der Brustpanzer mußte wieder angelegt werden, dann bestieg Johanna das Pferd und ritt zurück an die Wälle.


Doch die Sonne neigte sich und sank, immer noch kämpfte man verge­bens im Graben des Vorwerks.
Die Kräfte erlahmten, es war sieben Uhr abends. Gaucourt und La Hire riefen dem Bastard zu: „Es ist umsonst, laßt zum Rückzug blasen.“

Der Orleans gab Befehl, die erste Trompete blies durch den klaren Abend. Doch da stand Johanna vor ihm, hob das Visier und sah ihn mit großen Augen an. „Wartet noch eine kleine Weile, ich bitte Euch.“

Ermattete Männer ringsum, die sich Schweiß und Blut von den Gesich­tern wischten, und vor ihnen ragten unbeschädigt die beiden Forts. „Die Leute können nicht mehr“, sagte der Bastard.

„Ruht euch aus, trinkt und eßt“, rief Johanna nach rechts und links. Dann stieg sie zu Pferd, und Johann von Orleans sah sie landeinwärts reiten, dem Weingarten zu. Er setzte sich nieder, nahm einen Trunk aus der Flasche, nach Westen blickend sah er das goldene Abendrot hinter Zinnen und Tür­men. War das der letzte Tag von Orleans?

Er erinnerte sich später, daß „eine kleine Viertelstunde“ verging. Von nie­mandem gesehen, allein und in sich gekehrt, versenkte Johanna sich zwi­schen den Reben in ihr Gebet. Die unerhörte Willenszucht einer Siebzehn­jährigen, sich im entscheidenden Augenblick aus der eigenen Spannung, aus der allgemein einsetzenden Mutlosigkeit und Erschöpfung loszureißen, die Stille von außen zu suchen und die Stille im eigenen Innern herzustel­len, aus der allein die Inspiration sich ergeben konnte: ist sie je ganz gewür­digt worden?

Der Schwefeldampf hatte sich verzogen, die Männer lagen, gedeckt durch ihre Rückenschilde, in den Gräben, auch die Engländer schienen Atem zu holen. Da sah der Bastard schärfer ins Abendlicht. Stand nicht die Jungfrau wieder an den Wällen und gab mit ihrer Standarte ein Zeichen? Ein erster sprang auf, die anderen folgten - und wie es dann kam, wußte keiner mehr genau. Nur daß man neuerdings die Leitern hinaufkletterte, die Brüstung erreichte und in die Festung sprang [...] Daß die Godons mit Lanzen und Steinen und zuletzt mit den Fäusten kämpften, und schließlich zur entge­gengesetzten Seite aus dem Vorwerk flohen, auf die Zugbrücke, die zum Fort La Tourelle führte.

Das Vorwerk „Boulevard“ war erstürmt, aber noch stand La Tourelle. Wenn die Godons La Tourelle erreichten, waren sie gerettet.

„Hinüber zur Tourelle!“ Man stieß, man balgte sich, Kopf an Kopf, Mann über Mann, Glasdale selbst stand an der Zugbrücke, die Axt in der Hand, um den Rückzug zu decken [...]

Festgehalten am südlichen Ausgang, hatte niemand bemerkt, daß von der Seite der Stadt her Menschen über den Fluß kamen, - obwohl die Brücke zerstört war. Einer hatte vom Südtor her eine Leiter vorgeschoben, und als diese nicht reichte, sie mit einer Dachrinne verlängert. Zu spät sahen die Engländer, daß ein Franzose über die Dachrinne ging wie ein Seiltänzer, daß neue Bretter gelegt und schließlich Feuer an die nördliche Seite der Tourelle gelegt wurde.


„Schießt sie ab!“ schrie es in der Tourelle. Da aber geschah das Unerhörte: die Pfeile entfielen den Händen, entgeisterte Augen starrten in den Himmel. Sankt Michael – und um ihn eine Welt von Engeln erschien leuchtend über dem flimmernden Himmel von Orléans. Der Erzengel kämpfte auf der Seite der Franzosen.

„Fort von den Schießscharten! Fort aus der Tourelle!“ In wirrer Flucht stürzte es über enge Treppen abwärts auf die Zugbrücke. Die Fliehenden aus dem Vorwerk kamen ihnen Leib an Leib entgegen, vergebens schrie Glasdale zwischen den Eingekeilten.

„Classidas, Classidas!“ tönt da, von der Seite des Vorwerks her, eine Mädchenstimme. „Ergebt Euch dem Himmelskönig! Ihr habt mich eine Hure geheißen, aber ich habe Mitleid mit Eurer Seele und den Seelen von Euch allen [...]“ Hat Glasdale noch die Worte gehört? Im nächsten Augenblick brach die Brücke unter ihm zusammen. Ein Brandboot der Franzosen hatte sie von unten her angezündet, gurgelnd schloß sich die Loire über den schweren Rüstungen, über der gesamten Besatzung der Tourelle. Als neue Bretter über die zerstörte Zugbrücke gelegt waren, zogen die Franzosen in ein menschenleeres Fort ein, und Johanna kam durch das Südtor nach Orléans zurück, wie sie es am Morgen dem Schatzmeister gesagt hatte. Sie trug die Standarte, das Visier war aufgeklappt, und über ihre Wangen flossen Tränen. Sie hatte Orléans retten, aber nicht die Feinde töten wollen.

Sie waren alle tot: Glasdale und seine Hauptleute und die große Mehrzahl der Besatzung aus beiden Festungen. Die wenigen Gefangenen, die am Leben blieben, hatten das Entsetzen in den Augen. Sankt Michael selbst sei es gewesen, schwuren sie, und alle hätten ihn gesehen.

Durch ganz Orléans sang man das Te Deum so laut, daß es die Glocken sämtlicher Kirchen übertönte.

Der Prozess gegen Johanna von Orleans

Michael und die Jungfrau von Orleans, aus: Martin Sandkühler: Michael der Gottesheld.


Die folgenden Stellen stammen aus den offiziellen Vernehmungsprotokollen des Prozesses gegen die Jungfrau von Orleans. Wir erleben hier unmittelbar den Wandel in der Bewußtseinshaltung der Menschen an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit.

Die Richter, alle gelehrte Theologen und Juristen, verkörpern gewissermaßen mit ihrer Skepsis, ihrem bohrenden Intellekt die Richtung der materialistischen Naturwissenschaft - nicht eigentlich die Haltung gläubiger Priester. Johanna dagegen, mit ihren herzenswarmen, klaren und sicheren Antworten, die schlicht und unmittelbar zu uns dringen, verkörpert den tief gläubigen Menschen, der sich seiner Sendung doch ganz bewußt ist und überzeugend seine Stellung im kosmischen und geschichtlichen Geschehen darlegt und vorlebt.

Magister Jean Beaupere, Lizentiat der Heiligen Theologie, Domherr von Rouen, befragt Johanna in der vierten öffentlichen Sitzung im Prozeß gegen sie:

MAGISTER: Nun sagt schon: Was hat Euch die Stim­me verkündet?

JOHANNA: Ich habe sie um Rat gefragt über einige Fragen, die Ihr mir gestellt habt.

MAGISTER: Und die Stimme hat Euch Rat erteilt?

JOHANNA: Über bestimmte Punkte, ja, über andere könntet Ihr mir Fragen stellen, die ich nicht beantworten dürfte. Denn antwortete ich ohne Erlaubnis, so blieben meine Stimmen womöglich aus! Aber hätte ich die Erlaubnis Gottes, ich fürchtete nicht zu sprechen, denn ich hätte auch ihre Bürgschaft.

MAGISTER: War die Stimme die eines Engels? Oder die eines Heiligen oder einer Heiligen, oder auch die Stimme Gottes selbst, ohne einen Mittler?

JOHANNA: Es waren die Stimmen der Heiligen Katharina und der Heiligen Margareta. Ihre Häupter waren gekrönt mit schönen, reichen und kostbaren Kronen. Gott hat mir erlaubt, das zu sagen. Wenn Ihr zweifelt, so sendet nach Poitiers, wo man mich früher verhört hat.

MAGISTER: Wer von den Heiligen ist Euch zuerst erschienen?

JOHANNA: Der Heilige Michael.

MAGISTER: Ist es lange her, seit Ihr die Stimme des Heiligen Michael zuerst vernahmt? Und welches war die erste der Stimmen, die zu Euch kam, als Ihr etwa dreizehn Jahre alt wart?

JOHANNA: Das war der Heilige Michael, den ich vor meinen Augen sah. Er war nicht allein, sondern von Engeln des Himmels begleitet.

MAGISTER: Habt Ihr den Heiligen Michael und die Engel leibhaft und wirklich gesehen?

JOHANNA: Ich habe sie mit meinen Augen gesehen, wie ich Euch alle sehe. Als sie mich verließen, weinte ich, denn ich wünschte, sie hätten mich mit sich fortgenommen.

MAGISTER: Wie sah der Heilige Michael aus?

JOHANNA: Ich darf es Euch nicht sagen. [...]

In der fünften, sechsten und siebenten öffentlichen Sitzung sowie in Sonderverhören wird Johanna von einem anderen Richter befragt:

[...]

RICHTER: Welches Aussehen hatte der Heilige Mi­chael, als er Euch erschien?

JOHANNA: Ich habe ihn nicht mit der Krone gese­hen. Von seinen Gewändern weiß ich nichts.

RICHTER: Johanna, Ihr habt mir gesagt, daß der Heilige Michael Flügel hätte. Aber Ihr habt uns nichts von den Gestalten und den Gliedern der Heiligen Katharina und der Heiligen Margareta berichtet. Was habt Ihr uns darüber zu sagen?

JOHANNA: Ich habe Euch gesagt, was ich weiß, und ich werde Euch nichts anderes antworten. Ich habe ­den Heiligen Michael und die Heiligen Frauen erblickt, und ich weiß wohl: es sind die Heiligen des Paradieses.

RICHTER: Glaubt Ihr, daß der Heilige Michael und der Heilige Gabriel wirkliche Personen sind?

JOHANNA: Ich habe sie mit meinen eigenen Augen gesehen, und ich glaube an ihr Dasein ebenso fest wie an Gott.

[...]

RICHTER: Habt Ihr ein Zeichen, daß Eure Erscheinungen gute Geister sind?

JOHANNA: Der Heilige Michael verbürgte es, noch ehe die Stimmen kamen.

RICHTER: Wieso wußtet Ihr, daß es der Heilige Michael war?

JOHANNA: Durch die Redeweise und Sprache der Engel; ich glaube fest, daß es Engel waren.

RICHTER: Woher wußtet Ihr, daß dies die Sprache der Engel war?

JOHANNA: Ich habe es bald geglaubt, und ich habe es willig geglaubt. Als mir der Heilige Michael erschien, sagte er mir, daß die Heilige Katharina und die Heilige Margareta zu mir kämen, und daß ich tun sollte, was sie mir raten würden; daß sie den Befehl erhalten hätten, mich zu leiten und zu beraten; daß ich ihnen glauben sollte, und daß es auf Befehl unseres Herrn sei.

RICHTER: Und wenn sich der Böse in Gestalt oder Aussehen eines Engels zeigte, wie erkänntet Ihr ihn?

JOHANNA: Ich erkännte genau, ob es wahrhaftig der Heilige Michael wäre oder ein betrügerischer Nach­ahmer! Das erstemal zweifelte ich wohl, ob das der Heilige Michael sei. Und das erstemal hatte ich große Furcht; ich mußte ihn mehrere Male sehen, ehe ich wußte, daß es der Heilige Michael war.

[...]

RICHTER: Was lehrte er Euch?

JOHANNA: Vor allen Dingen hieß er mich, ein gutes Kind zu sein, und Gott würde mir helfen. Und unter anderem sagte er mir, daß ich dem König von Frank­reich zu Hilfe kommen sollte. Das meiste von dem, was der Engel mir auftrug, ist in Eurem Buch. Und der Engel berichtete mir von dem großen Elend, in dem Frankreich war. [...]