Der Streit Michaels mit dem Drachen

dargestellt für die Waldorfschul-Lehrerschaft

Rudolf Steiner, Vortrag vom 16.10.1923, GA 302a, S. 135-146.


[...] Ja, meine lieben Freunde, da tritt an einem eklatanten Punkt das zutage, daß wir heute das Niveau der Wahrheit haben und das Niveau der Unwahrheit. Aber das Niveau der Unwahrheit im öffentlichen Geschehen. Und beide berühren sich in keinem Punkte. Das müssen wir uns vor Augen stellen; denn das hängt innig zusammen mit dem, was das ganze Geistesleben unserer Zeit bedeutet. An einem solchen eklatanten Punkte zeigt sich, was sonst überall weniger eklatant, weniger auffallend da ist. Aber wir müssen erst ein richtiges Bewußtsein von dem erzielen, was zu geschehen hat in der Gegenwart, um die Wahrheit an die Stelle desjenigen zu setzen, was gegenwärtig geschieht. Nur muß man den richtigen Weg finden, um natürlich nicht alles umzuwerfen, um nicht in irgendeinen falschen Radikalismus, der zu nichts führt als zur Zerstörung, dasjenige zu sehen, was man tun kann. Man muß die Möglichkeit finden, eine klare Einsicht zu haben, und dann an demjenigen Punkt wirken, wo in fruchtbarer Weise gewirkt werden kann. Und am fruchtbarsten kann gewirkt werden gerade auf dem Gebiete des Unterrichts und der Erziehung. Da kann [...] der Lehrer einfließen lassen das, was ihm aus einem richtigen Erzieher‑ und Unterrichterberuf kommt; aber er muß Begeisterung haben aus einer Menschenerkenntnis, die totes Wissen belebt, und auf der anderen Seite Enthusiasmus, der hervorgeht aus einer wirklich unbefangenen Auffassung desjenigen, was heute im Leben eigentlich da ist. [...]

Wirklich, es ist manchmal etwas ungeheuer Schmerzliches, wenn man heute zum Beispiel zu Anthroposophen redet und eigentlich ge­zwungen ist, den Leuten lauter Dinge zu sagen, die, ich meine das nicht im schlimmen Sinne, doch die Welt auf den Kopf stellen in bezug auf das, was die Menschen gelernt haben, und es wird gar nicht aufgepaßt. Wenn man das ganze Schwergewicht dessen erfaßt, was es heißt, über so etwas wie, sagen wir zum Beispiel, das meteorische Eisen so zu reden, wie das gestern geschehen ist, so ist man erstaunt, mit welcher Gleichgültigkeit so etwas hingenommen wird. Von denjenigen, die nichts gelernt haben, begreife ich es; von denjenigen, die die wissenschaftlichen Begriffe über das Eisen aufgenommen haben, begreift man es nicht. Aber so ist die Welt einmal heute.

Aber so darf die Welt nicht sein im Kopf und namentlich im Herzen des Erziehers und Unterrichters. Der muß impulsiert sein von dem Bewußt­sein: alles Wissen, in das wir hineingekommen sind durch das neuere Wissen, ist totes Wissen; und wir müssen aus dem Tod heraus ein Leben­diges schaffen, und nur dieses können wir in der Schule brauchen, was aus diesem Enthusiasmus heraus kommt. Wenn Sie durchdrungen sind auf der einen Seite von dem, was Ihnen aufgehen kann durch eine solche Menschenerkenntnis, auf der anderen Seite von dem Bewußtsein der Notwendigkeit, daß Wahrheit gesetzt werden muß anstelle der Lüge, [...] wenn man durchdrungen ist von diesen Notwendigkeit und weiß, daß es vor allem Aufgabe des Lehrers ist, sich die Richtung zu geben aus einer Erkenntnis dieser Notwendigkeit heraus, aus einer Erkenntnis des Kras­sen, das darin liegt, wie heute im öffentlichen Leben Wahrheit aussieht, dann geht etwas im Menschen vor, was auf alle Gebiete abfärbt.

Sie wer­den ein anderer Eurythmielehrer, anderer Kunsthistoriker, ein anderer Mathematiklehrer, auf jedem Gebiet werden Sie anders, wenn Sie in rea­lem Sinn durchzogen sind von diesem Bewußtsein. Auf diesen Enthusi­asmus kommt alles an. Es ist nicht die Zeit, wo man sich knifflig über Finessen dieser oder jener Methode zu unterhalten hat; wir müssen Leben in die Welt bringen, die vor der Gefahr steht, sich durch ihr Totes, Intel­lektualistisches weiter zu töten.

Man hat sich im Grunde genommen abgewöhnt, innerlich entsetzt zu sein über die Dinge, die da sind. Aber mit dem bloß ein gelangweiltes Gesicht machen gegenüber den Dingen, die abgewiesen werden müssen in unserer Zeit der Zivilisation, mit dem kann man ganz gewiß nicht erziehen. [...]

Der Drache hat die verschiedenste Gestalt; der Drache hat alle möglichen Gestalten. Die von menschlichen Emotionen kommenden sind schädlich genug, aber die sind nicht so schädlich wie diejenige Gestalt, die der Drache von dem toten, von dem ertötenden Wissen der Gegenwart bekommt. [...]

Das, was heute gesagt ist, ist die Form, wie heute der Streit Michaels mit dem Drachen unter Lehrern und Erziehern leben soll. Das ist, was ich Ihnen darstellen wollte; wir müssen dahin kommen, diesen Michaels‑Streit wieder als eine Realität vor uns hinzustellen [...]