Die weißen Schlehenblüten

aus: Michael Bauer: Pflanzenmärchen. Urachhaus, 1987.


Die Schlehenblüten waren ursprünglich winzig klein und ganz mißfarben. Erst seit dem Jahr der Auferstehung sind sie so groß wie heute und haben die schöne weiße Farbe der Unschuld an sich.

Der Kriegsknecht, der am Karfreitagmorgen ausgeschickt worden war, die Dornen für die Marterkrone Christi zu holen, hatte zuerst lauter Zweige der wilden Rosen abgeschnitten. Auf dem Rückweg aber war ihm noch ein Schlehenbusch aufgefallen, dessen starre, spitze Seitentriebe besonders schmerzhaft stechen mußten, und er nahm auch davon einen Zweig mit. So war auch der Schwarzdorn in die Marterkrone Christi hineingekommen.

Dem Schlehenbusch tat das überaus leid. Eine rechte Pein war es ihm, daß er sich hatte dazu hergeben müssen, dem schuldlosen Sohne Gottes Schmerzen zu bereiten. Er stand damals gerade vor dem Aufblühen. Das war ihm jedes Jahr eine fröhliche Zeit gewesen. Daß kein Mensch seine unscheinbaren Blütchen beachtete, hatte ihn nie gekümmert. Das Blühen trägt seine Lust in sich. Aber seitdem der Kriegsknecht mit dem abgeschnit­tenen Ast weggegangen war, seitdem lähmte der Gram ihm alle Lebenskraft, und die Knospen blieben ungeöffnet. Ein paar Tage blieben sie so.

Da geschah es, daß in einer warmen Frühlingsnacht der auferstandene Christus segnend durch die Fluren schritt. Und auch am trauernden Schle­henbusch kam er vorüber. Dieser nahm sich nun ein Herz und redete ihn an: „ich habe es wahrlich nicht gern getan“, sprach er. „Mit meinem Willen wäre keines meiner Zweiglein in Deine Dornenkrone gekommen; aber der Kriegsknecht war stärker als ich. Ich will ja geduldig ertragen, daß mich alle Deine Freunde und Anhänger verachten. Doch Dich, barmherziger Sohn Gottes, möchte ich bitten: Verzeih mir und miß mir keine Schuld zu!“

Über das Antlitz Christi ging ein gütiges, frohes Lächeln und er antwor­tete: „Wie könnte ich dir, schwacher Strauch, die geringste Schuld geben. Sei ganz getrost! Und damit auch niemals irgendein Mensch von dir Rechenschaft fordere, so sei deine Unschuld dir von nun an in die Blüten geschrieben. Alle, die das sehen und erkennen, werden dich darum lieb­haben.“

Bei diesen Worten Christi wachte alle Lebenslust im Schlehenstrauch wieder auf. Am andern Morgen stand er nicht wie bisher in mißfarbenen, sondern über und über mit unschuldsweißen Blüten bedeckt da, und die Leute, die vorübergingen, blieben stehen und bestaunten das Wunder.