Das Geheimnis der Himmelfahrt

Rudolf Steiner, Vortrag vom 3.10.1913, GA 148. [Überschrift ergänzt]


Es ist für heutige Begriffe, für Begriffe der Gegenwart, nicht ganz leicht, das in Worte zu fassen, um was es sich dabei [bei dem Erdenleben des Christus] handelt. Aber wir können uns mit mancherlei Begriffen und Ideen, die wir schon gewonnen haben durch unsere geisteswissenschaftlichen Betrachtungen, diesem größten Erdengeheimnisse nähern. Wenn man das Christuswesen verstehen will, dann muß man manche Begriffe, die wir schon haben [...], in etwas veränderter Form auf die Christus-Wesenheit anwenden.

Gehen wir einmal, um zu einiger Klarheit zu kommen, aus von demjenigen, was man gewöhnlich nennt die Johannestaufe im Jordan. Sie stellt sich [...] dar in bezug auf das Erdenleben des Christus wie etwas, was gleich ist wie eine Empfängnis bei einem Erdenmenschen. Das Leben des Christus von da ab bis zu dem Mysterium von Golgatha verstehen wir, wenn wir es vergleichen mit demjenigen Leben, das der Menschenkeim im Leibe der Mutter durchmacht. Es ist also gewissermaßen ein Keimesleben der Christuswesenheit, das diese Wesenheit durchmacht von der Johannestaufe bis zum Mysterium von Golgatha.

Das Mysterium von Golgatha selber müssen wir verstehen als die irdische Geburt, also den Tod des Jesus als die irdische Geburt des Christus. Und sein eigentliches Erdenleben müssen wir suchen nach dem Mysterium von Golgatha, da der Christus seinen Umgang gehabt hat, wie ich gestern angedeutet habe, mit den Aposteln, als diese Apostel in einer anderen Art von Bewußtseinszustand waren. Das war dasjenige, was der eigentlichen Geburt der Christus-Wesenheit folgte.

Und was beschrieben wird als die Himmelfahrt und die darauf folgende Ausgießung des Geistes, das müssen wir bei der Christus-Wesenheit auffassen als dasjenige, was wir beim menschlichen Tode als Eingehen in die geistigen Welten anzusehen gewohnt sind. Und das Weiterleben des Christus in der Erdensphäre seit der Himmelfahrt oder seit dem Pfingstereignis müssen wir vergleichen mit dem, was die Menschenseele durchlebt, wenn sie im sogenannten Devachan, im Geisterlande ist.

Wir sehen also, meine lieben Freunde, daß wir in der Christus-Wesenheit eine solche Wesenheit vor uns haben, gegenüber welcher wir alle Begriffe, die wir sonst uns angeeignet haben über die Aufeinanderfolge der Zustände des menschlichen Lebens, vollständig verändern müssen. Der Mensch [...] durchlebt also nach seinem Tode ein geistiges Leben. Vom Pfingstereignisse an erlebte die Christus-Wesenheit dasjenige, was für sie dasselbe bedeutet, wie für den Menschen der Übergang ins Geisterland: das Aufgehen in die Erdensphäre. Und anstatt in ein [...] geistiges Gebiet zu kommen, wie der Mensch nach dem Tode, brachte die Christus-Wesenheit das Opfer, ihren Himmel gleichsam auf der Erde aufzuschlagen, auf der Erde zu suchen. [...]

Es ist unendlich viel gesagt, wenn dieses Geheimnis hier ausgesprochen wird mit den Worten: Seit dem Pfingstereignis ist die Christus-Wesenheit bei den menschlichen Seelen auf der Erde; vorher war sie nicht bei den menschlichen Seelen auf der Erde. Das, was die Christus-Wesenheit durchgemacht hat zwischen der Johannestaufe und dem Pfingstereignis, ist geschehen, damit der Wohnsitz eines Gottes in der geistigen Welt vertauscht werden konnte mit dem Wohnsitz in der irdischen Sphäre. Das ist geschehen, damit diese göttlich-geistige Christus-Wesenheit die Gestalt annehmen konnte, welche notwendig war für sie, um mit den menschlichen Seelen fortan Gemeinschaft zu haben. ...

Es war also das Ereignis am Jordan, das wir als die Johannestaufe bezeichnen, etwas, das man vergleichen kann einer Empfängnis beim Erdenmenschen. [...] „Dieser ist mein vielgeliebter Sohn, heute habe ich ihn gezeuget.“ Das sind die Worte des Lukas-Evangeliums, und das ist auch die richtige Wiedergabe dessen, was damals geschehen ist: die Zeugung, die Empfängnis des Christus in die Erdenwesenheit. [...] Aber was sich nach und nach vollzog im dreijährigen Erdenleben [des Christus Jesus], das war, daß gewissermaßen in den drei Jahren der [Christus-]Geist sich an den Leib des Jesus von Nazareth immer enger und enger band, daß die Christus-Wesenheit immer ähnlicher und ähnlicher wurde als ätherische Wesenheit dem physischen Leibe des Jesus von Nazareth. [...] Die makrokosmische Sonnenwesenheit formt sich nach der Gestalt des menschlichen Mikrokosmos, drängt sich und engt sich, preßt sich immer mehr und mehr zusammen, so daß sie immer ähnlicher wird dem menschlichen Mikrokosmos. [...] Aus dem Gotte wurde nach und nach ein Mensch. [...]

Und da sehen wir den ganzen Passionsweg des Christus-Wesens der begann von jenem Zeitpunkte an, wie er bald nach der Johannestaufe im Jordan kam, wo er die Kranken heilte und die Dämonen austrieb durch seine göttlichen Kräfte [...] bis dahin, wo die Christus-Wesenheit so ähnlich geworden ist dem Leibe des Christus von Nazareth, daß sie [...] nicht mehr antworten konnte auf die Fragen des Pilatus, des Herodes und des Kaiphas. [...] Das war der Passionsweg von der Taufe im Jordan bis zur Machtlosigkeit. [...] Ein Weg unendlichen Leidens für den Mensch gewordenen Gott, zu dem hinzukam jenes Leid über die Menschheit, die sich so weit gebracht hatte, wie sie eben war zur Zeit des Mysteriums von Golgatha. [...]

Dieses Schmerz-Erleiden aber gebar jenen Geist, der beim Pfingstfest ausgegossen worden ist auf die Apostel. Aus diesen Schmerzen herausgeboren ist die allwaltende kosmische Liebe, die herabgestiegen ist bei der Taufe im Jordan aus den außerirdischen, himmlischen Sphären in die irdische Sphäre hinein, die ähnlich geworden ist dem Menschen, ähnlich einem menschlichen Leibe, und die durchmachte das unendliche Leiden, das sich kein Menschendenken ausdenken kann, die durchmachte den Augenblick der höchsten, göttlichen Ohnmacht, um jenen Impuls zu gebären, den wir dann als den Christus-Impuls in der weiteren Evolution der Menschheit kennen.