Der Heilige und der Berggeist

Maja Muntz-Koundoury, aus: Die Reise zur Sonne. Geschichten zu Ostern, Pfingsten und Johanni. Urachhaus, 1996.


Durch die wüsten Berge des Peloponnes schlängeln sich viele schmale Wege und Pfade von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf.
Auf der einen Seite werden sie oft eingefaßt von steilen, meterhohen Felsen, auf der anderen Seite schweift der Blick des Reisenden über tiefe Abgründe oder, wenn die Hänge dichter zusammenrücken, über dunkle Kluften, in denen in der Regenzeit brausende Wildbäche über Felsbrocken und Steine springen.

An solch einem Weg, in der grauen, kahlen Felswand, die den Berg krönte, befand sich eine Grotte. Es war ein einsamer Ort, an dem selten jemand vorbeikam. Nur der Ruf der Adler, die den Gipfel des Berges umkrei­sten, durchbrach die Stille. In dieser Grotte lebte ein Einsiedler, ein Mann mit sanften Augen und grauen Haaren. Er verbrachte sein Leben im Gebet für die Sünden der Menschen, bat Gott um Gnade, „denn, o Herr, sie wissen nicht, was sie tun“ – so schloß er stets sein Gebet.

Der Weg vor seiner Grotte, der an einer tiefen, dunklen Schlucht vorbei­führte, war besonders gefährlich, denn es geschah oft, daß plötzlich ein heftiger Windstoß vom Gipfel herabgebraust kam, und wehe dem Reisenden, der sich in dem Moment auf dem Weg befand. So heftig und unerwartet war die Luftbewegung, daß der arme Mensch unweigerlich sein Gleichgewicht verlor und in den tiefen Abgrund stürzte. Manchmal gelang es dem Un­glücklichen noch, sich an einem Strauch festzuhalten und verzweifelt um Hilfe zu rufen... Aber wer könnte ihm in dieser Einsamkeit helfen?

Doch, da war jemand: der Einsiedler, der Bewohner der Grotte. Er kannte die Tüc­ken des Berges. Die große Stille hatte sein Gehör so gut geschärft, daß er den hohen Pfeifton, der dem Windstoß voranging, hören konnte. Es hörte sich an, als würde ein gewaltiges Wesen die Luft einsaugen, um seine Riesenlungen bis zum Platzen zu füllen. Sofort lief der alte Mann zum Eingang der Grotte und lauschte angespannt. Und wenn er eine Menschenstimme ver­nahm, rannte er mit einem Seil in der Hand in die Richtung des Rufes. Vielen hatte er so schon das Leben gerettet. Und das Wunderbarliche war, daß sich wie durch Zauberhand der Wind legte, sobald er hinauskam. Neben seine Grotte hatte er aus Steinen einen kleinen, dreiwändigen Schrank gebaut, und darin hatte er eine Ikone des heiligen Nikolaus. Jede Nacht ließ er für den Schutzheiligen der Reisenden ein Öllicht brennen, das den müden Menschen den Weg zur sicheren Grotte zeigen sollte.

Wegen dieser Barm­herzigkeit wurde der Einsiedler von den Bewohnern der Dörfer, die diesen gefährlichen Weg manchmal gehen mußten, geliebt und verehrt. Ihre Ehr­furcht war besonders groß, weil erzählt wurde, auf dem Gipfel des Berges hause ein böser Geist. Er wäre es, der die Menschen in den Abgrund stieße. Und wer anders als ein Heiliger könnte vor so einer Gefahr schützen? – Doch der Einsiedler meinte nicht, daß er etwas Besonderes täte, und er dankte Gott für jede Rettung – so sehr liebte er die Menschen!

An einem schönen Frühlingsabend, als alle Blumen der Erde sich in Grie­chenland versammelt zu haben schienen, verließ der heilige Mann seine Heimstatt, um draußen Gott mit einem Gebet zu danken für all das Schöne, das der Große Vater immer noch den Menschen schenkte. Die Luft war vol­ler wunderbarer Düfte, die Berghänge waren goldgelb oder violett von un­zählbaren blühenden Sträuchern, die Täler glichen farbenprächtigen persi­schen Teppichen, zwischendrein ein paar rubinrote Weiden voller Mohn­blüten. Es wurde dunkel, und der Einsiedler sah in den fernen Dörfern sich bewegende Lichtbänder: Es war Karfreitag, und dort unten folgten die Men­schen mit ihren Kerzen dem Bild des gekreuzigten Christus. Der kühle Wind trug die langsamen, traurigen Schläge der Glocke zu ihm hinauf. Der alte Mann blieb draußen, bis der letzte Lichtschein verschwunden war. Dann ging er zurück in seine Grotte.

Doch als er eintrat, erschrak er. Ihm kam es so vor, als ob sich an der hinteren Wand etwas bewegte, etwas, das wie ein riesiger Felsbrocken aussah. Der fromme Mann bekreuzigte sich. Plötzlich erzitterte der Boden unter seinen Füßen und eine schwere Stimme, wie das Brummen aus den Tiefen bei einem Erdbeben, erfüllte die Grotte: „Tu das nicht... oder ich muß gehen! Und ich möchte mit dir reden.“

„Wer bist du?“ brachte der Einsiedler mit Mühe über die Lippen. „Ich bin derjenige, der über diesen Berg herrscht und die Menschenameisen in den Abgrund wirft“, lautete die grimmige Antwort. „Ich komme, dich zu fragen, warum und durch welche Kraft du mich daran hinderst, das zu tun? Wenn du erscheinst, bin ich machtlos!“

Der fromme Mann konnte es noch nicht glauben. „Bist du der Geist dieses Berges?“ stammelte er.

„Ja, der bin ich“, erklang es. „So muß ich vor dir erscheinen, sonst sehen deine Menschenaugen mich nicht.“ Und heftig fuhr er fort: „Ich hasse euch Menschen! Ihr unzuverlässigen, undankbaren Geschöpfe! Die großen Göt­ter von Hellas habt ihr verleugnet, verjagt, getötet!“

Der Einsiedler unterbrach ihn: „Die Menschen sind Gottes jüngste Kinder, und ich liebe meine Brüder, trotz allem. Nur der Eine, dir Unbe­kannte, ist durch den Tod gegangen, aus Liebe zu uns, und ist auferstan­den. Seine Macht schützt, was ich in Seinem Namen tu, denn Seine Liebe ist groß.“

„Die Liebe?“ fragte der Berggeist. „Die haben die Menschen meiner Zeit auch gekannt. Aber die Macht deines Gottes muß sehr groß sein, das sehe ich, und darum höre zu! Ich verspreche dir: Wenn du mir beweisen kannst, daß seine Liebe die größte ist, dann werde ich mich Ihm beugen und die Menschen in Ruhe lassen!“

Tief bewegt blickte der Einsiedler bittend auf das Christusbild, das über seinem Lager hing, und setzte sich darunter. „Möge Gott mir helfen“, seufzte er.

„Ich werde dir etwas erzählen. Einst habe ich einen alten Hirten gekannt, der nicht weit von hier in einem der kleinen Dörfer mit seiner jungen Tochter lebte. Eines Abends, als er die Herde zurückgetrieben hatte zu den Bewohnern in den weißgetünchten Häusern, bemerkte er entsetzt, daß ein Schäfchen fehlte. Er ging wieder in die Berge und suchte das verlo­rene Tier. Es verstrich eine Stunde nach der anderen, doch er kam nicht zurück. Das ganze Dorf schlief schon, als seine junge Tochter, die ihre Un­ruhe nicht mehr bezwingen konnte, ihm nachging. Der Mond schien hell, und sie kannte die Gegend gut. Doch all ihr Suchen und Rufen war verge­bens, bis sie hierher kam. Du weißt, was geschehen ist!“

„Ja, ich habe ihn den Abgrund hinuntergeblasen“, brummte der Geist. „Aber er hielt sich noch an einem Strauch fest.“

„So war es.“ Der Einsiedler seufzte. „Und ich war an jenem Abend fortge­gangen. Ich danke Gott, daß ich gerade noch rechtzeitig zurückkam. Das Mädchen hing über dem Abgrund, eine Hand umklammerte einen Felsvor­sprung, mit der anderen hielt sie ihren halb bewußtlosen Vater fest. Sie konnte ihn nicht hinaufziehen. Sie war schon erschöpft und glitt langsam mit ihm in die Tiefe.“ Der Einsiedler schwieg.

Der Berggeist schnaubte ungeduldig. „Na gut, Kinderliebe. Das habe ich früher auch gesehen. Oder hast du nie von König Ödipus und seiner Tochter gehört?“

Der Einsiedler nickte. „Du hast recht.“

Der Berggeist brüllte vor Lachen, daß der Staub von den Grottenwänden rieselte. „Ich gebe dir noch eine Gelegenheit“, brummte er. „Morgen um diese Zeit siehst du mich wieder“, und damit verschwand er.

Am nächsten Abend saß der alte Mann schon unter der lkone, als die Grotte wie bei einem Erdbeben erzitterte und der Geist erschien. „Hast du etwas Besseres zu erzählen als gestern?“ fragte er höhnisch.

„Hör zu und urteile selbst“, bekam er ruhig zur Antwort. „Einst wütete ein Krieg in diesem Land, ein schrecklicher Krieg. Schrecklich war das Lei­den des Volkes und derer, die mit den Waffen kämpften. Nicht nur Gefahren, auch große Entbehrungen mußten überstanden werden. Zwei Freunde kämpften zusammen in den vordersten Reihen. Sie waren schon erschöpft durch Hunger, Kälte und schlaflose Nächte, als einer von ihnen schwer ver­wundet wurde. Doch das Schlimmste kam noch: Sie mußten vor der Über­macht des Feindes weichen. Und wie so oft unter solchen Umständen, ent­stand eine große Verwirrung und der Schwerverwundete wurde von allen vergessen. – Nein, nicht von allen: Sein Freund suchte und fand ihn. Und dieser Freund, der selbst kaum noch gehen konnte, nahm ihn auf die Schul­tern, und keuchend, taumelnd, trug er ihn durch die verlassenen Berge, denn die anderen konnte er nicht mehr einholen. Er kam über diesen Weg. Als er hier hineinwankte, fiel er bewußtlos hin. Mit Gottes Hilfe habe ich beide retten können.“

Der Einsiedler schwieg. Der Berggeist sprach: „Das ist wahrlich groß. Denn in diesem Falle spricht das Blut nicht mit. Doch auch ich habe in der guten Zeit treue Freunde gekannt. Achilles und Patroklos, und auch andere.“

Der Einsiedler ließ den Kopf hängen. „Du hast recht“, gab er zu.

„Ich komme noch einmal“, versprach der Berggeist, „aber dann zum letzten Mal. Überlege gut!“ Und damit verschwand er.

Es war spät geworden an diesem heiligen Samstagabend. In den Dörfern gingen die Leute zur Nachtmesse. Der alte Mann kniete vor der lkone über seiner Lagerstatt: Es war zu spät geworden, um noch in ein Dorf zu gehen und um Mitternacht in der erleuchteten Kirche die frohe Botschaft zu ver­nehmen: „Christos anesti! – Christus ist auferstanden!“ – Gott würde ihm verzeihen, denn er versäumte den Gottesdienst um einer guten Sache wil­len. Er schloß die Augen und betete.

Ein dunkler Schatten schlich sich in die Grotte. Eine grobe Hand ergriff den Einsiedler im Nacken, und er blickte in ein brutal verzerrtes Gesicht.
„Ergib dich!“ befahl eine heisere Stimme. „Wo sind die Münzen?“
Zit­ternd hob der alte Mann die Hände. „Was sagst du, Bruder? Welche Mün­zen? Ich habe nichts...“
Ein Faustschlag traf ihn ins Gesicht. „Keine Ausreden! Und all das, was die Menschen dir für ihre Rettung geben, wo ist das?“
„Nichts... nichts“, stöhnte der Einsiedler.
Der Räuber warf ihn zu Boden und trat ihn. Wütend durchsuchte er die ärmliche Grotte, doch er fand nichts. „Bin ich dafür zu diesem verfluchten Ort gekommen!“ schrie er und schlug wie rasend auf den wehrlosen Greis ein. Dann stürmte er aus der Grotte.

Im gleichen Moment hörte der schwerverletzte Einsiedler den scharfen Pfeifenton und wußte, was geschehen würde. Der Berg zitterte. Eine heftige Sturmbö fuhr über den Weg. Ein Schrei zerriß die Luft. Der fromme Mann richtete sich auf, ergriff das Seil und taumelte nach draußen. Es herrschte wieder Stille. In der Ferne läuteten die Osterglocken. „Christos anesti!“

Mit letzten Kräften lief der Einsiedler zum Abgrund und warf dem Räu­ber, der sich an einen Strauch geklammert hatte, das Seil zu. Er konnte gerade noch das andere Ende um einen Felsvorsprung schlagen, da fiel er zu Boden und seine Seele verließ seinen Körper.

Der Räuber kletterte schwer atmend hinauf, schaute einen Augenblick wie versteinert auf den Toten – und lief dann schreiend davon.

Die Seele des Heiligen schwebte über seinem Körper.

Der Berggeist sprach: „Kannst du mich sehen?“
Die Seele antwortete: „Ja, nun sehe ich dich, wie du wirklich bist.“
Der Geist fragte: „Warum hast du das getan? Er hatte dich doch fast er­mordet? Ich wollte dich rächen.“
„Liebe deine Feinde, das hat Gott mich gelehrt“, antwortete der Heilige.

Es fiel eine Stille. Dann sprach wieder der Berggeist:
„Dies ist größer als alles, was mir bekannt war. – Ich werde mein Versprechen halten. Leb­wohl!“
„Friede sei mit dir“, sagte der Heilige.

In der Ferne läuteten die Osterglocken.