Vom Geheimnis des höheren Menschen

Das Geheimnis des höheren Menschen in Worten Rudolf Steiners.


Merkwürdig tief ist doch selbst diese äußere Festsetzung der Festtage; und der versteht wenig von der Welt, der nicht spüren kann die waltende Weisheit selbst in der Festsetzung solcher Festtage. Nehmen wir die drei Feste: das Weihnachtsfest, das Osterfest und das Pfingstfest. Weihnachten [...] ist festgesetzt ein für allemal auf den bestimmten Tag des Dezembers. [...] Anders ist das beim Osterfest. [...]

Ein bewegliches Fest ist Ostern, wie in der einzelnen Menschenindividualität beweglich ist der Zeitpunkt, an dem aufwacht die Kraft des höheren Menschen mit einem höheren Bewußtsein, um frei zu werden von der gewöhnlichen niederen Menschlichkeit. So wie in dem einen Jahre das Osterfest an diesem Tage, in einem andern Jahr an jenem Tage stattfindet, so wird bei jedem einzelnen Menschen, je nach seiner Vergangenheit und der Kraft seines Strebens, der Zeitpunkt früher oder später kommen, wo er sich bewußt wird: Ich kann in mir die Kraft finden, einen höheren Menschen aus mir erstehen zu lassen! [...]

Dann werden wir unseren inneren Menschen frei machen wollen, gleichsam losreißen von seiner Gebundenheit an den äußeren Menschen. Dann werden wir in unserem äußeren Menschen zwar wohnen, aber uns voll bewußt werden der innerlichen geistigen Kraft des inneren Menschen. Und von dem Zeitpunkt, wo wir gewahr geworden sind, daß wir uns befreien können, von diesem innerlichen Osterfest hängt es dann ab, ob wir auch die Pfingstzeit erreichen, wenn wir den Geist, der sich in sich selber gefunden hat, jetzt erfüllen mit einem Inhalt, der nicht von dieser Welt ist, sondern der aus den geistigen Welten ist. Dieser Inhalt aus den geistigen Welten allein kann uns frei machen. Er ist die geistige Wahrheit, von der Christus sagt: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen!“

(Rudolf Steiner, Vortrag vom 15.5.1910, GA 118)

Die Geburt eines höheren Menschen und das Finden des Christus-Impulses in seiner Realität beschreibt Rudolf Steiner auch in seinem eigenen Lebensgang („Mein Lebensgang“, GA 28):

Ich fand, wie die Menschen, weil sie früh vom seelischen Weben in der geistigen Welt zum Erleben des Physischen übergehen, zu keinem reinen Erfassen weder der geistigen, noch der physischen Welt gelangen. Sie vermischen fortdauernd ganz instinktiv dasjenige, was die Dinge ihren Sinnen sagen, mit dem, was die Seele durch den Geist erlebt und was dann von ihr mitgebraucht wird, um sich die Dinge „vorzustellen“. [...] Doch die Rätsel – so musste ich mir sagen – lösen sich nicht durch Gedanken. Diese bringen die Seele auf den Weg der Lösungen; aber sie enthalten die Lö­sungen nicht. [...] Ich erkannte im seelischen Erleben das Wesen der Meditation und deren Bedeutung für die Einsichten in die geistige Welt. [...]

Wie die gewöhnliche begriff­li­che Erkenntnis, die an der Sinnesbeobachtung gewonnen wird, sich zu der Anschauung des Geistigen verhält, das wurde mir in diesem Lebensabschnitt aus einem mehr ideellen Erleben zu einem solchen, an dem der ganze Mensch beteiligt ist. Das ideelle Erleben, das aber das wirkliche Geistige doch in sich aufnimmt, ist das Element, aus dem meine „Philosophie der Freiheit“ geboren ist. Das Erleben durch den ganzen Menschen enthält die Geisteswelt in einer viel wesenhafteren Art als das ideelle Erleben. [...]

In einer solchen aus innerer geistiger Lebensnotwendigkeit geübten Meditation entwickelt sich immer mehr das Bewusstsein von einem „inneren geistigen Menschen“, der in völliger Loslösung von dem physischen Organismus im Geistigen leben, wahrnehmen und sich bewegen kann. [...] Ich fühlte, wie das Ideelle des vorangehenden Lebens nach einer gewissen Richtung zurücktrat und das Willensmäßige an dessen Stelle kam. [...] Und der Wille übernahm auch das geistige Erkennen, das vorher fast ganz von dem Ideellen geleistet worden ist. [...] Nun wurde mir Erlebnis, wie das Wollen mehr vom Denken, das Denken mehr vom Wollen aufnahm. [...] Nur wird man gewahr, wie die Befestigung des geistigen Menschen in der Geisteswelt sich ins Unermessliche steigert, wenn der physische Organismus diese Befestigung nicht beschränkt[...]

All diese Einsichten schlossen sich mir gerade in der hier geschilderten Lebensepoche mit der erklommenen umfassenden Wahrheit zusammen, daß die Wesen und Vorgänge der Welt nicht in Wahrheit erklärt werden, wenn man das Denken zum „Erklären“ gebraucht; sondern wenn man durch das Denken die Vorgänge in dem Zusammenhange zu schauen vermag, in dem das eine das andere erklärt, in dem eines Rätsel, das andere Lösung wird, und der Mensch selbst das Wort wird für die von ihm wahrgenommene Außenwelt. Damit aber war die Wahrheit der Vorstellung erlebt, daß in der Welt und ihrem Wirken der Logos, die Weisheit, das Wort waltet. [...] (S. 237ff)

Ich fand das Christentum, das ich suchen musste, nirgends in den Bekenntnissen vorhanden. Ich musste mich [...] selber in das Christentum versenken, und zwar in der Welt, in der das Geistige darüber spricht. [...] Auf das geistige Gestanden-Haben vor dem Mysterium von Golgatha in innerster ernstester Erkenntnis-Feier kam es bei meiner Seelen-Entwickelung an. (S. 271f).