Christ-Offerus

Jakob Streit, aus: Die Reise zur Sonne. Geschichten zu Ostern, Pfingsten und Johanni. Urachhaus, 1996.


Es war einmal ein Riese, der hatte so starke Kraft, daß er von Hand einen Tannenbaum samt der Wurzel ausreißen konnte. Sein Name war Offerus. Schon bei manchem Bauern hatte er Arbeit verrichtet; aber auf keinem Hofe blieb er lange Zeit; denn immer wieder war die Arbeit bald getan, und das Nichtstun langweilte ihn sehr. Da sprach er bei sich selbst: „Ich will den allermächtigsten Herrn auf der Welt suchen, und nur dem will ich dienen; der kann gewiß meine ganze Kraft brauchen.“ Also reiste Offerus von Land zu Land, von Stadt zu Stadt, und überall fragte er nach dem mächtigsten Herrn.

Schließlich kam er an einen Königshof. Ein Handwerksbursche hatte ihm gesagt, dieser König sei der mächtigste weit und breit. Offerus ließ sich vor den Thron führen und bot seine Dienste an. Wie der König den kräftigen Riesen erblickte, sprach er: „Nie hätte ich dich besser brauchen können als eben jetzt! Du sollst unter meinen Kriegsknechten der gewaltigste sein; mit dir wird sich jede Schlacht gewinnen lassen.“

Der König hatte nämlich gerade auf diesen Tag alle Krieger seines Landes zu sich herbefohlen. Er mußte sie zu einem Heere sammeln, weil der Nach­barkönig eingebrochen war, eine Stadt überfallen und niedergebrannt hatte. Dem wollte er nun ein starkes Heer entgegenschicken. In aller Eile mußte der königliche Waffenschmied für Offerus ein riesengroßes Schwert hämmern; denn alle anderen im Schlosse waren viel zu klein für ihn. An­dern Tages zog das Heer in den Kampf, der Riese an dessen Spitze. Schon am dritten Tage kam ein schneller Bote zurück ins Schloß und meldete: „Be­kränzet das Tor, bekränzet den Turm, unsere Krieger haben gesiegt! Es war furchtbar zu schauen, wie Offerus kämpfte. Da blieb für die andern Kriegs­gesellen wenig zu tun; vor den Streichen des Riesenschwertes floh der Feind in die Wälder und zerstreute sich in die Berge; der Räuberkönig ist erschla­gen!“

Bald läuteten von allen Türmen der Stadt die Glocken. Türen und Treppen des Schlosses wurden mit Blumen bekränzt. Der König befahl, im großen Saale die Tafel herzurichten, um das Siegesfest würdig zu feiern. Ein Harfen­spieler sollte zur Saitenmusik singen, und Schwerttänzer waren bestellt, ihre Kunst zum besten zu geben.

Am Abend erleuchteten viele Lichter den Saal. Offerus saß neben dem König. Wie der Harfner spielte, sang er ein Lied in die Saitentöne, worin der Name des Teufels stand. Da zeichnete der König unvermerkt mit dem Finger ein Kreuz über die Stirne.

Offerus hatte dies wahrgenommen. „Merkwür­dig“, dachte er, „was da der König getan hat.“ Das Lied verklang, und die festliche Schar trank heiter aus dem Becher. Als der König den Riesen fragte, wie ihm der Gesang gefallen habe, sprach dieser: „Eines nimmt mich wun­der, o König; warum hast du plötzlich ein Zeichen über deine Stirne gezo­gen?“ Antwortete der König: „Das tu‘ ich immer, wenn der Name des Teu­fels an mein Ohr dringt; seine Macht ist groß in dieser Welt!“ Sprach Offerus wieder: „Ist denn des Teufels Macht größer als die deine?“ – „Ich regiere über ein Land, der Teufel hat Macht in der ganzen Welt!“ sprach der König.

Offerus hatte noch nie vom Teufel gehört und meinte, das sei auch ein König. Er dachte: „Wenn es einen gibt, der noch mächtiger ist als dieser König, dann will ich fort von hier und den andern suchen. Dem allergrößten Könige will ich dienen!“

Am folgenden Tag nahm Offerus Abschied, so ungern ihn der König zie­hen ließ, und wanderte weiter in die Welt.

Überall auf seinem Wege trug er, wo der Teufel wohne; aber niemand konnte ihm Bescheid geben. Ja man­cher, den er befragte, erschrak ob der Frage, so daß Offerus dem unbekann­ten Könige noch größere Achtung zollte.

Wie der Riese einst durch den finsteren Wald schritt, gesellte sich von hinten die Gestalt eines seltsamen Wanderers zu ihm. Grünlich war sein Kleid; von seinem Kinn stach ein spitzes Bärtchen in die Luft, und eine schwarze Feder zierte den Hut. Sogleich frug Offerus: „Wanderer, kannst du mir sagen, wo ich den Teufel trefft?“ – „Er geht neben dir – ich bin es selbst!“ antwortete der Grüne. „Ist es wahr, daß du Macht hast in der gan­zen Welt?“ – „So ist es!“ antwortete der Teufel. „Dann sage mir, darf ich dein Diener sein? Hast du Arbeit für mich?“ (Das fragte Offerus, weil er nicht wußte, daß des Teufels Werk böse ist). „Ich weiß eine Arbeit, komm mit mir!“ winkte der Teufel und sprang voran, schräg durchs Gebüsch.

Als sie eine Weile gegangen waren, blieb der Grüne bei einer großen Tanne stehen und befahl: „Reiß aus!“ Offerus riß den Baum mit einem Ruck aus der Erde. Noch mußte er die Äste abbrechen, dann winkte der Teufel wiederum, und er folgte ihm, den mächtigen Stamm auf der Schulter tra­gend. Bald traten sie aus dem Walde und kamen an einen Ort, wo fleißige Männer seit Wochen an einer Kapelle bauten. Schon waren die Hölzer des Dachstuhles aufgesetzt, und am Aufrichtetännchen flatterten helle Streifen. Feierabend war es; die Arbeiter hatten die Stätte verlassen; am Morgen wollten sie das Dach mit Ziegeln decken.

„Schlag da drauf, aber stark!“ rief der Teufel und zeigte auf den Bau. Alsbald zerschlug der mächtige Tannenstamm die Dachhölzer und zertrüm­merte die Mauern, daß nicht ein Stein auf dem andern blieb.

„Die erste Arbeit hast du gut getan“, lobte der Teufel und schmunzelte.

Offerus wußte nichts anderes, als zu tun, was sein neuer Herr ihm befahl, und folgte ihm weiter auf seinem Wege.

Als am anderen Tage die Arbeiter gegen die Kapelle kamen, sahen sie mit großer Betrübnis den zerstörten Bau. „Das hat der Böse getan!“ rief einer. „Laßt uns ein Kreuz am Wege aufrichten, bevor wir weiterbauen; das wird ihn abhalten.“ Wie gesagt, steckten sie ein Holzkreuz mitten in den Weg, der zur Kapelle heraufführte. An die Arbeit tretend, sangen sie ein Lied und begannen die Trümmer wiederum aufzubauen.

Nach einiger Zeit, als schon das Dach den heiligen Raum schirmte, kam der Teufel wieder mit Offerus zu diesem Orte. Wiederum trug der Riese ei­nen Tannenstamm. Der Teufel ging voran. Wie er in die Nähe des Kreuzzei­chens kam, zuckte er zusammen, bockte zur Seite und lief einen weiten Bogen darum herum. Verwundert blieb Offerus stehen: „Das Kreuz über die Stirne, das Kreuz im Wege – sag, Teufel, warum springst du auf die Seite?“ „Frage nicht und schlag aufs Dach: schau, schon die Ziegel haben sie oben!“ – „Und ich schlage keinen Streich, bis du mir sagst, was dieses Holz bedeu­tet!“ – „Ich werde mich hüten“, sprach der Teuf el, „seinen Namen auszu­sprechen.“ – „Ist das so ein gefährlicher Name, daß sich der Teufel davor hüten muß?“ fragte Offerus. „Gibt es etwa einen Herrn, der noch stärker ist als du?“

Jetzt trat der Teufel nahe an ihn heran und flüsterte: „Es gibt einen, der hat auf der Erde und im Himmel Macht; frage nicht weiter danach, komm, schlage tüchtig zu!“ Aber Offerus antwortete: „Wenn es einen Herrn gibt, der nicht nur über ein Land, nicht nur über die Welt, sondern auch noch im Himmel Macht hat, dann ist das der größte König, nur dem will ich dienen!“

Mit diesen Worten schlug der Riese den Baumstamm zur Erde, gerade dem Teufel auf den Fuß. Dann schritt er auf die Kapelle zu und ließ den Teufel fluchend davonhinken.

Am frühen Morgen kamen die Arbeiter. Sie fanden den zersplitterten Baumstamm im Weg und einen schlafenden Riesen im Gemäuer. Den hat­ten die Stimmen geweckt, und er trat hinaus zu den erschrockenen Män­nern. Er achtete wenig auf ihre Furcht, zeigte mit der Hand auf das Kreuzholz und frug: „Was ist das für ein König, dem dieses Zeichen zugehört?“ Die Bauleute antworteten: „Das können wir dir nicht so recht sagen, lieber bauen wir an seinem Hause; aber geh eine Stunde gegen Sonnenaufgang; dort fließt ein Strom. Darob findest du im Felsen eine Höhle, darin ein alter Mann, ein Einsiedler, wohnt; der kann es dir wohl sagen.“

Offerus begab sich auf den Weg und fand alles, wie die Männer ihm erklärt hatten. Er stieg vom Strome hinauf in den Felsen; ein schmaler Pfad wies ihm den Ort der Höhle.

Verwundert schaute der Einsiedler auf den Riesen, der da vor seine Klause trat. „Was willst du von mir?“ Sprach Offerus: „O sage mir, Alter, wo kann ich den König finden, der über alle Erde und im Himmel Macht hat?“ – „Zwei der Wege gibt es, ihn zu finden“, äußerte sich der Greis; „der erste heißt dich einen stillen Ort aufsuchen wie ich; wenig Speise mußt du essen und die Geschichten der Heiligen Schrift lesen.“ –„Das ist nicht mein Weg“, erwiderte Offerus, „Lesen kann ich nicht, stille sein mag ich nicht. Schau meine Arme mit ihrer Kraft, die wollen schaffen!“

Der Einsiedler nickte und fuhr fort: „So höre den zweiten Weg: Da mußt du mit aller Kraft den Menschen dienen. Siehst du dort unten den breiten Fluß? Keine Brücke führt darüber, und doch möchten jeden Tag viele Wan­derer ans andere Ufer. Steige hinunter, baue eine Hütte ans Wasser und trage die Menschen hinüber auf deinen starken Schultern.“

„Das tu‘ ich gerne!“ rief Offerus, dankte dem Alten und schritt wieder der Tiefe zu. Eine Hütte war bald ans Ufer gebaut, und fortan trug der Riese zu jeder Stunde die Wanderer hinüber, ohne daß er daran dachte, Lohn zu fordern. Gab ihm einer ein Brot oder Früchte, so sagte er Dank.

Das erste Jahr ging zu Ende. Offerus stieg hinauf zur Höhle des Einsiedlers und sprach: „Alter Mann, der große König ist noch nicht gekommen.“ –„So trage noch ein Jahr; er wird schon kommen.“ Und er schritt wieder hinab zum Strome, der getreue Riese.

Also stieg Offerus Jahr um Jahr hinauf zum Einsiedler, und sein König kam nicht. Zum siebenten Male schon schickte ihn der Alte wieder hinunter an den Fluß; doch Offerus murrte nicht.

In einer wilden Nacht, als es draußen fürchterlich stürmte, schlief Offerus in seiner Hütte einen tiefen Schlaf. Plötzlich erwachte er. Ganz deutlich war ihm, er hätte eine Stimme rufen hören vom andern Ufer her. Er stand auf, ergriff den mächtigen Stab und schritt in die tosenden Wellen. Aber drüben fand er niemand zum Tragen; nur der Wind sauste gewaltig durch die Bäume. „Hab ich wohl im Schlafe den Wind rauschen gehört?“ dachte er und legte sich wieder in die Hütte. Kaum war er von neuem eingeschlafen, schrak er wieder auf. Ganz deutlich hatte ein Kind gerufen. Wiederum schritt Offerus durch das Wasser. Die Wellen gingen nicht mehr so hoch, und der Wind hatte sich etwas gelegt. Am anderen Ufer war weit und breit kein Mensch. – Er rief in die Nacht; keine Antwort erfolgte. „Merkwürdig“, brummte er in seinen Bart, „ich habe doch rufen hören,“ Es blieb ihm nichts übrig, als sich wieder in die Hütte zu legen.

Zum dritten Male erwachte er. Draußen schwiegen Welle und Wind. Eine silberhelle Stimme rief: „Hol herüber, Offerus!“ Wie er vor die Hütte trat, leuchtete ihm vom andern Ufer her ein Lichtschein entgegen; es wollte ihm scheinen, ein Kind stehe darin und warte. Offerus schritt durch den Strom und sah jetzt deutlich, wie die zierliche Gestalt vom Lichte ganz umflossen war. Drüben beugte er sich vor dem wundersamen Kinde und hob es sachte auf seine Schulter.

Wie er zurück durchs Wasser schritt, begann das Kind schwer und schwerer auf ihm zu lasten. Mit jedem Schritte mußte er tiefer das Knie beugen. Auch fingen Wind und Wasser wieder an zu brausen; hoch schlugen die Wellen an Bart und Gewand. In der Mitte des Stromes sank er in die Knie; es war ihm, die ganze Erde laste auf seinen Schultern. Er glaubte zu versinken, richtete das Haupt aufwärts und sprach verzagt: „O Kind, wie bist du schwer!“ Da antwortete es von oben mit heller Stimme: „Offerus, du trägst mehr als die Welt, du trägst den, der sie erschaffen hat.“ Und wie er so auf schaute, erhob sich über ihm eine hehre Lichtgestalt. Ihr Antlitz leuch­tete wie die Sonne, und ein Sternenkranz umstrahlte ihr Haupt. Es war Christus, der Herr, und er sagte: „Du hast auf mich gewartet sieben Jahre und treu den Menschen gedient. So taufe ich dich auf meinen Namen: Heiße fortan Christ‑Offerus. Bei deiner Hütte stecke den Stab in die Erde, wenn aus dem dürren Holze grüne Blätter sprießen, wirst du bei mir sein.

Das Licht verging; die Schulter wurde leicht, und die Sterne glänzten wie­der wie zuvor. Christofferus richtete sich auf, schritt zur Hütte und steckte seinen Stab tief in die Erde.

Am dritten Tag darnach riefen die Wanderer vergebens nach dem Riesen; niemand trat aus der Hütte, sie hinüberzutragen. Man kam zur Hüttentüre und fand den Stab des Riesen in der Erde stecken; über und über waren grüne Blätter herausgewachsen. Laute Stimmen riefen nach ihm; er kam nicht. Drinnen fand man seinen leblosen Leib auf der Erde liegen.

Auf diese Kunde hin kamen aus nahen und fernen Gegenden Menschen herbei und trauerten um den guten Träger, hatte er sie doch bei Tag und Nacht, in Sturm und Wetter ans andere Ufer gebracht. Ein Bote stieg hinauf zum Einsiedler und erzählte, was er angetroffen habe. Der Alte nickte und sprach: „Gebt dem Riesen das Grab; Christofferus hat den größten König gefunden; ich muß noch warten...“