Ostern
Das Mal der Geheimen Bruderschaft
aus Ottfried Preußler: Krabat. Arena, 1976.
Am folgenden Tag, dem Karsamstag, brauchten die Mühlknappen nicht zu arbeiten, was die meisten von ihnen zum Anlaß nahmen, sich nach dem Frühstück wieder aufs Ohr zu legen.
„Auch du“, sagte Tonda zu Krabat, „solltest hinaufgehen und auf Vorrat schlafen.“
„Auf Vorrat - wieso?“
„Du wirst es erfahren. Leg dich jetzt hin und versuch zu schlafen, so lang du kannst.“
„Schön“, maulte Krabat, „ich geh ja schon ... Und entschuldige, daß ich gefragt habe...“
Auf dem Dachboden hatte jemand das Giebelfenster mit einem Tuch verhängt, das war gut so, da schlief es sich rascher ein. Krabat legte sich auf die rechte Seite, den Rücken zum Fenster, den Kopf in die Arme geschmiegt. So lag er und schlief, bis Juro ihn wecken kam. „Aufstehen, Krabat, das Essen steht auf dem Tisch!“ „Was - schon Mittag?“
Juro zog lachend das Tuch vom Fenster weg.
„Mittag ist gut!“ rief er. „Draußen geht bald die Sonne unter, du Siebenschläfer!“
An diesem Tag gab es für die Mühlknappen Mittag- und Abendessen in einem, besonders fett und besonders reichlich, fast schon ein Festmahl.
„Eßt euch nur tüchtig satt!“ mahnte Tonda. „Ihr wißt ja, es muß eine Weile vorhalten!“
Nach dem Essen, bei Anbruch der Osternacht, kam der Meister zu ihnen in die Gesindestube und schickte die Burschen aus, sich „das Mal zu holen“.
Sie bildeten einen Kreis um ihn, dann begann er sie auszuzählen, wie Kinder es tun, wenn sie Schwarzer Mann spielen oder Der-Fuchs-geht-um. Mit Worten, die fremd und bedrohlich klangen, zählte der Meister je einmal von rechts nach links und von links nach rechts. Beim erstenmal traf es Staschko, beim zweitenmal Andrusch. Schweigend verließen die beiden den Kreis und entfernten sich, während der Meister aufs neue zu zählen anfing. Jetzt waren es Merten und Hanzo, die gehen mußten, dann Lyschko und Petar - zum Schluß blieben Krabat und Tonda übrig.
Ein letztesmal wiederholte der Meister die dunklen Worte, langsam und feierlich; dann entließ er die beiden mit einer Handbewegung und wandte sich ab.
Tonda bedeutete Krabat, daß er ihm folgen möge. Schweigend verließen auch sie die Mühle, schweigend gingen sie miteinander zum Holzschuppen.
„Warte hier einen Augenblick!“ Tonda holte zwei Wolldecken aus dem Schuppen. Eine davon gab er Krabat, dann schlug er den Weg nach Schwarzkollm ein, am Mühlenweiher vorbei, durch den vorderen Koselbruch.
Als sie den Wald betraten, brach vollends die Nacht herein. Krabat bemühte sich, dicht hinter Tonda zu bleiben. Ihm fiel ein, daß er hier schon einmal gegangen war, in entgegengesetzter Richtung, einsam zur Winterszeit. Und das sollte kaum weiter zurückliegen als ein Vierteljahr? Nicht zu fassen!
„Schwarzkollm“, sagte Tonda nach einer Weile.
Sie sahen die Lichter des Dorfes zwischen den Stämmen aufschimmern, hielten sich aber von jetzt an nach rechts, auf die freie Heide hinaus. Der Pfad war nun sandig und trocken, er führte an einzelnen dürftigen Bäumen vorbei durch Gebüsch und Kusseln. Der Himmel hier draußen war hoch und weit, voller Sternenglanz. „Wohin gehen wir?“ wollte Krabat wissen. „Zum Mordkreuz“, sagte der Altgesell.
Wenig später gewahrten sie in der Heide den Widerschein eines Feuers, das auf dem Grund einer Sandkuhle brannte. Wer mochte es wohl entfacht haben?
„Hirten“, sagte sich Krabat, „sind das gewiß nicht, so früh im Jahr; dann schon eher Zigeuner oder ein wandernder Rastelbinder mit seinem Kram.“ Tonda war stehengeblieben.
„Sie sind uns zuvorgekommen beim Mordkreuz - laß uns zu Bäumels Tod gehen.“
Ohne ein Wort der Erklärung machte er kehrt. Sie mußten den Pfad, auf dem sie gekommen waren, zurückstapfen bis zum Wald; dort bogen sie dann zur rechten auf einen Feldweg ein, der führte sie an Schwarzkollm vorbei und mündete jenseits des Ortes auf eine Fahrstraße, die sich am gegenüberliegenden Waldrand dahinzog. „Gleich sind wir da“, meinte Tonda.
Der Mond war inzwischen aufgegangen und leuchtete ihnen. Sie folgten der Straße bis an die nächste Biegung, wo sich im Schatten der Föhren ein mannshohes Holzkreuz fand, stark verwittert schon, ohne Inschrift und Schmuck.
„Bäumels Tod“, sagte Tonda. „Vor vielen Jahren ist hier ein Mann namens Bäumel ums Leben gekommen: beim Holzfällen, wie man sagt - genau weiß das heute niemand mehr.“
„Und wir?“ fragte Krabat. „Weshalb sind wir hier?“
„Weil der Meister es so verlangt“, sagte Tonda. „Wir müssen - wie alle - die Osternacht unter freiem Himmel verbringen, je zwei miteinander an einer Stelle, wo jemand gewaltsam zu Tode gekommen ist.“
„Und was nun?“ fragte Krabat weiter.
„Wir zünden ein Feuer an“, sagte Tonda. „Dann wachen wir unter dem Kreuz, bis der Morgen graut - und bei Anbruch des Tages werden wir uns mit dem Mal versehen: einer den anderen.“
Sie hielten das Feuer mit Absicht niedrig, um in Schwarzkollm kein Aufsehen zu erregen. Jeder in seine Decke eingehüllt, saßen sie unter dem Holzkreuz und wachten. Ab und zu fragte Tonda den Jungen, ob er nicht friere, oder er hieß ihn ein paar von den dürren Ästen ins Feuer schieben, die sie am Waldrand gesammelt hatten. Später verstummte er mehr und mehr; da versuchte es Krabat von sich aus mit einem Gespräch.
„Du - Tonda?“
„Was gibt's?“
„Ist das immer so in der Schwarzen Schule? Der Meister liest einen Abschnitt aus dem Koraktor vor, und dann heißt es: Sieh zu, wie du ihn im Kopf behältst...“
„Ja“, sagte Tonda.
„Ich kann mir nicht vorstellen, daß man auf die Art zaubern lernt.“
„Doch“, sagte Tonda.
„Ob ich den Meister erzürnt habe, weil ich unaufmerksam gewesen bin?“
„Nein“, sagte Tonda.
„Ich will mich in Zukunft zusammennehmen und aufpassen, daß ich mir alles merke. Glaubst du, ich schaffe es?“
„Doch“, sagte Tonda.
Er schien nicht besonders darauf erpicht zu sein, sich mit Krabat zu unterhalten. Den Rücken gegen das Kreuz gelehnt, saß er aufrecht da, reglos, den Blick in die Ferne gerichtet, über das Dorf hinaus auf die mondhelle Heide. Von jetzt an sagte er überhaupt nichts mehr. Als Krabat ihn leise beim Namen rief, gab er ihm keine Antwort: ein Toter hätte nicht tiefer schweigen, nicht starrer blicken können. Mit der Zeit wurde Tondas Verhalten dem Jungen unheimlich. Er entsann sich, davon gehört zu haben, daß manche Leute sich auf die Kunst verstanden, „aus sich hinauszugehen“, indem sie aus ihrem Körper ausschlüpften wie ein Schmetterling aus der Puppe und ihn als leere Hülle zurückließen, während ihr wahres Ich seiner Wege ging, unsichtbar, auf geheimen Pfaden einem geheimen Ziel nach. War Tonda aus sich hinausgegangen? Konnte es sein, daß er hier am Feuer saß und in Wirklichkeit ganz woanders war? „Ich muß wachbleiben“, nahm sich Krabat vor.
Er stützte sich bald auf den rechten Ellbogen, bald auf den linken; er sorgte dafür, daß das Feuer gleichmäßig weiterbrannte; er machte sich an den Ästen zu schaffen, brach handliche Stücke zurecht und schlichtete sie zu kunstvollen kleinen Stapeln auf. So verrannen die Stunden. Die Sterne zogen am Himmel weiter, die Schatten der Häuser und Bäume wanderten unterm Mond hin und wandelten langsam ihre Gestalt dabei.
Plötzlich, so schien es, kehrte das Leben in Tonda zurück. Sich zu Krabat herüberneigend, zeigte er in die Runde. „Die Glocken ... Hörst du?“
Seit dem Gründonnerstag waren die Glocken verstummt gewesen; jetzt, um die Mitte der Osternacht, fingen sie allerorten wieder zu tönen an. Von den benachbarten Kirchdörfern klang ihr Geläut nach Schwarz-kollm herüber: gedämpft zwar, ein dunkles Gebrause nur, das Gesumm eines Bienenschwarmes - und doch war die Heide und waren das Dorf und die Felder und Wiesen erfüllt davon bis zum fernsten Hügelrand. Fast zugleich mit den fernen Glocken hob in Schwarzkollm eine Mädchenstimme zu singen an, jubelnd sang sie ein altes Osterlied. Krabat kannte es, hatte es selber als Kind in der Kirche mitgesungen; aber es war ihm, als hörte er's heute zum erstenmal.
„Erstanden ist der heilig Christ,
Halleluja, Halleluja!“
Nun fiel eine Gruppe von zwölf oder fünfzehn weiteren Mädchen ein, die sangen die Strophe im Chor zu Ende. Dann stimmte das eine Mädchen die nächste an - und so sangen sie weiter, das eine abwechselnd mit den anderen, Lied um Lied.
Krabat kannte das von daheim. In der Osternacht pflegten die Mädchen singend die Dorfstraße auf und ab zu ziehen, von Mitternacht bis zum Morgengrauen. Sie gingen zu dreien und vieren nebeneinander in dichten Reihen, und eine von ihnen, das wußte er, war die Kantorka: sie, mit der schönsten und reinsten Stimme von allen, ging in der ersten Reihe und durfte vorsingen - sie allein.
Die Glocken tönten von ferne, die Mädchen sangen, und Krabat, am Feuer unter dem Holzkreuz sitzend, traute sich kaum zu atmen. Er lauschte nur - lauschte zum Dorf hinüber und war wie verzaubert. Tonda schob einen Ast in die Glut.
„Ich hatte ein Mädchen lieb“, sagte er. „Worschula war ihr Name. Nun liegt sie seit einem halben Jahr auf dem Friedhof von Seidewinkel: ich hab ihr kein Glück gebracht. - Du mußt wissen, daß keiner von uns auf der Mühle den Mädchen Glück bringt. Ich weiß nicht, woran das liegt, und ich will dir auch keine Angst machen. Solltest du aber jemals ein Mädchen liebhaben, Krabat, dann laß dir's nicht anmerken. Sorge dafür, daß der Meister es nicht erfährt - und auch Lyschko nicht, der ihm alles zuträgt.“
„Haben der Meister und Lyschko damit zu tun, daß dein Mädchen gestorben ist?“ fragte Krabat.
„Ich weiß es nicht“, sagte Tonda. „Ich weiß nur, daß Worschula noch am Leben wäre, hätte ich ihren Namen für mich behalten. Ich habe das erst erfahren, als es zu spät war. Du aber, Krabat - du weißt es nun, und du weißt es rechtzeitig: Gib, wenn du je ein Mädchen hast, ihren Namen nicht preis auf der Mühle! Um nichts auf der Welt laß ihn dir entlocken. Von niemand, hörst du! Im Wachen nicht und im Schlaf nicht – damit du euch nicht ins Unglück bringst.“
„Da sei unbesorgt“, sagte Krabat. „Ich mache mir nichts aus Mädchen und kann mir nicht vorstellen, wie sich das ändern sollte.“
Bei Tagesanbruch verstummten die Glocken und der Gesang im Dorf.
Tonda schnitt mit dem Messer zwei Holzspäne aus dem Kreuz, die steckten sie in die Glut und ließen sie an den Enden ankohlen.
„Was ein Drudenfuß ist“, fragte Tonda, „das weißt du wohl?“
„Nein“, sagte Krabat.
„Sieh her!“
Mit der Fingerspitze zeichnete Tonda eine Figur in den Sand: einen Stern mit fünf Zacken, gebildet aus ebenso vielen geraden Linien, deren jede sich mit zwei anderen überschnitt, so daß sich das Ganze in einem Zug zeichnen ließ.
„Dies ist das Mal“, sagte Tonda. „Versuche es nachzuziehen!“
„Das kann nicht so schwer sein“, meinte der Junge. „Du hast es erst so gemacht... und dann so ... und dann so ...“
Beim drittenmal glückte es Krabat, den Drudenfuß fehlerlos in den Sand zu zeichnen.
„Gut“, sagte Tonda, wobei er ihm einen der beiden Holzspäne in die Hand drückte. „Knie dich ans Feuer und zeichne mir über die Glut weg das Mal auf die Stirn. Ich werde dir vorsprechen, was du zu sagen hast...“ Krabat tat, wie der Altgesell ihn geheißen hatte.
Während die beiden sich gegenseitig den Drudenfuß auf die Stirn schrieben, sprach er ihm langsam nach:
„Ich zeichne dich, Bruder,
Mit Kohle vom Holzkreuz,
Ich zeichne dich
Mit dem Mal der Geheimen
Bruderschaft.“
Dann tauschten sie miteinander den Osterkuß linksherum, scharrten Sand auf die Feuerstelle, verstreuten das übrige Holz und traten den Heimweg an.
Wieder schlug Tonda den Pfad durch die Felder ein, außen am Dorf entlang, auf den von Morgennebeln verschleierten Wald zu - da tauchten vor ihnen die Umrisse schattenhafter Gestalten im Frühlicht auf. Lautlos, in langer Reihe kamen die Mädchen des Dorfes ihnen entgegen: dunkle Tücher um Kopf und Schultern, jede mit einem irdenen Wasserkrug.
„Komm“, sagte Tonda leise zu Krabat, „sie haben das Osterwasser geholt, wir wollen sie nicht erschrecken ...“
Sie duckten sich in den Schatten der nächsten Hecke und ließen die Mädchen vorüberziehen. Das Osterwasser, der Junge wußte es, mußte man schweigend am Ostermorgen vor Sonnenaufgang aus einer Quelle schöpfen und schweigend nach Hause tragen. Wenn man sich darin wusch, erwarb man sich Schönheit und Glück für ein ganzes Jahr - so wenigstens sagten die Mädchen.
Und außerdem konnte man, wenn man das Osterwasser ins Dorf trug, ohne sich dabei umzuschauen, dem künftigen Liebsten begegnen: das sagten die Mädchen auch - und wer weiß, was davon zu halten war.
(...)