Die Gottesmühle

Rotraud von der Wehl, aus: Die Reise zur Sonne. Geschichten zu Ostern, Pfingsten und Johanni. Urachhaus, 1996.


Vier hohe Eichen schützten des Müllers Haus. Die eine stand im Norden, die andere im Süden – die eine stand im Osten, die andere im Westen. Da moch­ten die Stürme kommen, so viel sie wollten; die Eichen beugten sich nicht. Sie standen da wie vier mächtige Riesen aus uralter Zeit.
„Wir wollen doch sehen, wer stärker ist, die Eichen oder wir“, sprachen die vier Winde, und sie kamen dahergebraust mit all ihrer Macht. Sie rissen die Wolken hernieder, ihre starken Arme zerbrachen die alten Äste; aber die Bäume blieben aufrecht stehen.
„Sie sind so stark wie wir“, sprachen die Stürme, „da wollen wir sie lie­ben.“

Neben dem Hause des Müllers stand die Mühle auf einem hellen Hügel. Sie war die größte weit und breit im Lande und ganz aus Eichenholz gebaut.
Nun brach einmal ein schweres Unwetter herein. Es war mitten in der Nacht; da standen der Müller und sein Sohn von ihrem Lager auf, und der Vater sprach: „Bleibe du im Hause, die Eichen schützen dich. Ich aber gehe in die Mühle, denn dort ist mein Platz.“
Kaum war er in der Mühle angekommen, da fuhr ein großer Blitz vom Himmel herab. Der riß sie mitten auseinander, und der Müller mußte mit in den Flammen verbrennen.

Da war der Sohn des Müllers sehr traurig; denn er hatte alles verloren, was ihm lieb war. Es war aber auch ein großes Unglück für die Bauern im Dorfe; denn sie konnten nun nicht mehr dorthin ihr Korn zum Mahlen bringen, und zur nächsten Mühle war es sehr weit.
Da dachte der Sohn des Müllers: „Mein Vater hatte sich seine Mühle mit eigenen Händen gebaut, sollte ich schwächer sein als er? – So regt euch, meine Hände! Aus den alten Trümmern will ich mir eine neue Mühle er­bauen; da wird mein Vater mit Freude auf mich herabblicken.“
Doch woher sollte er das Holz zum Bauen nehmen? Da sah er die vier mächtigen Eichen vor seinem Hause und sprach zu ihnen: „Meine lieben Bäume, wollt ihr euch opfern, daß ich aus euren Stämmen die neue Mühle bauen kann?“
Da senkten die Eichen ihre Kronen; denn sie hatten ihr Leben lieb. Doch sie antworteten: „Wenn wir den Menschen dienen können, wollen wir gerne unser Leben lassen. So nimm uns hin.“

Das hatten die vier Winde gehört, und sie sagten unter einander: „Ein Menschenherz vermag mehr als wir; so wollen auch wir ihm dienen.“
Als der Abend kam, trat der Sohn des Müllers aus dem Hause heraus. Er ging von einer Eiche zur anderen, setzte sich unter ihre Zweige und liebkoste die alten Stämme.
„Ihr meine Freunde, morgen müßt ihr sterben“, sprach er zu ihnen.
Doch mitten in der Nacht kamen die vier Winde, sie umfaßten die Eichen und sagten zu ihnen: „ihr stolzen Brüder, laßt euch von uns aus der Erde heben.“
Da ließen die Eichen es willig geschehen, und die Winde trugen sie auf den Hügel. –

Wie erstaunte der junge Bursche, als er am nächsten Morgen hinaustrat und die Eichen schon auf dem Hügel lagen! Da begann er die Mühle zu bauen, und die Winde waren seine treuen Helfer. Wenn er müde wurde, erfüllten sie ihn mit ihrem starken Atem. Mit Riesenkräften spaltete er die harten Stämme; er fügte aus ihnen die festen Wände und schuf die mächti­gen Flügel. Bald stand die neue Mühle da, und sie war größer und schöner als seines Vaters Mühle.
Da schüttelten die Bauern ihre Köpfe und sprachen untereinander: „Was zehn starke Männer in so kurzer Zeit niemals hätten schaffen können, das tat der junge Bursche ganz allein. Da ist ein Wunder geschehen.“

Der junge Müller stand den ganzen Tag in seiner Mühle, und er hatte seine Arbeit lieb.

Es kam aber eine schlimme Zeit; denn die Bauern gewannen das Gold lieber als ihr Ackerland. Das Korn wuchs freilich noch ebensogut auf dem Felde; denn sie bestellten es mit großem Fleiß, weil es ihnen das blanke Gold einbrachte. Aber die Schale wurde immer härter, und die Körner immer kleiner.

Wenn die Bauern das Korn zur Mühle brachten, da knarrten die großen Flügel und klagten immer im gleichen Takte:
„Müssen wir uns plagen mit der harten Schale. Toren sind die Bauern, hängen nur am Golde.“
Das verstand der Müller recht gut, er sah es auch den Bauern an, daß ihre Herzen immer härter wurden. Denn sie blickten nicht mehr so froh und frei in die Welt; sie rechneten und machten sorgenvolle Gesichter.
Wenn sie zur Mühle fuhren, dachten sie: „Der Müller wird nun alt, er hat keine Frau und keine Kinder. Wozu braucht er noch die Mühle? Für mich wäre sie gerade gut; denn ich habe Kinder genug, die sie erben könn­ten.“

Als der Müller ihre Gedanken auf der Stirne las, wurde er sehr beküm­mert. Da sprach er zu seinen vier Winden:
„Ihr meine Freunde, sagt mir, wie kann ich den Menschen helfen? Sie lieben das Gold mehr als die Erde. Die Krankheit wächst und die Sorge, und das Korn wird von Jahr zu Jahr immer härter.“
Da antworteten die Winde: „Wir wollen die Wolken fragen. Warte bis zum Abend!“
Und sie hoben sich hinauf zu den Wolken und klagten ihnen die Not der Erde. Die Wolken aber stiegen hinauf zur Sonne und fragten sie um ihren Rat. Da zog die Sonne eine leuchtende Schale aus ihrem Feuerkleide, die war mit goldenen Weizenkörnern gefüllt. Sie reichte sie den Wolken und sprach:

„Bringt sie den Winden; die mögen sie dem Müller geben und ihm sagen: ‚Diese Schale sollst du sorgsam in einer leeren Kammer verwahren. Einmal im Jahre sollst du auf den Hügel hinaustreten. Dann greife hinein in die Schale, gib jedem von den vier Winden zwölf goldene Körner; die wer­den sie über das weite Land hinausstreuen. Dann können die Menschen nicht mehr verloren gehen.‘ Die Hälfte von diesem Weizen reicht für dreißig Jahre. Wenn sie vergangen sind, soll der Müller die andere Hälfte tief unten in der Erde aussäen und soll ihn ernten in einer Nacht. Wenn die Zeit ge­kommen ist, sende ich ihm einen jungen Gesellen; der wird ihm helfen.“ So sprach die Sonne zu den Wolken.

Und die Wolken gaben den goldenen Weizen und ihre Worte an die vier Winde weiter. Die Winde aber brachten sie dem Müller; der stand auf dem hellen Hügel und wartete. Da wurde er sehr froh; denn er sah eine bessere Zeit für die Menschen kommen. Er nahm die leuchtende Schale und hob sie auf in einer leeren Kammer. Den Schlüssel zur Kammer aber barg er an seinem Herzen. Einmal im Jahre gab er jedem von den vier Winden zwölf goldene Körner, und sie streuten sie über das weite Land aus. Da verlor das Korn auf dem Felde seine harte Schale; denn es ging eine große Wärme aus von dem goldenen Weizen, die strömte tief in die Erde hinein.

Als die dreißig Jahre vergangen waren, kam ein junger Wanderbursche durch das Dorf gezogen. Er blieb vor dem hellen Hügel stehen und sah sich die Mühle an. Sie lag im Sonnenschein, und der Wind trieb die mächtigen Flügel.
Da trat ein Bauer aus ihr heraus, er trug einen Sack Mehl auf der Schulter.
Als er den jungen Mann so wohlgefällig hinausblicken sah, lachte er: „Ja, ja, junger Bursche, mache nur das Herz recht weit auf, vielleicht fliegt dir die schöne Mühle hinein.“

Als er um die Ecke gebogen war, trat der alte Müller aus seiner Mühle heraus. Er sah den jungen Burschen auf der Straße stehen, kam auf ihn zu und sprach: „Ich möchte wissen, was dein Herz denkt.“
Da sagte der junge Bursche: „Meister, laß mich dein Geselle sein, ich ver­lange keinen Lohn.“
Da antwortete der Müller: „Willst du mein Geselle sein, so mußt du viel leiden; denn die Menschen werden dich verfolgen, sie lieben dich nicht.“
Der Geselle sprach: „Ich will es tragen.“

Da führte der alte Müller ihn hinauf zur Mühle, schritt zur leeren Kam­mer und sprach zu dem Gesellen: „Siehe, in dieser Schale ist der goldene Weizen; wir müssen ihn tief unten in der Erde säen, damit er Früchte bringe.“

Sie warteten bis zum Abend. Da sprang die Tür auf. Sie sahen einen Jüng­ling in leuchtenden Kleidern hereinkommen; der trug ein feuriges Schwert in der Hand und sprach: „Nehmet das Korn und folgt mir nach.“
Sie traten hinaus auf den hellen Hügel, und es war dunkle Nacht. Der Jüngling berührte die Erde mit seinem Schwerte; da tat sie ihre Tiefen auf. Der Jüngling aber hatte jetzt große weiße Flügel und sprach zu ihnen: „Set­zet euch auf meine Flügel; ich trage euch in die Tiefen.“

So stiegen sie in die dunkle Erde hinab. Dort betraten sie einen freien Raum. Kein Himmelslicht erhellte ihn von oben, aber der Boden der Erde leuchtete in allen Farben.
Da sprach der Engel: „Hier ist heiliges Ackerland; sät den goldenen Wei­zen hinein.“
Da schritten der alte Müller und sein Geselle über den heißen Farbenbo­den und säten den Weizen. Sie mußten sehr leiden; denn der Boden glühte wie Feuer und verbrannte ihre Füße. Als sie den Samen ausgesät hatten, waren sie vom Feuer so durchdrungen, daß eine große Flamme zu ihrem Herzen herausschlug.
Da trat der Engel zu ihnen; er legte ihnen seine Hand aufs Herz und be­rührte ihre Füße. Da wich das Feuer von ihnen, und sie waren geheilt. Dann sprach er zu dem alten Müller: „Bis zum nächsten Abend sollst du hier den Samen hüten. Deinen Gesellen führe ich wieder hinauf, er wird den Bauern das Korn mahlen. Morgen Abend kommen wir wieder; dann wollen wir den Weizen ernten.“
Er nahm den Gesellen auf seine Flügel und trug ihn hinauf. Der Alte aber blieb in den Tiefen der Erde.

Am frühen Morgen, als die Bauern kamen, um ihr Korn mahlen zu lassen, trat der Geselle ihnen fröhlich entgegen. „Wo ist der Müller?“ fragten sie ihn.
„Der Müller ist auf dem Weizenfelde“, antwortete der Geselle.
Da murrten die Bauern und sprachen untereinander: Der Müller hätte anders handeln können. Brauchte er gleich den ersten besten Wicht von der Straße aufzulesen? „Unter unseren Söhnen hätte er auch einen Erben ge­funden.“ Es wurde gleich im ganzen Dorfe bekannt, und alle fragten: „Wo mag der Müller sein? Wenn wir ihn nicht finden, hat ihn der Geselle gewiß umgebracht, um die schöne Mühle zu gewinnen.“
Sie suchten auf dem Felde und fanden ihn nicht. Da wurden sie sehr zor­nig, sie liefen in großen Scharen hinauf zur Mühle und drangen auf den Gesellen ein.
„Sage uns, wo ist der Müller?“ riefen sie drohend, „oder wir erschlagen dich auf der Stelle.“
„Der Müller ist auf dem Weizenfelde“, antwortete der Geselle und blickte sie ruhig an.

„Er ist ein Mörder“, schrien sie in schrecklichem Zorn und zogen ihn zur Tür hinaus. Doch einige sprachen: „Wir wollen unsere Hände nicht mit Blut besudeln, laßt uns ihn an die großen Flügel der Mühle binden, dann richtet ihn das, wonach seine unreinen Hände gegriffen haben.“
Der Rat gefiel allen gut. Sie nahmen den Gesellen, banden ihn an ei­nen Flügel und riefen: „Nun erhebt euch, ihr Winde, und schlagt ihn zu Tode.“
Doch es blieb ganz still.
Da wunderten sie sich sehr und warteten bis zum Abend. Als aber kein Wind sich regte, gingen sie heim und sprachen untereinander: „Über Nacht wird sich der Wind erheben. – Schlafe wohl auf deinem Todeslager“, riefen sie dem Gesellen zu, „wir legen uns in unser weiches Bett; denn unsere Herzen sind gerecht.“

Als sie den Hügel verlassen hatten, kam der Engel hernieder, ging auf den Gesellen zu, löste ihn von dem Flügel der Mühle und sprach: „Folge mir, ich trage dich hinab.“ Er öffnete die Erde wieder mit seinem feurigen Schwerte und trug den Gesellen in die Tiefen hinunter.
Da saß der alte Müller am goldenen Weizenfeld; das war reif zur Ernte.
Der Engel sprach zu ihnen: „Füllt die Schale mit den goldenen Weizenkör­nern, so viel sie lassen kann.“Und sie erfüllten sein Gebot. Dann sprach der alte Müller zu dem Gesellen: „Hier hast du den Schlüssel zur Kammer. Grüße noch einmal die liebe Mühle, die vier Winde und die Menschen. Sage ihnen, daß du mein Erbe bist. Ich werde das Licht des Tages nicht wiedersehen.“

So starb der alte Müller. Der Engel aber beugte sich über ihn und legte ihn in das goldne Weizenfeld. „Hier soll er ewig ruhen“, sagte er. Dann führte er den Gesellen hinauf und entließ ihn mit den Worten: „Verwahre das goldne Korn in der leeren Kammer und trage den Schlüssel an deinem Herzen. Einmal im Jahre sollst du auf den Hügel hinaustreten und jedem von den vier Winden zwölf goldene Körner geben; die werden sie über die weiten Lande streuen. Wenn es nicht geschieht, können die Menschen sich nicht mehr vom Brote ernähren.“

Der Geselle befolgte sein Gebot und verwahrte das goldne Korn in der leeren Kammer. In der Morgenfrühe erhob sich ein mächtiger Sturm. Die Bauern eilten zum Hügel; wie erstaunten sie, als sie die Flügel sich munter im Winde drehen sahen, aber kein Geselle daran hing! Wie sie in die Mühle traten, kam ihnen der Geselle fröhlich entgegen und sprach: „Ich soll euch von eurem Müller grüßen; er ist gestorben und ruht in der Erde.“

Da ergrimmten die Bauern. Sie drangen auf den Gesellen ein, schlugen ihn mit den Fäusten nieder und schleiften ihn am Boden dahin. Dann ließen sie ihn halbtot liegen, liefen zur Mühle hinaus und riegelten alle Türen zu. Darauf zündeten sie die Mühle an. „Wir wollen dich lehren, uns die Mühle zu entreißen“, schrien sie in ihrer Wut.
Der Geselle lag auf dem Boden. Er hörte das Feuer knistern, und bald umgab ihn ein mächtiges Feuermeer. „Wenn ich sterben muß“ – dachte er nur noch –, „wer wird das goldene Korn den Winden geben?“
Eilends rannten die Bauern den Hügel hinunter. Denn die Feuersbrunst wuchs im Nu und drohte sie schier zu verschlingen. „Dem ist Gerechtigkeit widerfahren“, sprachen sie zueinander. So standen sie am Fuße des Hügels und schauten in das Flammenmeer.

Immer höher schlug die Lohe empor. Sie stieg bis an den Himmel. Da öffnete sich der Himmel, und siehe! Ein leuchtender Engel trat hervor; er breitete seine Arme aus und neigte sich über die Feuersäule. Die Bauern trauten ihren Augen kaum: Denn aus dem Feuer erhob sich der Geselle. In seinen Händen trug er die Schale mit den goldenen Weizenkörnern. Seine Kleider aber waren so weiß wie Schnee, und sein Angesicht war so hell wie die Sonne.
So stieg er mit dem Engel zum Himmel empor. Die Bauern fielen vor Schrecken auf ihre Knie und bedeckten ihr Gesicht mit den Händen. Als sie ihre Blicke wieder erhoben, war alles dunkel und stille geworden. Die Mühle aber war niedergebrannt.

Da gingen sie schweigend in ihre Häuser zurück. Ihr Zorn war verraucht, und sie sprachen in ihrem Herzen: „Wir haben ein großes Unrecht getan und haben das Beste verloren.“

In den Wolken weilte fortan der junge Müller. Er hielt die leuchtende Schale in seinen Händen und schaute auf die Fluren hinab. Einmal in jedem Jahre aber rief er die vier Winde herbei. Dann griff er in die Schale, reichte einem Jeglichen von ihnen zwölf goldene Körner hin, wie es einst sein Mei­ster getan hatte, und gebot ihnen dazu: „Streuet sie über das weite Land, auf daß es fruchtbar bleibe.“ Da brausten sie über die Fluren dahin.

Wenn die Saaten aufgegangen waren, stieg der junge Müller zur Erde herab. Unsichtbar schritt er durch die Felder und sprach den Segen über das weite Land:

                „Goldne Saaten – heil‘ge Ernte:
                Wird zum Himmel alle Erde.
                Steigt hernieder ewige Liebe.
                Saaten reifen, Saaten leben
                Durch der Erde Herzenswärme,
                Durch der Sonne Liebesfülle;
                Denn die goldnen Körner ruhen
                Ewig auf dem Erdenantlitz.“ [...]